Mahatma Gandhi und Nelson Mandela – Zwei Lehrer der Befreiung und des Rechts der Armen

Erstes Kapitel: Kultur des Friedens

Der Rechtsphilosoph Arthur Kaufmann erkennt, auch wenn er den Krieg gegen Hitler als notwendig und gerechtfertigt ansieht, den Pazifismus als „utopisches Endziel“ an. Keiner dürfe ihn verteufeln als Unterwerfungsbewegung, als Hort der Feiglinge, als Mit- Urheber gar von Auschwitz. Eine derartige Verteufelung offenbare sich als „Arroganz der Ungebildeten“, als Verrat an den Idealen der rechtsstaatlichen Demokratie, deren Freiheit sich primär als Freiheit gegenüber Minderheiten erweise.[1]

Gustav Radbruch, seinem Lehrer, stimmt Kaufmann darin zu, dass der Krieg seine Ehre verloren hat, in der Konsequenz seiner eigenen Logik des Zerstörens sittlich unmöglich und untragbar geworden ist. Schon mit dem Blick auf den Ersten Weltkrieg, später auf einen Atomkrieg, sagte Radbruch, der modere Krieg sei ungerecht und so gezieme es am wenigsten den Juristen, sich mit ihm abzufinden wie einem unabwendbaren Urteil.[2] Kein Jurist kann jener Aussage eines verachtungsvollen Heroismus zustimmen, atomare Waffen gemahnten uns, dass der Mensch hinfällig, seines Lebens nie sicher sei, aber bereit sein müsse, es um seiner (womöglich christlichen) Ideale willen aufs Spiel zu setzen.[3] Dagegen ist zu sagen, dass es kein Recht gibt, Hunderttausende von Menschen zu töten – und sei es in der Absicht geschehen, das Leben der eigenen Bevölkerung, der eigenen Soldaten zu schonen. Entgegen jeder Rechtfertigung des Krieges – sei es als eines sozialen Ideals, sei es als eines Elements göttlicher Weltordnung, sei es als eines „Examen rigorosum der Völker“ (so der Historiker Treitschke) – suchte schon Radbruch als weltbekannter Rechtsphilosoph und Strafrechtler nach einer Kultur des Friedens, einem „Menschheitswert“, nach der Überwindung des Unrechts des Krieges. In seinen „Rechtsphilosophischen Tagesfragen“, einer Vorlesung an der Universität Kiel im Sommersemester 1919, heißt es: „In der Tat ist die verbreitetste Betrachtensweise des Krieges die rechtsphilosophische: der Krieg als Notwehr, als Selbsthilfe, als Strafe gegen fremdes Unrecht. Das ist freilich nur eine höchste relative Rechtfertigung – ein höchst unvollkommenes Mittel für seinen Zweck: die versuchte Überwindung des Unrechts kann leicht mit seinem Siege enden.“[4] Als Aufgabe des Rechtsphilosophen (auch des Rechtsanwalts) stellt sich nicht die Rechtfertigung des Krieges, der Härte des Sieges, sondern die Suche nach dem, was schon Radbruch „das höhere Recht“ genannt hat: „das Recht der höheren Kultur auf die Zukunft“.

In der heutigen friedenspolitischen Diskussion wird zuweilen gesprochen von einer „Normativen Modernisierung in der einen Welt mit Recht auf Differenz“[5], womit keinesfalls ein wie immer sich verbergender Euro- oder USA-Zentrismus gemeint ist. In einem interkulturellen Horizont soll ein von der Menschheit immer schon gesuchtes Können seiner Erfüllung näher gebracht werden: Linderung materieller Not, Heilung von Krankheiten, Verringerung erniedrigender Arbeit. In der Hoffnung auf diese „Menschheits-Kultur“[6] fügt der rechtskundige Philosoph Otfred Höffe an, diese Kultur trage in sich das Recht des Differenten aus in dem Prozess des Einswerdens der Menschheit. „Diese Leistungen kommen sogar der praktischen Seite der Religionen entgegen, jener Forderung nach Mitleid und Nächstenliebe, die die verschiedenen Religionen und Konfessionen über ihren dogmatischen Streit hinweg eint.“[7] Zu diesen kulturellen Leistungen gehören auch die Überwindung der politischen Macht durch ein menschliches Recht, die praktische Realisierung eines Menschenrechts auf Bildung [8]. Es geht dabei um die elementare Kritik einer Kultur, die auf Macht, Besitz, Herrschaft, Geld gründet, die Fähigkeit des Mitgefühls verfallen lässt und eine fiktive Unverletzbarkeit gegenüber der Sehnsucht nach einer konkreten menschlichen Verbundenheit bevorzugt.[9]

Zwei Menschheits-Lehrer, die in einer bestimmten Zeit ihres Lebens als Rechtsanwälte gearbeitet haben, sollen den Mittelpunkt dieser Abhandlung bilden. Auf diese Weise schaffe ich mir selber – Rechtsanwalt und Hochschullehrer der Pädagogik – Anregung, Kritik, Ermutigung für meine Arbeit. Ich hoffe zugleich, von dieser Ermutigung Einiges weitergeben zu können.

Zweites Kapitel: Tolstois Kritik des Rechts der Stärkeren

Von Leo Tolstoi lernte Gandhi, dass die moderne westliche Zivilisation auf dem Recht des Stärkeren beruhe; in ihr herrsche der Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt. Erstickt werde in ihr das urwüchsige Verlangen nach dem Guten, das jedem Menschen zukomme.[10] Liebe, nicht Hass sei das gesetzlose Gesetz, das die Menschen leiten solle. Das Gesetz von der Liebe weise den Weg der Gewaltfreiheit. Tolstoi lehrte den Verzicht auf den Widerstand durch Gewalt, die durch Druck und Lüge nicht entstellte Lehre vom Gesetz der Liebe. Das Streben der menschlichen Seele nach Vereinigung und ein entsprechendes praktisches Leben seien das höchste und einzige Gesetz des Lebens. Das Gesetz der Liebe zu erfüllen, heiße, die Wahrheit zu suchen, den Mut, ihr gemäß zu leben. So glaubte Tolstoi, dass die Welt nur dann zum Besseren verändert werden könne, wenn jeder einzelne Mensch sich verändere. Gandhi verstand diesen Ruf nach Gewaltfreiheit, nach Liebe zu jeglichem Geschöpf, gerade die Einheit von Wort und Tat, deren Forderung Tolstoi in seiner „Beichte“ bis in seine letzte Tiefe hinein erschütterte. Von Tolstoi nahm Gandhi die Pflicht zur unbedingten Ehrlichkeit und den Mut zur Wahrheit auf.[11] In seinen Tagebüchern schrieb Tolstoi seine Kritik des Rechts nieder: „Ehe man Gesetze erlässt, die den Diebstahl eines Pferdekummets, von Holz und Heu verbieten, sollte man Gesetze erlassen, die den Raub des gesetzmäßigen Eigentums der Menschen – des Bodens – verbieten.“[12] Tolstoi schrieb zudem einen Brief an einen jungen Jura-Studenten und kritisierte die Herrschaftsbezogenheit des Rechts. In einem Buch und einem Brief eines Inders wurden Tolstoi alle „Unzulänglichkeiten der europäischen Zivilisation“, ja ihre Nichtswürdigkeit[13] deutlich; er regte auch Gandhis Kritik der Industrie-Zivilisation an und lenkte in einer Eintragung vom 21. April 1910 seine Aufmerksamkeit auf Gandhi. Der zornige und anarchische russische Dichter rief dazu auf, die wahre Bildung solle die „Lüge der Zivilisation“ enthüllen.

Der Theologe Karl Heim verkündete nach der Lektüre des geistigen Testaments Tolstois, des „Lebenswegs“, in Tolstoi sei das „elementare Menschheitsgewissen“[14] wieder erwacht. Das Menschheitsgewissen sprenge alle staatlichen, politischen und sozialen Kompromisse.

In dieser Abhandlung gehe ich nur auf  Tolstois Bewegung des Nicht-Widerstehens als einer Freiheitsbewegung ein. Tolstoi forderte, dass Böse nicht mit seinen eigenen Waffen zu bekämpfen, Gewalt nicht mit Gewalt zu bekriegen, vielmehr ihr von einem neuen Boden her entgegen zu treten. Wer dem Bösen auf der gleichen Stufe begegne, nicht nach einer höheren ausgreife, sei ihm schon verfallen. Jede Gewalt steigere die Grausamkeit der Knechtung und lasse den Hass der Menschen gegeneinander wachsen. Gerade die christliche Menschheit war immer wieder der Spur der Grausamkeit und der Unterdrückung der Menschen gefolgt – gewissermaßen gegen ihren eigenen Ursprung gewandt. Gewalt wecke wieder Gewalt, Hass folge Hass. Das Recht könne auf eine Weise sich durchsetzen, dass es zum Unrecht sich verhärte. Die Gewalttat möge die Unruhe der Liebe in sich bergen, der Terror die Verzweiflung der Tugend; doch stärker sei die Kraft des Nicht-Widerstehens, eine Kraft, die alle Weltweisen lebten und lehrten: die Überwindung des Guten durch das Böse. „Die Lehre vom Nicht-Widerstande ist kein neues Gebot, sondern nur ein Hinweis auf das Abweichen vom Gebot der Liebe, ein Hinweis darauf, dass jede Gewalt, mag sie im Namen der Vergeltung geübt werden, oder, um sich von eingebildetem Bösen zu befreien, das uns vom Nächsten droht – unvereinbar mit der Liebe ist.“[15]

Diese Lehre des Nicht-Widerstehens wird mit dem Blick auf Gandhi und Mandela zu erneuern versucht.

Drittes Kapitel:Gandhi und das Recht der Unberührbaren

Gandhis Blick auf das Menschen-Recht hat ihm gezeigt, dass der Staat nicht besser sein könne als seine Bürger. Keine moralische Anstalt, keine Schule der Nation, kein höheres Wesen im Sinn einer Repräsentation des Gemeinwohls. Eine menschliche Entwicklung könne nicht von oben herab aufgedrängt, nicht staatlich verordnet werden. Viel eher als auf staatliche Direktiven setzte Gandhi auf die Dorferziehung[16] und auf die Freiheit, das Recht der Unberührbaren zu achten, auf eine menschliche Befreiung, die allen Menschen zugemutet wird. Deutlich war ihm, dass in der Antastung der Würde der Geringsten die Würde Aller und jedes Einzelnen verletzt wird.[17] Gandhis Lebensarbeit bestand in der Befreiung des Menschen für sich. Wie später Baba Amte, der einen großen Teil seines Lebens dem Aufbau eines Rehabilitationszentrums für Leprakranke in Warora widmete, und Medha Patkar stritt Gandhi gegen die Not der Landbevölkerung[18], das Elend in den Slums, die Unterdrückung der Ureinwohner und sah immer klarer, dass die Steigerung des Energieverbrauchs, die Zerstörung der Natur zu einer Zerstörung menschlichen Lebens und der Erde insgesamt führen würden. Dagegen sollte die „Grassroot-Democracy“ aufgebaut werden.[19] Nach dem Freiheitsmarsch kämpfte Gandhi für eine Verbesserung der Lage der Unberührbaren, der Parias, und gründete im Jahr 1933 die Wochenzeitung „Harijan“.[20] Die Unberührbaren, die Gandhi „Kinder Gottes“ (Harijan) nannte, wurden von anderen Hindus gemieden und verachtet, weil sie unreine Tätigkeiten verrichteten (Reinigung der Aborte, Abdecken von Kadavern u.a.). In Kerala soll es sogar „Unsehbare“ gegeben haben, deren Anblick allein von Brahmanen als Befleckung verurteilt wurde. Näherte sich ein Brahmane, hatten sie sich zu verstecken. In Bengalen wurde die Vermeidung der Berührung nicht strikt gefordert; doch gab es eine breite Unterschicht landloser Arbeiter, die den Großbauern dienen mussten. Die britische Regierung führte den Begriff „depressed classes“ ein, denen nur separate und eingeschränkte politische Gestaltungsrechte gewährt wurden. Gegen diese Beschränkung ihrer Rechte kündigte Gandhi ein Fasten bis zum Tode an, den Harijan zu ihrem vollen Wahlrecht zu verhelfen. In einem Pakt mit dem Rechtsanwalt Dr. Ambedkar, dem Leiter der Unberührbaren, fand der Gefangene Gandhi schließlich mit Mühe eine Vereinbarung. Anstelle der sie benachteiligenden separaten Wählerschaften erhielten die Unberührbaren reservierte Sitze. Trotz seines Zerwürfnisses mit Dr. Ambedkar, dessen Gründe hier nicht darzustellen sind, hat Gandhi stets für die Rechte und das Wohl der Unberührbaren gearbeitet. Dabei widerstand er auch ungerechten Gesetzen; er unterwarf sich ihnen nicht, sondern nahm das Leiden, die Bestrafung auf sich als Folge seines zivilen Ungehorsams. [21]

Viertes Kapitel: Südafrikanische Erfahrungen - Das Unrecht als Quelle des Rechts

Die Hindus in der Provinz Natal waren als Kontraktarbeiter für fünf Jahre gekommen, da die englischen Besitzer von Teeplantagen und Zuckerpflanzungen billige und ausdauernde Arbeitskräfte benötigten. Nach Ablauf ihrer Vertragszeit blieben sie oft als Arbeiter, Handwerker oder Kleinhändler im Land. Gandhi kam zu ihnen nach Südafrika und wurde zu ihrem Rechtsanwalt. Als er einige Tage nach seiner Ankunft einer Sitzung im Gericht von Durban beiwohnte, forderte ihn der Vorsitzende auf, seinen schwarzen Turban abzunehmen. Gandhi verweigerte das, trug doch in Indien jeder Rechtsanwalt einen schwarzen Turban als äußeres Zeichen seines angesehenen Berufs. Er musste den Gerichtssaal verlassen, was er nie vergessen hat.[22] Die Frage, ob er europäische Kleindung tragen sollte, schien Gandhi nicht sehr bedeutungsvoll zu sein. Doch ließ er sich umstimmen und sah ein, dass er Beleidigungen nicht hinnehmen sollte und dürfe. In einem Streit mit Richtern setzte Gandhi sich schließlich durch und erschien vor Gericht mit seinem Turban. Gandhi wagte also durchaus auch den Streit und die Auseinandersetzung; doch betrachtete er die Gegenseite nicht als gerissenen Feind, der nur auf den eigenen Vorteil aus sei. Vielmehr ging es Gandhi darum, den Gegner zu kennen und aus sich heraus zu verstehen. Dieses Wissen erschien im als Quelle einer gütlichen Regelung.

Die Suche nach einer Einigung darf keinesfalls mit haltloser Nachgiebigkeit verwechselt werden. Gandhi ließ sich nicht demütigen; der aus seiner Gelassenheit heraus Widerstehende beugte sich dem offenkundigen Unrecht nicht. Dabei bemühte er sich, für das Recht der Rechtlosen und Unterdrückten einzutreten.[23]

Als eine seiner schöpferischsten Erfahrungen seines Lebens betrachtete Gandhi die Winternacht auf dem Bahnhof von Maritzburg. Gandhi wollte in einem Wagen erster Klasse mit dem Zug von Durban nach Charlestown fahren. Auf den Protest eines weißen Fahrgastes hin bedeutete der Schaffner ihm, er müsse sich in den Gepäckwagen begeben. Die Fahrkarte erster Klasse half Gandhi nicht; der Schaffner forderte ihn auf, das Abteil sofort zu verlassen, andernfalls werde ein Polizist ihn hinauswerfen. Nachdem Gandhi sich geweigert hatte, freiwillig auszusteigen, setzte ein Polizist ihn mit Gewalt auf den Bahnsteig. Diese Demütigung hat Gandhi nie vergessen; er weigerte sich, dieses Unrecht widerspruchslos hinzunehmen. Dabei nahm er sich vor, von der Lehre seiner Eltern, dass Wahrheit und Gerechtigkeit höher ständen als der eigene Vorteil, keinesfalls abzuweichen. Gandhi kritisierte, dass das englische Recht, die Gleichheit vor dem Gesetz, von der britischen Regierung selber nicht eingehalten werde. Indische Menschen dürften als gleichberechtigte Untertanen nicht straflos gedemütigt werden.

Als Rechtsanwalt wollte Gandhi sich nicht damit abfinden, dass staatliche Gewalt auf der einen und Furcht vor Herabsetzungen auf der anderen Seite das Recht außer Kraft setzten. Mit diesem Ernstnehmen der Gleichheit vor dem Gesetz ging Gandhi Schritte hin auf die Begründung eines menschlichen Rechts: das Recht, nicht gedemütigt, nicht verachtet zu werden als Untermensch. Gandhi bestand auf dem Recht auch, als er sich nicht zu weissen Passagieren in eine Kutsche setzen durfte, sondern einen Platz neben dem Kutscher zugewiesen erhielt. Als der Reiseführer eine Zigarre rauchen wollte, befahl er Gandhi, seinen Platz zu räumen und sich derweil auf einen schmutzigen Sack zu Füßen des Kutschers zu setzen. Gandhi blieb aber auf seinem Platz sitzen, wurde geohrfeigt und sollte von dem großen kräftigen Reiseführer heruntergestoßen werden. In dieser Situation traten Mitreisende für Gandhi, den körperlich Schwächeren, ein, der schließlich seinen Platz behalten durfte, während allerdings gleichzeitig ein Hottentotten-Diener sich auf den Fußboden setzen musste. Gandhi erlebte also, wie ein Entrechteter nun das Unrecht tragen sollte, das ihm zugedacht war, und gelangte so zu dem Gedanken der unbedingten Einheit der Unterdrückten. Gandhi hielt in der Situation seine Angst aus, konnte allerdings nichts daran ändern, dass nun der Hottentotte gedemütigt wurde. Das gemeinsame Recht der Unterworfenen wurde ihm in dieser Situation außerordentlich deutlich. In einem Hotel fand Gandhi später zwar ein Bett, aber er durfte seine Mahlzeiten nicht mit den übrigen Gästen im Speiseraum einnehmen.

Das erlittene Unrecht wurde auch bei Gandhi die Quelle eines menschlichen Rechts, nicht aber Incitament der Rache. Vielmehr forderte Gandhi von sich und seinen Landsleuten Wahrhaftigkeit im täglichen Leben, Wohlwollen, den ersten Schritt hin auf eine Verständigung zu tun. Während eines für Dada Abdullah geführten Rechtsstreits suchte Gandhi, obwohl er seinen Auftraggeber im Recht sah, nach einer gütlichen Einigung. Er sah, dass beide Parteien sich in einem weiteren Prozess nur ruiniert hätten. So sammelte er seinen Mut für einen außergerichtlichen Vergleich: Sein Mandant akzeptierte das ihm zustehende Geld in Ratenzahlungen und verhinderte so den Bankrott der vor Gericht wahrscheinlich unterlegenen Partei. Beide Seiten waren über diese Vereinbarung sehr erfreut, und Gandhi meinte hier das wahre Recht entdecken zu können. Als Rechtsanwalt sah er seinen Erfolg darin, dass er der üblichen Praxis widerstanden hatte, den Gegner zu zerstören.[24] Beide Seiten unterwarfen sich freiwillig der von ihm getroffenen Vereinbarung. Der in Demut Widerstehende versuchte sich hier von dem Urteil zu lösen, das Recht und Politik untrennbar von Zwang und Betrug seien, und entdeckte seine eigene geistige Kraft, die Kraft auch zur Hervorbildung eines wahren Rechts.[25]

Fünftes Kapitel: Der Kuli-Rechtsanwalt

Gandhi war in Südafrika ein „Kuli-Anwalt“, der einzige, den es dort gab.[26] Einundzwanzig Jahre verbrachte Gandhi dort, wobei er zum Vertreter der indischen Minderheit heranwuchs. Die Besitzer von Zuckerrohr-Plantagen waren auf die Arbeit indischer Kulis angewiesen, einer von einer Leibeigenschaft nicht weit entfernte Lebenssituation, zu der sie sich für fünf Jahre verpflichten mussten. Zu ihnen als später „freien“ Arbeitskräften kamen indische Händler und Handwerker hinzu, die von der britischen Bevölkerung allesamt als „Kulis“ benannt und behandelt wurden. So wurde Gandhi ein Rechtsanwalt der Kulis, ein Anwalt, der die Herbeiführung von Vergleichen, die Akzeptanz von Schiedssprüchen einem langen und teueren Rechtsstreit vorziehen wollte. Entgegen anfänglichem Misstrauen konnte er das Vertrauen beider Parteien erlangen und ein hohes Ansehen bei den Gujarati-Händlern Südafrikas erreichen, ohne dass er es angestrebt hätte.

Freilich arbeitete Gandhi nicht allein als Rechtsanwalt. Er hatte die Rassendiskriminierung am eigenen Leib erfahren und war keinesfalls bereit, sie als Recht anzusehen und sich ihr zu beugen. Zu diesem Widerstehen erschien ihm die Solidarität aller indischen Menschen in Südafrika unabdingbar: ein menschlicher und politischer Horizont seiner rechtlichen Arbeit. Der erste farbige Rechtsanwalt Südafrikas (attorney), der bei Gericht zugelassen war, rief zum Widerstand auf, als die indischen Menschen durch ein neues Gesetz ihres Wahlrechts beraubt werden sollten. Keinesfalls wollte er die Rassendiskriminierung hinnehmen, gar als Recht akzeptieren. Er organisierte den Natal Indian Congress, dessen Protest das Gesetz jedoch  nicht verhindern konnte, und führte den Kampf um das Recht der indischen Minderheit weiter. In diesem Zusammenhang gelang es ihm, sein Ansehen über den Kreis der Händler auf die Tamil-Kulis auszudehnen. Ein Kuli kam zu Gandhi und berichtete ihm, er sei von seinem Herren verletzt worden. Kulis konnten sich die Beauftragung eines Rechtsanwalts nicht leisten. Gandhi wies aber den Hilfesuchenden nicht zurück, sondern hörte ihm geduldig zu und sann über eine angemessene Hilfe nach. Er brachte den Kuli zu einem Arzt, verfolgte aber nicht den Plan, den britischen Herren durch ein Strafgericht belangen zu lassen. Von einem Strafurteil erwartete der Kuli-Anwalt keine Hilfe; in einem Kompromiss handelte er schließlich eine neue Möglichkeit aus, dass der Kuli einem anderen Herren „unterstellt“ wurde, der ihn besser behandelte. Gewiss überwand Gandhi damit nicht die Herrschaft über die Kulis, nicht die Leibeigenschaft; aber er gewann das Vertrauen der Kulis und verlangte, ja erreichte eine praktische Lösung, die auch anderen Menschen erreichbar schien und von ihnen akzeptiert wurde. Zugleich setzte er seinen Kampf gegen die Entrechtung der Kulis fort.

Als Rechtsanwalt warf Gandhi auch ein waches Auge auf die die Kulis diskriminierende Gesetzgebung. Ihm entging nicht, dass der Landtag von Natal ein Gesetz verabschiedete, das jedem Kuli, der seine Vertragszeit abgeleistet hatte und als freier Arbeiter in Natal bleiben wollte, eine Kopfsteuer in Höhe von 25 Pfund auferlegte. Die europäische Mehrheit wollte das Anwachsen der indischen Bevölkerung durch das Verbleiben „freier Arbeiter“ verhindern. Gandhi gründete den Natal Indian Congress und erreichte wenigstens, dass die Kopfsteuer von 25 auf 3 Pfund ermäßigt wurde. Auf diese Weise konnte die Ausweisung von Tamil-Arbeitern verhindert werden; gleichzeitig festigte Gandhi seinen Ruf als Anwalt der Kulis. Dazu gehörte zentral, diskriminierenden, die Menschen verachtenden Gesetzen immer wieder entgegenzutreten – unter anderem auch einer Lizenzpflicht für indische Kaufleute.

Als ein Ghetto der Bergarbeiter-Stadt Johannesburg von einer Pestepidemie befallen wurde, pflegte Gandhi die Opfer, zumeist Inder, und organisierte zusammen mit der Stadtverwaltung die medizinische Versorgung der Kranken. Die Verbindung zu der Phoenix Farm, die Gandhi im Geist John Ruskins und Leo Tolstois gegründet hatte, erhielt er aufrecht. Das Erlebnis der mörderischen Folgen des Zulu-Aufstands führte Gandhi zu dem Entschluss, schließlich seinen bürgerlichen Beruf aufzugeben und sich der politischen, zugleich sozialen Arbeit zu übergeben. Dabei rechnete sich Gandhi es als persönliche Schuld zu, dass er die Gewalttaten anderer Menschen nicht verhindern konnte. Solcher Gewalt wollte er mit aller Seelenkraft und in seiner praktischen Arbeit Einhalt gebieten. Als Rechtskundiger lehnte sich Gandhi gegen ein Gesetz der Regierung des Transvaal auf, das die indischen Menschen dazu zwang, sich registrieren zu lassen. Der Boykott der Registrierung wurde von ihm angeführt. Er wurde vor ein Gericht gezogen, seine Aufenthaltsgenehmigung wurde widerrufen. Der sich der Ausweisung Widersetzende wurde zu zwei Monaten Haft verurteilt. In dem Gefängnis fiel Gandhi Thoreaus Essay über den zivilen Ungehorsam zu. Schon hier erwies sich das Gefängnis als Ort der Entdeckung einer neuen Lehre: des Rechts auf Widerstehens in Gewaltfreiheit. Thoreaus Verteidigung des Rechts des Bürgers, sich ungerechten Gesetzen zu widersetzen in der Form der Steuerverweigerung, begeisterte Gandhi. Thoreau protestierte mit diesem Schritt gegen die Sklaverei, die im Jahr 1845 in den Vereinigten Staaten von Amerika noch gesetzmäßig war.[27]

Sechstes Kapitel: Der Satyagrahi

Rothermund, dessen Darstellung ich in dem vorhergehenden Kapitel bislang gefolgt bin[28], entdeckt in der begeisterten Lektüre des Essays Gandhis ersten Schritt auf dem Weg zum Satyagraha. Darauf ist näher einzugehen: Gandhi achtete darauf, nicht so sehr den Anderen ins Unrecht zu setzen; er selber hielt Zusagen und Vereinbarungen genau ein und hoffte, dass der Andere sich nicht selbst widersprach und in das Unrecht geriet. So war es auch mit General Smuts: Dieser versprach, das Registrationsgesetz fallen zu lassen, wenn die Inder sich freiwillig registrieren ließen. Gandhi ging darauf ein und forderte seine Anhänger zur Registrierung aus freien Stücken auf. Obwohl von einem Anhänger des Boykotts als Verräter verprügelt, unterschrieb Gandhi im Krankenhaus das Registrationsformular. Nachdem nun die Inder Gandhis Wort gefolgt waren und die Formulare freiwillig unterschrieben hatten, brach General Smuts sein Wort, behauptete sogar, nie eine Zusage gegeben zu haben. Nachdem die Inder die Rückgabe der Formulare verlangt hatten, ein Gericht jedoch geurteilt hatte, dass die Regierung dazu nicht verpflichtet sei, organisierte Gandhi eine Massenversammlung, auf der die Registrationsausweise öffentlich verbrannt wurden. Die Regierung wagte diesmal eine strafrechtliche Verurteilung nicht.

Gandhi, der sich durch Smuts getäuscht sah und diese Täuschung keinesfalls akzeptieren wollte, widersetzte sich nun den bestehenden Einwanderungsgesetzen des Transvaal. Er unterstützte Gruppen illegaler indischer Einwanderer und wurde auch selber verhaftet. Das Urteil lautete auf eine Gefängnisstrafe mit Zwangsarbeit, die Gandhi gemeinsam mit Schwerverbrechern ableistete. Mittlerweile hatte Gandhi seine Rechtsanwalts-Praxis[29] aufgegeben und wandte sich der gewaltfreien Überwindung der britischen Herrschaft zu. In Gesprächen mit seinem Freund Dr. Pranjivan Mehta vertiefte er seine Argumentation in seinem Manifest „Hind-Swaraj“, einer radikalen Kulturkritik. Ärzte und Rechtsanwälte, die er noch vor nicht langer Zeit als Helfer der diskriminierten Minderheit betrachtet hatte, erschienen ihm jetzt als überflüssig.  Ihr Handeln konnte er nunmehr als sogar schädlich erachten. Die britische Herrschaft setzte die 1910 veröffentlichte Schrift „Hind-Swaraj“ und Gandhis Übersetzung der Verteidigungsrede des Sokrates, den er einen Satyagrahi nannte, auf den Index der verbotenen Bücher. Gandhi selber schrieb dazu: „We must learn to live and die like Socrates.“[30]

Als Gandhis Freund Hermann Kallenbach Gandhi auf seiner Farm vor den Toren Johannesburgs aufnahm, gab Gandhi dieser den Namen „Tolstoi Farm”.  Auf diesem Zufluchtsort der Familien von Satyagrahis, wozu auch tamilische Frauen mit ihren Kindern gehörten, errichtete Gandhi eine Schule für die Kinder und unterrichtete sie in Tamil, in einer Sprache, die er selber gerade lernte. Das Lernen mit den Kindern und die Unterstützung der Frauen in Not lehrten Gandhi die Vertiefung in die Kritik des Rechts, in das gewaltfreie Widerstehen, in die Kraft der Frauen. Als ein gerichtliches Urteil zu einer Ungültigkeits-Erklärung praktisch aller indischer Ehen in Südafrika führte, die diesen Ehen entstammende Kinder als illegitim bezeichnete, weil nur christliche Ehen rechtlich anerkannt wurden, erklärten sich indische und tamilische Frauen bereit zur Teilnahme am Satyagraha. Sie forderten tamilische Bergarbeiter zum Streik auf, woraufhin diese ausgesperrt wurden. Verhaftungen folgten; schließlich wurde das bestreikte Bergwerk zu einem Notgefängnis erklärt, in dem mit Zwangsarbeit und mit Misshandlungen die Menschen gebrochen werden sollten. Dieses Unrecht, das auf dem Boden der Legalität angeordnet und exekutiert wurde, traf nicht nur auf Gandhis, sondern auch auf den Widerstand aller Kulis auf den Zuckerrohrplantagen. Die Sympathiestreiks sollten durch militärische Gewalt beendet werden, was aber der Regierung nicht gelang. Als aus anderen Gründen die weißen Eisenbahnarbeiter in einen Streik traten, erklärte Gandhi, ein Satyagrahi falle seinem Widersacher nicht in den Rücken; er unterbrach den Widerstand der indischen Menschen für die Zeit des Eisenbahnerstreiks und erreichte nun, dass General Smuts die Vergeblichkeit der Maßnahmen der Unterdrückung einsehen konnte. So gelang es Gandhi, einen Weg des Rechts der indischen Minderheit aus dem legalen Unrecht heraus zu finden: die Kopfsteuer für die Kulis wurden abgeschafft, die indischen Ehen wurden für rechtsgültig erklärt, die Einwanderung von indischen Menschen wurde erlaubt.

Siebtes Kapitel: Gandhis Kritik der Rechtsanwälte

Sunit B. Kher fasst Gandhis Arbeit als Rechtsanwalt in der folgenden Weise zusammen: „The Mahatma was an ardent and inveterate votary of truth. Truth, like non-violence, was the first article of his faith and the last article of his creed. It was therefore no wonder, that in his practice of the law, he maintained the highest traditions of the profession and did not swerve by a hair’s breadth from the path of rectitude and integrity. He was always valiant for truth, bold in asserting it in scorn of all consequence, and never sold the truth to serve the interests of his clients.”[31] Gandhi vergaß niemals, dass er, wenn er auch einzelne Menschen als Rechtsanwalt vertrat, vorrangig und durchgehend verpflichtet sei der Wahrheit und der Gerechtigkeit. Er praktizierte das Gesetz, ohne sein Verständnis von Wahrheit zu kompromittieren. Er weigerte sich, seine Mandanten oder Zeugen jemals zur Lüge zu ermutigen – und sei es bei der Aussicht, so einen Prozess zu gewinnen. Neue Mandanten warnte Gandhi, sei könnten von ihm nicht eine Beeinflussung von Zeugen erwarten. So erlangte er seinen Ruf, ein wahrhafter Rechtsanwalt zu sein, ein Anwalt auf Wahrhaftigkeit hin; Kollegen und Gerichte erkannten seine Integrität und Aufrichtigkeit. Seinen eigenen Mandanten gegenüber handelte Gandhi in gewisser Strenge; es wird berichtet, er habe sich vor Gericht mitten in einer Vernehmung zurückgezogen und sein Mandat niedergelegt, als er bemerkte, dass ein Mandant ihn getäuscht hatte und die Unwahrheit sprach. Gandhi war ein Anwalt, der die Verständigung mit der Gegenseite stets suchte. Er hielt dafür, dass ein Mandant, wäre er ein ehrlicher Mensch, zahlen würde, könnte er es nur – wäre er ein unehrlicher Mensch, könnte es nicht ehrenvoll für den Rechtsanwalt sein, gesetzlichen Zwang gegen ihn auszuüben. „Indeed, in his very action, the Mahatma vindicated his hostility to the doctrine of force and his abiding faith in that of love as a rule of life.”[32]

Freilich: Die Arbeit als Rechtsanwalt erschien Gandhi im Lauf seines Lebens immer stärker als untergeordnete Tätigkeit. Viel wichtiger dünkte es ihn, sein Leben dem öffentlichen Dienst zu weihen. Die Satyagraha-Kampagne gegen die südafrikanische Regierung, gegen ihre rassistische und diskriminierende Politik erschwerten es ihm immer mehr, sich den Bedürfnissen seiner Mandanten zuzuwenden. Als seine Gedanken zu Wahrheit und Gewaltfreiheit sich deutlich herauskristalisierten und herangereift waren, kam Gandhi zu dem Schluss, dass eine Negation von Ahimsa sei, seinen Lebensunterhalt mit einem Beruf zu verdienen, der mit polizeilicher Gewalt und mit dem Gefängniswesen verbunden war, die Dekrete der Gerichte befolgte und so ihre letzte Bestimmung, ihren Sinn und ihre Sanktionsmöglichkeiten von physischer Macht ableitete.[33] Im Jahr 1923 zog sich Gandhi so ganz zurück aus der Praxis als Rechtsanwalt und widmete seine ganze Zeit und Energie dem Dienst an der Gemeinschaft. Als Satyagrahi brach er Gesetze, anstatt sie auszubreiten oder auszulegen vor Gerichten. Sein ziviler Ungehorsam vertrug sich nicht mit dem Beruf des Rechtsanwalts. Gandhi wurde zu dem „famous non-lawyer of recent history“, zu einem „transfigured lawyer“, der die Tugenden eines Anwalts aufbewahrte und vertiefte, auch wenn er diesen Beruf aufgeben musste.[34] Gandhi wurde auf seinem Weg der Gewaltfreiheit zu einem „civil resistor of unjust laws“.

Gandhi wollte nicht nur in gerichtlichen Verfahren ein Anwachsen der Böswilligkeit auf beiden Seiten nicht hinnehmen. In der Vorbereitung eines Prozesses überkam ihn zuweilen der Ekel vor dem Beruf des Rechtsanwalts, vor seinem Beruf, deutlicher: auch vor sich selbst. Er sah, dass gerichtliche Verfahren oft zwei gekränkte Parteien zurückließen und hielt diese Verletzungen nicht länger aus. Die böswillige Eskalation wollte er nicht weiter ertragen. So erfühlte er es mehr und mehr als seine Pflicht, beide Parteien zusammenzubringen und auszusöhnen. Darin erblickte er die „wahre Rechtspraxis“[35], die ihm half, seine Seele nicht zu verlieren. In seiner Suche nach Wahrheit entdeckte er die „Schönheit des Kompromisses“, die Geisteshaltung des Satyagrahi. Damit ist nicht eine oberflächliche Verständigung oder äußerliche Schein-Einigung gemeint, wohl dies, dass die Wahrheit hart wie ein Diamant und in sich zugleich zart wie eine Blüte ist. Im Grunde suchte Gandhi nach einer inneren Verbindung der Menschen zueinander, nach einer wechselseitigen Anerkennung und Entdeckung der beidseitigen Menschlichkeit. Dass diese als Funken in jedem Menschen aufschlagen könne, war eine Grunderfahrung seines Lebens.

Als Student hatte Gandhi gehört, der Beruf des Rechtsanwalts sei der Beruf des Lügners; doch hatte er nie die Absicht, durch Lügen eine gesellschaftliche Position oder Geld zu erlangen. Ein Satyagrahi sei verpflichtet zur Nicht-Gewalt, sogar zum Selbstopfer. So beugte sich Gandhi nicht unter die Lehre, dass Macht Recht bedeute: nicht unter das „Gesetz des Schwertes“. [36]

In „Hind Swaraj“ formuliert Gandhi eine heftige Kritik gegen Rechtsanwälte. Gandhi rät, zwei Streitende sollten nicht vor Gericht ziehen.[37] Rechtsanwälte hätten Indien versklavt, die Zwistigkeiten zwischen Muslimen und Hindus zugespitzt; sie hätten die englische Staatsautorität bestärkt.

Gandhi setzt sich mit Gegenfragen auseinander. Diese lauten, ob Anwälte nicht den Weg zur Unabhängigkeit Indiens gewiesen hätten, nicht die Armen geschützt, die Gerechtigkeit abgesichert. Manomehan Ghose habe schließlich viele Arme ohne Honorar verteidigt. Ungerecht sei es, diese achtenswerten Menschen zu denunzieren. Der Kritiker (in dem Buch: „Editor“) räumt ein, er ehre Mister Ghose’s Andenken; ohne Zweifel habe dieser vielen Armen geholfen. Anwälte seinen schließlich auch Menschen; wie in jedem Menschen sei auch in ihnen etwas Gutes zu entdecken, doch das Gute beziehe sich auf sie als Menschen, nicht als Anwälte. Der Beruf des Anwalts lehre die Unmoralität; der Beruf sei Versuchungen ausgesetzt, von denen nur wenige sich befreien könnten.

Bei dem Streit zwischen Hindus und Muslimen müssten beide Seiten einsehen, Fehler begangen zu haben. Aber Anwälte würden ihnen nicht raten, die Auseinandersetzungen beizulegen. Ihre Aufgabe sei es, auf die Seite ihrer Mandanten sich zu stellen. Täten sie es nicht, würden sie angesehen, als hätten sie ihren Beruf verfehlt. Deshalb würden Rechtsanwälte regelrecht Streitigkeiten vorantreiben, statt sie zu beruhigen und niederzuhalten. Schärfer noch: Menschen würden zu diesem Beruf greifen nicht in der Absicht, anderen aus ihrem Unglück herauszuhelfen, wohl um sich selbst zu bereichern. „It is within my knowledge that they are glad when men have disputes.“[38] Ihr Interesse gehe also dahin, Dispute zu vervielfältigen und zu bestärken. Gandhi spitzt seine Kritik erneut zu: Sie sögen das Blut aus der armen Bevölkerung. Insbesondere kritisiert er das Selbstlob, die Selbsthervorhebung von Rechtsanwälten, die von sich beanspruchen, für die Gerechtigkeit zu sorgen.

Rechtsanwälte beanspruchten mehr Geld als einfache Arbeiter. Doch sei zu fragen, in welcher Weise sie ihrem Land mehr nützten als Arbeiter. Anwälten gelinge es, Brüder zu Feinden werden zu lassen; sie trieben Menschen in den finanziellen Ruin.

Als größtes Unrecht erachtet Gandhi, dass Rechtsanwälte den englischen Griff nach Indien gefestigt hätten, die englische Herrschaft gestärkt. Auch Gerichte hätten im übrigen zu dieser Exekution von kolonialer Macht beigetragen und sich nicht für das Wohlergehen des indischen Volkes eingesetzt. Gandhi klagt im Grunde eine Entrechtlichung und Entstaatlichung der Konfliktbewältigung ein. Wenn die Menschen ihre Streitigkeiten selber klären und austragen könnten, wäre eine dritte Partei nicht im Stande, ihre Autorität über sie und gegen sie auszuüben. Die Menschen wären weniger unmenschlich, wenn sie ihre Streitigkeiten entweder durch Kampf oder mit Hilfe ihrer Verwandten austrügen. Unmenschlich und feige sei es, sich an Gerichte zu wenden. Allein die Parteien könnten wissen, was das Rechte sei und es in eigener Auseinandersetzung hervorbringen. Ein Fremder, ein Dritter, der dafür Geld bekomme, können die Gerechtigkeit den Menschen nicht geben.

Schließlich äußert Gandhi sein Entsetzen über den Beruf des Rechtsanwalts, der er ja in gewissen Jahren seines Lebens selbst gewesen ist. Anwälte und Richter würden nebenher einander noch bestärken in der Tendenz, nicht zum Entstehen von Gerechtigkeit, sondern zu kolonialer Ungerechtigkeit beizutragen.

Achtes Kapitel: Gandhi als Lehrer der Menschheit

Wer auf Gandhis Leben der Nicht-Gewalt und des Selbstopfers schaut, wird sich an den Prozess in Ahmedabad aus dem Jahr 1932 erinnern. Kein Gefangener hatte bislang in dieser Weise vor einem britischen Gerichtshof gestanden und sich – nicht aus Mangel an Achtung vor gesetzlicher Autorität – auf seinen Gehorsam gegen das höhere Gesetz des eigenen Wesens, die Stimme des Gewissens, sich berufen. Niemals zuvor waren die Gesetze einer allmächtigen Regierung stärker herausgefordert worden als durch eine derartige widerstehende Demut (humility).[39] Viele Menschen bewunderten die Weisheit, das umfassende Mitleiden, den demütigen Heroismus dieser schmalen leiblichen Gestalt, die ihr Anathema gegen die Regierung offen aussprach. Eine Anhängerin Gandhis, Mrs. Sarojini Naidu, verglich die Gerichtssituation gar mit dem Drama der Kreuzigung Jesu. Schon einmal sei ein anderer göttlicher und hervorragender Lehrer der Menschheit gekreuzigt worden; jetzt sei es der unbesiegte Apostel der Freiheit Indiens, der die Menschheit liebte in überfließendem Mitleiden, der die Nähe der Armen erreichte mit seiner Teilhabe an dem Geist der Armen. In einer Gandhi gar nicht entsprechenden Pathetik und in einer Tendenz zur Sakralisierung wurde dieser zum lebenden Opfer und Sakrament der Befreiung der Menschheit erhoben. Gandhi dagegen wusste, dass er in seinem Leben auch Himalaya-große Fehler begangen hatte, dass er ein fehlbarer Mensch blieb.[40]

Gandhi war sich ganz im klaren darüber, dass ein Wahrheitssucher auch oft im Dunkeln tappen muss. „Ahimsa ist ein umfassendes Prinzip. Wir sind hilflose Sterbliche, von der Feuersbrunst von Himsa eingefangen. In der Redewendung, dass Leben von Leben lebt, steckt ein tiefer Sinn. Der Mensch kann keinen Augenblick leben, ohne äußerlich, bewusst oder unbewusst, Himsa zu begehen. Die bloße Tatsache seines Lebens – Essen, Trinken und äußere Bewegung – schließt notwendig etwas Himsa, Zerstörung von Leben, und sei es noch so winzig, ein. Ein Ahimsa-Bekenner bleibt daher seinem Glauben treu, wenn der Ursprung all seines Tuns Mitleid ist, wenn er, so gut er es vermag, die Zerstörung des kleinsten Lebewesens vermeidet, es zu retten sucht und sich so unablässig bemüht, von der tödlichen Verstrickung in Himsa frei zu werden. Er wird ständig an Selbstzucht und Mitleid zunehmen, doch völlig von äußerer Himsa frei werden kann er nie.“[41]

Ich spreche an dieser Stelle noch einmal den Beruf des Rechtsanwalts an. Gandhi wusste, dass dieser Beruf von vielen als Beruf der Lügner betrachtet wurde. Rechtsanwälte seien bezahlte Lügner, geübt in der Kunst, Worte aufeinander zu häufen allein zu dem Zweck, das Weiße als das Schwarze, das Schwarze als das Weiße auszugeben. Bewusst oder unbewusst würden Rechtsanwälte in ein Leben der Unwahrheit geführt werden im Namen des angeblichen Wohls ihrer Mandanten. Während ein englischer Rechtsanwalt[42] es als Pflicht eines Rechtsanwalts erklärte, auch den schuldigen Mandanten zu verteidigen, betrachtete Gandhi es als anwaltliche Pflicht, dem Gericht zu helfen, der Wahrheit näher zu kommen, niemals den Schuldigen als den Unschuldigen vorzutäuschen. Sunit B. Kher äußert am Ende seiner Einleitung zu dem Buch „Law and Lawyers“,  er glaube daran, dass der Beruf des Rechtsanwalts ein ehrenvoller Beruf sei, der die höchsten Standards von Rechtschaffenheit, Integrität und Aufrichtigkeit abverlange, dass die anwaltschaftliche Praxis in keiner Weise unvereinbar sei mit der Suche nach der Wahrheit.[43] Damit nimmt er Gandhis Kritik aber nur unzureichend auf.

Der Spannungsbogen in Gandhis Gedanken zu den Aufgaben eines Rechtsanwalts kann so aufgezeigt werden: Die wahre Aufgabe eines Rechtsanwalts sei es, die zerstrittenen und einander befehdenden Parteien zu versöhnen. Der wahre Anwalt setzte Wahrheit und Dienst an die erste Stelle seiner Arbeit[44], nicht den eigenen Vorteil.

Andererseits würden Rechtsanwälte Streitigkeiten zuspitzen, anstatt sie zu verhindern. Menschen würden diesen Beruf ergreifen nicht in der Absicht, anderen Menschen aus ihrem Unglück herauszuhelfen, sondern um sich an deren Schwierigkeiten, an deren Not zu bereichern. Die Vervielfältigung der Streitigkeiten werde von ihnen zur Mehrungihres Reichtums ausgenutzt. Zuweilen würden Rechtsanwälte sich sogar über Streitigkeiten freuen.

Angeregt von John Ruskin („Unto this last“) forderte Gandhi, ein Rechtsanwalt sollte niemals eine Bezahlung für seine Arbeit verlangen. In einem idealen Staat würden Rechtsanwälte und Ärzte allein für das Wohl der Gesellschaft arbeiten, nicht für das eigene.[45] Gandhi hoffte darauf, dass Menschen Streitigkeiten vermeiden würden und könnten. Sich mit dem Widerpart zu verständigen, sei die „gesündeste“ rechtliche Maxime (legal maxim).

Gandhi lehnte es mit aller Kraft und in all seinen Schwächen ab, die menschliche Gemeinsamkeit und das Wohlwollen der Menschen zueinander zu zerstören. Sein großer Beitrag zu einer menschlichen Kultur bestand darin, den menschlichen Geist nicht zu zerstören, sondern in den Herzen der Menschen die Liebe zu ihren Mitmenschen aufzuwecken – wach werden zu lassen nach der Maßgabe seines demütigen Widerstehens.[46]

Gandhi räumte der Herzensbildung, oder, wie er auch sagte, Charakterbildung stets den ersten Platz ein. Allen Menschen könne die gleiche moralische Erziehung gegeben werden; körperliche und Garten-Arbeit kämen dazu, verbunden mit guter Luft, Wasser, regelmäßigen Esszeiten. Auf der Tolstoi-Farm in Südafrika war die handwerkliche Arbeit wichtig, wobei die Lehrer mit den Jungen zusammen arbeiteten und sich auch niedrigen Tätigkeiten zuwandten. Nie versuchte Gandhi als Lehrer seine Unwissenheit vor seinen Schülern zu verbergen. Er zeigte sich ihnen, wie er wirklich war, und verlor so nie ihre Liebe und Achtung. Das Bücherwissen schien ihm nicht so wichtig, wohl die „Schulung des Geistes“. Unterschieden von der Verstandesbildung, achtete Gandhi auf die geistige Schulung der Kinder. „Den Geist zu entwickeln, heißt den Charakter bilden und jemanden in den Stand setzen, in Richtung auf Gottes Erkenntnis und Selbstverwirklichung tätig zu werden. Und ich hielt dafür, dass dies ein wesentlicher Teil der Jugendbildung und dass alle Bildung ohne Geisteskultur nutzlos sei und sogar Schaden anrichten könne.“[47] Geistige Bildung könne nicht durch Bücher vermittelt werden; entscheidend sei die Gestalt des eigenen Lebens. Die Schüler wurden für Gandhi zu seinen Lehrmeistern. Als Lehrer lernte er, gut zu sein und streng zu leben. Als Gandhi einmal einen lügenhaften und zänkischen Schüler vor lauter Verzweiflung auf den Arm schlug, zitterte er selber. Der Junge schrie auf und bat Gandhi dann um Verzeihung. „Aber er begriff, wie es mich quälte, dass ich mich zu diesem gewaltsamen Mittel hatte treiben lassen. Nach diesem Vorfall war er nie mehr ungehorsam gegen mich. Aber ich bereue diese Gewalttätigkeit heute noch. Ich fürchte, ich zeigte ihm an jenem Tag nicht den Geist, sondern die Bestie in mir.“ [48]

Dieser Vorfall weckte Gandhis Suche nach der Wahrheit erneut auf; er nahm nie mehr seine Zuflucht zur körperlichen Züchtigung, sondern verstand die Kraft des Geistes immer besser. Entgegen jeder Hagiographie ist im Sinne dieser Schilderung festzuhalten, dass Gandhi nicht frei war von Regungen der Gewalt; gerade im jungen Gandhi entdeckte der Psychologe Erikson Eitelkeit in seiner Armut, Unaufrichtigkeit in seiner Demut, Starrsinn in seiner Hilflosigkeit, bis es Gandhi schließlich gelang, aus Armut, Demut und Hilflosigkeit heraus eine neue Kraft, eine neue Hoffnung entstehen zu lassen.[49] Ahimsa ist nicht von schwachen oder wehrlosen Menschen erfunden worden, ist nicht die Lebensgestalt der Unterdrückten, wohl Ausdruck von Lebenskraft und Mut, dem Feind gerade und offen in das Gesicht zu sehen. Feigheit und Furcht sind – so Gandhis Gewissheit – von jedem Menschen zu überwinden; diese Überwindung allerdings gelingt nie vollends. Gandhi hat erkannt, dass Gewalt auch in der Gewaltlosigkeit sein kann, ein „Trieb zur Gewalt“ nicht vollständig zurückgedrängt werden kann. T.S. Andrews gegenüber gestand Gandhi ein[50], dass der Krieg stets mit uns sein werde. Gerade in dieser Erfahrung gründete für ihn die Lehre der Gewaltfreiheit (ahimsa)[51], die unbedingte Fortsetzung seines Experiments in der Wahrheitssuche, einer Suche, der die bewusst erlebte Nichtigkeit in eine eigene Kraft zu transformieren gelang. Er zerbrach nicht zwischen Größenwahn und Selbstzerstörung; ihn erhoben ein wendiger Verstand, der ihn auch in rechtlichen Situationen unterstützte, und vor allem sein menschenerfahrenes Herz.

Neuntes Kapitel: Nelson Mandelas Arbeit als Rechtsanwalt

Nelson Mandela hat als Ausbildung-Clerk in einer jüdischen Rechtsanwalts-Kanzlei mitgearbeitet. Jüdische Menschen fand er großzügiger in den Fragen von Rasse und Politik, weil sie selbst immer wieder Opfer von Vorurteilen gewesen waren. Einer der Leiter der Kanzlei setzte sich für die Bildung der afrikanischen Menschen ein; ein Mensch mit Bildung lasse sich nicht unterdrücken, weil er für sich selbst denken könne. In der Kanzlei lernte Mandela Nat Bregman kennen, einen weiteren Clerk. Von ihm lernte Mandela die „Philosophie des Kommunismus“: Alles miteinander zu teilen, was wir haben. Konfrontiert mit dem Suppression of Communism Act, suchte Mandela nach einem Kommunismus im Kontext des afrikanischen Nationalismus. Die Idee einer klassenlosen Gesellschaft zog ihn an, ähnelte sie ihm doch der traditionellen afrikanischen Kultur, „in der das Leben von allen geteilt und gemeinschaftlich war“.[52] Dabei ging es Mandela vorrangig um die Emanzipation aller Afrikaner von der weißen Minderheitsherrschaft, um das Recht zur Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten. Doch darüber hinaus suchte er nach einem internationalen und historischen Kontext der großen Welt und des Gangs der Weltgeschichte. Die Einheit und Großzügigkeit der Goldenen Regel sah er in dem fundamentalen Marx’schen Wort: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“

Mandela folgte keiner Idee der Gewaltlosigkeit, die durch Bekehrung zu gewinnen suchte. Anders als Gandhi und dessen Sohn Manilal genügte ihm eine ethisch begründete Gewaltlosigkeit nicht; er betrachtete die Gewaltlosigkeit als Taktik, als den Umständen sich anpassende Methode. Er sah die Gewaltlosigkeit nicht als unantastbares Prinzip, sondern stellte sie unter das Maß der Effektivität. Nicht-Kooperation schloss eine massenhafte Gesetzesmissachtung ein, begleitet von Streiks und Arbeitskämpfen (Mißachtungs-Kampagne). Mut der Menschen, ihr Enthusiasmus leiteten die Missachtung von Gesetzen an, den Widerstand der Schwarzen, die sich nach einer Rückkehr Afrikas sehnten. Gewaltloser passiver Widerstand sei – so Mandela – so lange effektiv, wie der Gegner sich an dieselben Regeln halte wie man selbst. Gewaltlosigkeit sei aber begrenzt in ihrer Wirksamkeit. Eine „Politik der Gewaltlosigkeit“ schien Mandela eine stets zu überprüfende und den Umständen anzupassende Strategie zu sein.

Im August 1952 eröffnete Mandela sein eigenes Anwaltsbüro. Er beteiligte sich kämpferisch an der Mißachtungs-Kampagne und begann seinen Beruf als Rechtsanwalt. Angeregt von H. M. Basner, einem früheren Mitglied der Kommunistischen Partei und Kämpfer für die Rechte der Afrikaner, stellte sich Mandela auf die eigenen Füße. Unterstützt wurde er dabei von Zubeida Patel, einer Sekretärin, die er in der Kanzlei von Basner kennengelernt hatte, wo sie eine Sekretärin burischer Herkunft ablöste, die sich geweigert hatte, Diktate Mandelas aufzunehmen. Mandela sah, dass Zubeida Rassenbarrieren ablehnte, und begann die Zusammenarbeit mit ihr. Als Rechtsanwalt kam Oliver Tambo dazu, dessen gedankenreiche Intelligenz und scharfes Debatiertalent Mandela erkannte. Seine kühne, logische Art, mit der er die Argumente des Gegners zu demolieren verstand, sprach Mandela an. Mit dem zugleich tief religiösen Oliver Tambo eröffnete Mandela sein eigenes Büro im Zentrum von Johannesburg. Das Gebäude, das ihnen gehörte und gegenüber den Statuen des Gerichts lag, war eines der wenigen in der Stadt, in dem Afrikaner Büros mieten durften. Es war das einzige afrikanische Anwaltsbüro; für Afrikaner war die Kanzlei erste Wahl und letzte Zuflucht zugleich. „Afrikaner suchten verzweifelt juristische Hilfe. Es war ein Verbrechen, durch eine ‚nur-für-Weiße’-Tür in Regierungsgebäude zu gehen, ein Verbrechen, in einem ‚nur-für-Weiße’-Bus zu fahren, ein Verbrechen, einen ‚nur-für-Weiße’-Trinkbrunnen zu benutzen, ein Verbrechen, an einem ‚nur-für-Weiße’-Strand spazierenzugehen, ein Verbrechen, kein Passbuch bei sich zu haben, ein Verbrechen, in dem Buch die falsche Unterschrift zu haben, ein Verbrechen, arbeitslos zu sein, ein Verbrechen, nicht den richtigen Arbeitsplatz zu haben, ein Verbrechen, an bestimmten Orten zu leben und ein Verbrechen, keinen Platz zum Leben zu haben. „Jede Woche befragten wir ausgemergelte alte Männer vom Land, die uns erzählten, dass ihre Familie Generation um Generation ein dürftiges Stück Land bearbeitet hatte, von dem sie jetzt vertrieben wurde. Jede Woche sprachen wir mit alten Frauen, die zur Aufbesserung ihres winzigen Einkommens afrikanisches Bier brauchten und nun Gefängnis- und Geldstrafen zu gewärtigen hatten, die sie nicht bezahlen konnten. Jede Woche kamen zu uns Menschen, die seit Jahrzehnten im selben Haus gewohnt hatten und jetzt feststellen mussten, dass es zum Weißen-Gebiet erklärt wurde und sie es ohne die mindeste Entschädigung verlassen mussten. Jeden Tag hörten und sahen wir die tausendfältigen Erniedrigungen, denen gewöhnliche Afrikaner tagtäglich ausgesetzt waren.“[53]

Oliver Tambo verwandte auf jeden Mandanten viel Zeit, nicht so sehr aus professionellen Gründen, sondern weil er ein Mensch fast grenzenloser Anteilnahme und Geduld war. Mandela hält bewundernd fest, Tambo habe sich in die Fälle seiner Klienten, ja in ihr Leben hineinziehen, von der Not der Massen und dem Elend jedes einzelnen Menschen anrühren lassen. Demnach sahen sie als Aufgabe eines Rechtsanwalts, menschliche Anteilnahme zu zeigen, sich dem Leben der Mandanten zuzuwenden, als Mensch sich zu zeigen. Die Anwalts-Kanzlei erlangte eine einzigartige Bedeutung für die afrikanischen Menschen. Mandela ging schnell auf, was die Kanzlei für gewöhnliche Afrikaner bedeutete. Es war ein Ort, wo sie hingehen, ein mitfühlendes Gegenüber und einen kompetenten Verbündeten finden konnten, ein Ort, wo sie nicht zurückgewiesen oder betrogen wurden, ein Ort, wo sie tatsächlich Stolz empfinden mochten, weil sie von Männern ihrer eigenen Hautfarbe vertreten wurden. Dies war in erster Linie der Grund dafür, dass Mandela Rechtsanwalt geworden war; seine Arbeit gab ihm oft das Gefühl, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

Mandela wurde als Rechtsanwalt zuweilen verachtet, zuweilen höflich behandelt, zuweilen mit Vorurteilen traktiert, als „Kaffernanwalt“ beschimpft. Die Erfahrung des Unrechts prägte sich Mandela deutlich ein. Wie bei Gandhi geht es hier um eine Situation äußerster Verachtung. Das wird in einem kleinen Ereignis deutlich, dass Mandela in seiner Autobiographie schildert: „Rechtsanwalt zu sein hieß auch nicht automatisch, außerhalb des Gerichts respektiert zu werden. Eines Tages sah ich in der Nähe unseres Büros eine ältere weiße Frau, deren Auto zwischen zwei anderen Wagen eingeklemmt war. Ich trat sofort hinzu und schob den Wagen an, worauf er freikam. Die englischsprechende Frau wandte sich mir zu und sagte: ‚Danke schön, John’ – John ist der Name, mit dem Weiße jeden Afrikaner ansprechen, dessen Namen sie nicht kennen. Sie wollte mir dann ein Sixpence-Stück geben, doch ich lehnte höflich ab. Sie streckte es mir erneut entgegen und wieder sagte ich: ‚Nein’. Da rief sie aus: ‚Sie lehnen ein Six-Pence ab. Dann wollen Sie sicher einen Shilling. Doch den bekommen Sie nicht.’ Dann warf sie mir das Geldstück zu und fuhr davon.“[54]

Im Südafrika der Apartheid als Rechtsanwalt zu arbeiten, bedeutete, im Rahmen eines verfälschten Rechtssystems mit Gesetzen zu tun zu haben, die dem Menschenrecht der Gleichheit widersprachen. Mandela entging zudem die Ungleichheit in der Erziehung keineswegs. Gemäß der rassistischen Erziehung waren afrikanische Menschen von Natur aus unwissend und faul. Mit dem Bantu Education Act wurde der afrikanischen Erziehung der Stempel der Apartheid aufgedrückt. Der Minister für Bantu-Erziehung wies den Afrikanern nur schwere körperliche Arbeit zu und verfolgte damit die immerwährende Unterordnung unter den weißen Mann: eine Erziehung zur Ignoranz und zur Minderwertigkeit.

Zehntes Kapitel: Gewaltlosigkeit und Pazifismus

Mandela entschied wie Häuptling Luthuli zwischen Gewaltlosigkeit und Pazifismus. Pazifisten verzichteten darauf, sich zu verteidigen, selbst wenn sie brutal angegriffen wurden; das sei nicht unbedingt der Fall bei Menschen, die für Gewaltlosigkeit einträten. Zuweilen müssten sich Menschen und Nationen, selbst wenn sie für Gewaltlosigkeit wären, gegen einen Angriff verteidigen. Mandela trat nicht für eine Erduldung der rassistischen Gewalt ein, war aber zuweilen in der Gefahr, Gewaltlosigkeit mit Passivität zu verwechseln. Gewaltlosigkeit war ihm kein unantastbares Prinzip, sondern eine sich nach den Umständen ändernde Taktik. Es kann auch nicht übersehen werden, dass Mandela zeitweilig der These Clausewitz’ folgte, dass der Krieg eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei.

Nicht-Kooperation gehörte zu dem politischen Widerstand, zu dem Mandela aufrief. So löste er sich von einem idealistischen Legalismus, den er als Student gelernt hatte. Zeitweilig glaubte er daran, dass das Gesetz an höchster Stelle stehe und für alle Personen gleichermaßen gelte – unabhängig von ihrem gesellschaftlichen Status. Mandela wollte eigentlich sein Leben auf diese Annahme gründen; doch durch seinen Beruf als Rechtsanwalt und seine Tätigkeit als politischer Aktivist wich diese idealistische Konzeption von dem Gesetz als Schwert der Gerechtigkeit, die er im Hörsaal gehört hatte, der Wahrnehmung, dass das Gesetz ein Instrument war, das die herrschende weiße Klasse benutzte, die Gesellschaft nach ihrer Herrschaftsabsicht zu formen. Im Gerichtssaal erwartete Mandela deshalb keine Gerechtigkeit, auch wenn sie ihm manchmal zuteil wurde.

Trotz aller Unterdrückungen, der Aburteilungen blieb Mandela dabei, in jedem Menschen eine Neigung zur Güte zu entdecken, wie vergraben und verborgen auch immer sie sein möchte. Mandela musste, getrennt von seiner Familie, seine Anwalts-Praxis schließen, seinen Beruf aufgeben, in Armut leben; Leiden, Opfer, Kampf, lange Gefangenschaft wurden zu seinem Leben, einem Kampf bis zum Ende seiner Tage. Vor dem weißen Magistrat scheute Mandela sich nicht auszusagen, dass die von Gerichten zuerkannte Gerechtigkeit der herrschenden Politik des Landes entspreche, möge diese Politik auch noch so sehr im Widerspruch zu den Normen der Gerechtigkeit stehen, wie sie in der gesamten zivilisierten Welt beachtet würden. An seinem Hass gegen die rassische Diskriminierung ließt Mandela keinen Zweifel aufkommen. Er entwarf eine neue, nicht-rassische Verfassung.

Elftes Kapitel: Mandelas politisches Testament

In einem der vielen gegen ihn eingeleiteten strafrechtlichen Verfahren trug Mandela in dem Gerichtssaal statt Anzug und Krawatte das traditionelle Leopardenfell der Xhosa (Kaross); Winnie Mandela trug einen traditionellen mit Perlen besetzten Kopfschmuck und einen knöchellangen Xhosa-Rock. Vor dem Gericht hielt Mandela nicht so sehr ein Plädoyer im strafprozessualen Sinn, sondern sprach sein politisches Testament aus, eine Erklärung gegen die in vielen Jahren erlittene Tyrannei, Ausbeutung und Unterdrückung seines Volkes durch die Weißen – eine Proklamation seiner Gewissens-Entscheidung. Er ging aus von Struktur und Organisation früher afrikanischer Gesellschaften, in denen das Land dem ganzen Stamm gehörte, es keinen Privatbesitz gab, keine Klassen, keine Reichen und Armen, keine Ausbeutung des Menschen durch die Menschen. Freiheit und Gleichheit aller Menschen seien Grundlage der Regierung gewesen. Eine solche Gesellschaft berge in sich den „Keim einer revolutionären Demokratie, in der niemand in Sklaverei oder Knechtschaft gehalten und in der es keine Armut, einen Mangel und keine Unsicherheit mehr geben wird.“[55] Dieser geschichtliche Hintergrund bilde die Inspiration für seinen politischen Kampf. In dem Konflikt zwischen seinem Gewissen und dem Gesetz stehe er, wobei er wie alle Menschen, die tief denken und empfinden – wie zum Beispiel Bertrand Russell seinem Gewissen folgte, der große Philosoph, der das Gesetz missachtete, als seine eigene Regierung die Nuklearpolitik verfolgte. „Er konnte nicht anderes tun, als das Gesetz zu missachten und dafür die Folgen auf sich zu nehmen. Auch ich kann nichts anderes tun. Ebensowenig viele Afrikaner in diesem Land. Das Gesetz, wie es angewendet wird, das Gesetz, wie es über einen langen Geschichtszeitraum entwickelt worden ist, und vor allem das Gesetz, wie es verfasst und geformt wurde von der Nationalistischen Regierung, dies ist ein Gesetz, das nach unserer Überzeugung unmoralisch, ungerecht und untragbar ist. Unser Gewissen zwingt uns, dagegen zu protestieren, dagegen zu opponieren und zu versuchen, es zu ändern .... Menschen, denke ich, sind unfähig, nichts zu tun, nichts zu sagen, nicht zu reagieren gegen Ungerechtigkeit, nicht zu protestieren gegen Unterdrückung und nicht zu streben nach der guten Gesellschaft und dem guten Leben, wie sie es sehen.“[56]

Mandela hielt fest in seinem politischen Testament, dass er von dem herrschenden Gesetz zum Kriminellen gestempelt worden sei, zu einem Gesetzlosen der Gesellschaft, zu einem ständig Gejagten, getrennt von seinen Nächsten. Das Gesetz sei genutzt worden, ihm den Status der Ungesetzlichkeit aufzuzwingen. Strafen aber könnten ihn nicht von seinem Weg abbringen, könnten nicht Menschen abschrecken, die von ihrem Gewissen wachgerüttelt seien. Obwohl er die verzweifelte und bittere Lage eines Afrikaners in den Gefängnissen kenne, sei er bereit, die Strafe auf sich zu nehmen. Die Freiheit eines Menschen in seinem eigenen Land sei das höchste Ziel; stärker als die Furcht vor den abscheulichen Bedingungen der Gefangenschaft sei der Hass gegen die Rassendiskriminierung. Geleitet von seinem Gewissen, werde er den Kampf für die Befreiung seines Volkes fortsetzen, für die Beseitigung der ihm auferlegten Ungerechtigkeiten.

Am Schluss sagte Mandela, er habe keinen Zweifel, dass die Nachwelt seine Unschuld verkünden werde und dass die Verbrecher, die vor das Gericht gehörten, die Mitglieder der Regierung seien. Es ist bekannt, dass dieser Hass nicht den Menschen, sondern der Ungerechtigkeit des Systems der Apartheid galt, jener Unmenschlichkeit, die ein unmenschliches politisches System den Menschen aufdrängt. Nicht ein politischer Messias – ein einfacher schwarzer Mensch dachte und sprach so; die Schmerzen und Leiden seiner Familie sah er größer an als die eigenen. Mandela schilderte nach seiner Befreiung aus dem Gefängnis, dort habe sein Zorn auf die Weißen abgenommen, aber sein Hass auf das politische System der Apartheid sei gewachsen. Er bekannte, dass er sogar seine Feinde liebe, wohl jenes System hasse, das Menschen gegeneinander aufbringe.

So begann die Suche nach einem Mittelweg zwischen weißen Ängsten und schwarzen Hoffnungen, der Weg einer fragilen Versöhnung hin zu einem nicht-rassistischen Südafrika, befreit von einem unmenschlichen System, alte Wunden heilen lassend. Alle Südafrikaner müssten zusammenfinden als Menschen und einander die Hand reichen. In seiner Rede zur Einführung in das Amt des Präsidenten Südafrikas gelobte Mandela, die Verfassung zu befolgen und für das Wohlergehen der Republik und ihrer Menschen Sorge zu tragen. In seiner Erklärung äußerte er seine Hoffnung, eine Gesellschaft könne erstehen, auf welche die ganze Menschheit stolz sein könne. Zu guter Letzt sei die politische Emanzipation verwirklicht worden. Er verpflichtete sich, alle Mitbürgerinnen und Mitbürger von den weiterhin bestehenden Fesseln der Armut, der Entbehrung, des Leids, des Geschlechts und weiterer Diskriminierungen zu befreien. Niemals mehr dürfe dieses schöne Land die Unterdrückung des einen durch den anderen Menschen erleben. Gewissermaßen trat er damit für eine umfassende menschliche Emanzipation ein, deren Ausstehen ihm nicht unentdeckt blieb.

Zwölftes Kapitel: Die große Befreiung

Am Schluss seiner Autobiographie erinnert Nelson Mandela daran, dass die Apartheid-Politik in seinem Land und in seinem Volk tiefe und dauerhafte Wunden hinterlassen habe. Viele Jahre, wenn nicht Generationen würden benötigt, aus dem tiefen Schmerz heraus Heilung zu erlangen. Doch ihnen entgeht auch nicht, dass die Wunden und Verletzungen eine unbeabsichtigte Nebenwirkung gehabt haben, dass nämlich die Zeit des Kampfes gegen die Apartheid Menschen von außerordentlichem Mut, Weisheit und Großmut hervorgebracht hat. Er fragt sich, ob es vielleicht solcher Tiefen der Unterdrückung bedürfe, solche Höhen an menschlichem Charakter entstehen zu lassen. Sein Verständnis von menschlichem Reichtum spricht sich in den folgenden Worten aus: „Mein Land ist reich an Erbsen und Edelsteinen, die dicht unter seiner Oberfläche liegen, doch ich habe immer gewusst, dass ihr größter Reichtum in den Menschen liegt, die besser und wahrer sind als die edelsten Diamanten.“[57] Nie, nicht in der Zeit seiner unendlichen Gefangenschaft, hat Mandela die Hoffnung aufgegeben auf den großen Wandel. Dieser sei möglich geworden nicht wegen der großen Helden, sondern wegen des Muts der einfachen Frauen und Männer seines Landes. Mandelas Credo, sein Wissen geht dahin, dass in jedem menschlichen Herz Gnade und Großmut zu finden seien. Niemand werde geboren, um einen anderen Menschen wegen seiner Hautfarbe, seiner Lebensgeschichte oder seiner Religion zu hassen. Liebe empfinde das menschliche Herz viel natürlicher als ihr Gegenteil; gegen das tiefe Gefühl der menschlichen Verbundenheit müsse der Hass erst aufgezwungen werden. Diesem Zwang zu widerstehen, sind menschliches Recht und menschliche Pflicht zugleich. Selbst in den schlimmsten Zeiten in dem Gefängnis, getrieben an seine eigenen Grenzen, hat Mandela einen „Schimmer von Humanität“ bei einem seiner Wärter gesehen, vielleicht nur für eine Sekunde, doch genug, ihn auf ein Weiterleben hoffen zu lassen. Die Güte des Menschen sei eine Flamme, die zwar versteckt, aber nicht ausgelöscht werden könne. Vielleicht würde im Sinne Gandhis hier gesprochen werden können von der menschlichen „Gütekraft“.[58] Mandela verbindet die Verpflichtung gegenüber seiner Familie, seinen Eltern, seiner Frau und seinen Kindern mit der Verpflichtung gegenüber seinem Volk, seinem Land: Eine Verpflichtung hin auf die Gründung einer zivilen, humanen Gesellschaft. In Südafrika sei über lange Zeit ein farbiger Mensch, der als menschliches Wesen zu leben versucht habe, gestraft und isoliert worden. In Südafrika sei ein Mensch, der seine Pflicht gegenüber seinem Volk zu erfüllen gesucht habe, aus seiner Familie und seinem Heim gerissen und gezwungen worden, ein Leben in Isolation zu führen, eine zwielichtige Existenz der Geheimhaltung und Rebellion. Mandela entgeht es nicht, dass er zeitweilig auch zu Lasten der Menschen gearbeitet hat, die er am meisten liebte. Frei geboren, erkannte er im Lauf seines Lebens, gerade in seiner Zeit der Gefangenschaft, dass nicht allein er nicht frei war, sondern dass auch seine Brüder und Schwestern nicht frei waren. Er erkannte, dass nicht nur seine Freiheit beschnitten war, sondern auch die Freiheit eines jeden, der aussah wie er. Sein Leben sieht er beseelt von der Sehnsucht nach der Freiheit seines Volkes, in Würde und Selbstachtung zu leben; angesichts dieser Sehnsucht verwandelte sich der junge Mann in einen kühnen, der gesetzestreue Anwalt zu einem Kriminellen, der Ehemann, der seine Familie liebte, in einen Mann ohne Heim und Heimat. Mit diesem bekennenden Wissen ist nicht eine Selbsthervorhebung eigener Tugend oder eigener Selbstaufopferung gemeint; vielmehr hat Mandela gesehen, dass sein Volk nicht frei war und dass Freiheit unteilbar ist: Die Ketten an jedem einzelnen aus seinem Volk waren die Ketten an allen, die Ketten an allen Menschen seines Volkes waren die eigenen.

Trotz der furchtbaren Gefangenschaft und der immer wieder zugefügten Herabsetzungen, der ihm auferlegten Verachtung ist es Mandela gelungen, aus seinem Hunger nach Freiheit für das eigene Volk den Hunger nach Freiheit aller Völker, ob weiß oder schwarz, wachsen zu lassen. Das Wissen entstand in ihm, wie er nur irgendetwas wusste, dass der Unterdrücker befreit werden muss wie der Unterdrückte. „Ein Mensch, der einem anderen die Freiheit raubt, ist ein Gefangener des Hasses, er ist eingesperrt hinter den Gittern von Vorurteil und Engstirnigkeit. Ich bin nicht wahrhaft frei, wenn ich einem anderen die Freiheit nehme, genausowenig wie ich frei bin, wenn mir meine Freiheit genommenen ist. Der Unterdrückte und der Unterdrücker sind gleichermaßen ihrer Menschlichkeit beraubt.“[59]

Dieser tiefste Gedanke eines menschlichen Rechts wurde Mandela noch einmal deutlich, als er das Gefängnis verließ. Vor ihn stellte sich seine Aufgabe, beide, den Unterdrücker und den Unterdrückten, zu befreien. Diese Freiheit ist nicht erreicht, stets zu erstreben. Der Zweifel an der Wirklichkeit dieses Rechts bleibt bestehen. Von daher endet die Autobiographie mit den folgenden Worten: „Die Wahrheit ist, wir sind nicht frei; wir haben erst die Freiheit erreicht, frei zu sein, das Recht, nicht unterdrückt zu werden. Wir haben nicht den letzten Schritt unserer Wanderung getan, sondern den ersten Schritt auf einem längeren, noch schwierigeren Weg. Denn um frei zu sein, genügt es nicht, nur einfach die Ketten abzuwerfen, sondern man muss so leben, dass man die Freiheit des anderen respektiert und fördert. Die wahre Prüfung für unsere Hingabe an die Freiheit hat gerade erst begonnen. Ich bin jenen langen Weg zur Freiheit gegangen. Ich habe mich bemüht, nicht zu straucheln; ich habe während des Weges Fehltritte getan. Doch ich habe das Geheimnis entdeckt, dass man nach Besteigen eines großen Berges feststellt, dass rings viele weitere Berge zu besteigen sind. Ich habe hier für einen Augenblick eine Rast eingelegt, um einen Blick auf die gloreiche Aussicht um mich herum zu werfen, um auf die Wegstrecke zurückzuschauen, die ich heraufgekommen bin. Doch ich kann nur für einen Augenblick rasten, denn mit der Freiheit stellen sich Verantwortungen ein, und ich wage nicht zu verweilen, denn mein langer Weg ist noch nicht zu Ende.“[60]

Dreizehntes Kapitel: Der Tod und die Auferstehung Steve Bikos

Zum Tod Steve Bikos (September 1977) erinnerte Erzbischof Desmond Tutu daran, dass vor beinahe zweitausend Jahren ein junger Mann wie ein gewöhnlicher Verbrecher außerhalb einer Stadt an ein Kreuz geschlagen worden sei, verspottet und verhöhnt. Dieser Mensch sei gekommen, die frohe Botschaft von der Liebe Gottes für alle seine Kinder zu verkünden. Gesandt sei er, den Elenden zu predigen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden; zu versprechen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen die Hoffnung, Trost den Traurigen. Der Träger des Friedensnobelpreises Tutu rief damals zur großen Befreiung auf. Gott habe sich an die Seite der Elenden und Unterdrückten gestellt, Partei ergriffen gegen die Unterdrücker. Angesprochen wurde von Tutu Gott als Befreier der Armen und Ausgebeuteten. Mit der Tötung des jungen Steve Biko verband der Bischof seinen Wunsch nach der Überwindung von Hass und Bosheit, nach der gewaltfreien Herrschaft von Liebe und Güte. Der junge Schwarze Steve Biko habe sich der Verwirklichung von Gerechtigkeit und Recht, von Frieden und Versöhnung verschrieben. Der Gründer der Black- Consciousness-Bewegung hatte die schwarzen Menschen dazu aufgerufen, auf ihrer Menschlichkeit und Persönlichkeit zu bestehen und aus ihrem Eigensein heraus die wahre Versöhnung zu wagen – entgegen jeder legalen Gewalt. Steve Bikos Tod zeige, dass die Mächte der Ungerechtigkeit, der Unterdrückung und Ausbeutung ihre Macht verlören. Mit Gott, dem der Gerechtigkeit und Befreiung, werde das Unrechtssystem der Apartheid überwunden hin auf das gemeinsame aufrechte Gehen von Schwarz und Weiß. „Wir erleben die Geburtswehen eines neuen Südafrikas, eines freien Südafrikas, wo wir alle, Schwarz und Weiß gemeinsam, aufrecht gehen werden, wo wir alle, Schwarz und Weiß zusammen, uns bei den Händen halten werden, während wir auf unserem Freiheitsmarsch vorwärts schreiten, um ein neues Südafrika herbeizuführen, in dem Menschen etwas bedeuten, weil sie menschliche Wesen sind, geschaffen nach dem Ebenbild Gottes. Wir loben und preisen Gott dafür, dass er uns eine so köstliche Gabe in Steve Biko gegönnt hat; um seinetwillen und um unseretwillen, Schwarzen und Weißen, um unserer Kinder Willen, Schwarz und Weiß zusammen, wollen wir uns erneut dem Kampf für die Befreiung unseres geliebten Landes weihen. Lasst uns alle, Schwarz und Weiß zusammen, nicht von Mutlosigkeit und Verzweiflung überwältigt werden. Lasst uns Schwarze nicht von Hass und Bitterkeit übermannt werden, denn wir alle, Schwarz und Weiß gemeinsam, werden siegen; nein, wir haben in der Tat bereits gesiegt.“[61]

Mit diesen Worten ist die Befreiung zur Versöhnung aufgebrochen.

Schluss

Und ich richtete meine Aufmerksamkeit auf all dies, was Menschen, die das Christentum bekennen, tun und ein Entsetzen packte mich.

(Leo Tolstoi, Meine Beichte, Düsseldorf / Köln 1978, S. 125).


[1]Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl. München 1997, S. 250

[2]Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 2, Heidelberg 1993, S. 444

[3]s. J. B. Hirschmann, Kann atomare Verteidigung sittlich gerechtfertigt sein?, in: Stimmen der Zeit 162 (1957/58), S. 284 ff.

[4]Radbruch, Rechtsphilosophische Tagesfragen, Baden-Baden 2004, S. 58

[5]Otfried Höffe, Normative Modernisierung in der einen Welt mit Recht auf Differenz, in: Hans Küng / Dieter Senghaas (Hrsg.) Friedenspolitik. Ethische Grundlagen internationaler Beziehungen, München 2000, S. 145 ff.

[6]Arnold Köpcke-Duttler, Menschheits-Kultur, Frankfurt 1983

[7]Höffe, Normative Modernisierung in der einen Welt mit Recht auf Differenz, a.a.O., S. 153; s. a. Hans Küng, Weltpolitik und Weltethos, in: Friedenspolitik, a.a.O., S. 17 ff.; S. 56 ff. („Welche neue Weltordnung?“)

[8]s. Joachim Dabisch (Hrsg.) Das Menschenrecht auf Bildung für alle, Oldenburg 2004

[9]Arno Gruen, „Ich will eine Welt ohne Kriege“, Stuttgart 2006, S. 105

[10]s. Horst Bürkle, Dialog mit dem Osten, Stuttgart 1965, S. 174 f.; s. Otto Wolff, Mahatma und Christus, Berlin 1955 und ders., Indiens Beitrag zum neuen Menschenbild, Hamburg 1957

[11]Sigrid Grabner, Mahatma Gandhi, Frankfurt / Berlin 1992, S. 63

[12]Lew Tolstoi, Tagebücher, Dritter Band 1902-1910, Berlin 1978, S. 234; zu Tolstois Kritik des Staates s. Erwin Oberländer, Tolstoj und die revolutionäre Bewegung, München/Salzburg 1965, S. 27 ff.: christlich-anarchistischer Ungehorsam

[13]Lew Tolstoi, Tagebücher, Dritter Band 1902-1910, a.a.O. S. 304; s. Tolstoi, Die Mühseligen und Beladenen, in: ders., Das neue Alphabet. Russische Lesebücher, Berlin 1982, S. 415 ff.

[14]Karl Heim, Tolstoi und Jesus, 2. Aufl. Berlin 1922, S. 10

[15]Tolstoi, Der Lebensweg, Leipzig 1912, S. 218; s. Arnold Köpcke-Duttler, Leo Tolstoi, in: Franziskanische Studien 1980, S. 282 ff.

[16]Martin Arnold, ... immer noch von Gandhi lernen?, in: gewaltfreie aktion, Heft 141/142, 4. Quartal 2004 + 1. Quartal 2005, S. 11 („force wich is born of truth and love“)

[17]Jürgen Habermas, Bemerkungen zu Erhard Denningers Trias von Vielfalt, Sicherheit und Solidarität, in: Johannes Bizer / Hans-Joachim Koch (Hrsg.), Sicherheit, Vielfalt, Solidarität. Ein neues Paradigma des Verfassungsrechts?, Baden-Baden 1998, S. 118

[18]Rainer Hörig, Auf Gandhis Spuren, München 1995, S. 133

[19]Vanamali Gunturu, Mahatma Gandhi, München 1999, S. 314; s. Arnold Köpcke-Duttler, Von der Zerbrechlichkeit der Hoffnung, Würzburg 1984, S. 79 ff. (Spiritueller Sozialismus. Gandhis Kritik des Industrialismus)

[20]Hörig, Indien ist anders, Reinbek 1987, S. 34; S. 112 f.

[21]s. Henry David Thoreau, Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat, Zürich 1967; s. Gandhi, Socialism of My Conception, Bombay 1957

[22]Sigrid Grabner, Mahatma Gandhi, a.a.O. S. 54. – Näher werden die Erfahrungen des Unrechts von Gandhi selber in seiner Autobiographie geschildert (Eine Autobiographie oder Die Geschichte meine Experimente mit der Wahrheit, 7. Aufl. Gladenbach 2001).

[23]s. Hildegard Goss-Mayr, Der Mensch vor dem Unrecht. Spiritualität und Praxis gewaltloser Befreiung, 3. Aufl. Wien 1978

[24]s. Bertrand Russell, Moral und Politik, Frankfurt 1988: Der Mensch, Doppelwesen aus Gott und Tier, sei fähig der Liebe, des Mitleids für das ganze Menschengeschlecht

[25]s. The Collected Essays, Journalism and Letters of George Orwell, Vol. 4, London 1970, S. 523

[26]Dietmar Rothermund, Mahatma Gandhi, München 2003, S. 18 ff.

[27]s. Arnold Köpcke-Duttler, Ziviler Ungehorsam. Menschenrechtliches Aufbegehren im Rechtsstaat, in: Wissenschaft und Frieden, Heft 3/2004, S. 31 - 34

[28]Rothermund, Mahatma Gandhi, a.a.O. S. 27

[29]Fragen des Rechtsstaatsbezugs „anwaltlicher Tätigkeit“, der „freien Advokatur“, die staatliche Kontrolle und Bevormundung prinzipiell ausschließt, Gefährdungen des Rechts durch eine unbedingte Indentifizierung des Rechtsanwalts mit dem Mandanten, schließlich das Recht gefährdende Umwälzungen auf dem „Rechtsberatungsmarkt“ erörtert heute Reinhard Gaier, Berufsrechtliche Perspektiven der Anwaltstätigkeit unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten, in: BRAK-Mitteilungen, Heft 1/2006, S. 2 ff.

[30]The Collected Works of Mahatma Gandhi VIII, S. 173; s. Peter Kern/Hans-Georg Wittig, Der sokratische Weg aus der Gefahr, in: Detlef  Horster / Dieter Krohn (Hrsg.), Vernunft, Ethik, Politik. Gustav Heckmann zum 85. Geburtstag, Hannover 1983, S. 137

[31]Sunit B. Kher, Introduction, in: M. K. Gandhi, The Law and the Lawyers, Ahmedabad 1962, p. IV

[32]ebd. p. VI

[33]Polak, Brailsford and Lord Pephick-Lawrence, Mahatma Gandhi, p. 78

[34]s. James J. Cavanagh, The lawyer in society

[35]Gandhi, Eine Autobiographie, a.a.O. S. 122, s. Rothermund, Mahatma Gandhi, a.a.O., S. 18 ff. (Der Kuli-Anwalt)

[36]  s. Britta Redmann, Mediation, Frankfurt 2003; Hanns Prütting (Hrsg.) Außergerichtliche Streitschlichtung, München 2003; Schwab/Walter, Schiedsgerichtsbarkeit, 7. Aufl. München 2005

[37]Mahatma Gandhi, Hind Swaraj or Indian Home Rule, 1908, S. 144. – Ich danke Christian Bartolf und dem Gandhi-Informationszentrum (Berlin) für die Übersendung des Textes.

[38]Gandhi, The Law and the Lawyers, a.a.O., S. 234; s. Fritjof Haft / Katharina Gräfin von Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation, München 2002; Arnold Köpcke-Duttler, Mediation in der Schule, in: Dialogische Erziehung, Heft 2/99, S. 38 – 43. – In Marktbreit (Unterfranken) habe ich im übrigen als Rechtsanwalt ein „Institut für Gemeinwesen-Mediation“ gegründet.

[39]s. M. K. Gandhi, Eine Autobiographie oder die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit, a.a.O., S. 347

[40]ebd. S. 393 f.

[41]ebd. S. 295

[42]Die alte englische Anwaltsstruktur garantierte das „adversarial principle“, die Bestimmung des Prozesses durch Parteien. Richter wurden mehr oder weniger passive Prozess-Beobachter (s. Christian Wolff, Maltez v. Lewis – Ein Lehrstück für den deutschen Anwaltsmarkt, in: BRAK-Mitteilungen Heft 1/2006, S. 15 ff.

[43]M. K. Gandhi, The Law and the Lawyers, Ahmedabad 1962, p. XI

[44]s. Harijan, 26.11.1938, S. 351

[45]Harijan, 29.06.1935, S. 165

[46]s. Arnold Köpcke-Duttler, Wege des Friedens, Würzburg 1986; s. E. S. Reddy, Gandhi und Südafrika, in: Perspektiven Indien, New Delhi 1996, S. 42 – 43 (Ich danke Frau Elfriede Heise aus Kassel für dieses Heft und den Hinweis auf das Mahatma-Gandhi-Haus in Göttingen.)

[47]Gandhi, Eine Autobiographie, a.a.O., S. 286; s. Wolfgang Sternstein (Hrsg.), Mahatma Gandhi, Die Lehre vom Schwert, Oberwil 1990, S. 42 („Überwindung der Furcht“)

[48]ebd. S. 287

[49]Erik H. Erikson, Gandhis Wahrheit, Frankfurt 1978, S. 178

[50]Brief vom 29. Juli 1918, in: The Collected Works of Mahatma Gandhi, XIV, S. 509

[51]Arnold Köpcke-Duttler (Hrsg.), Gandhi – Buber – Tagore, Frankfurt 1989; s. Joan V. Bondurant, Conquest of Violence, Princeton 1988

[52]Nelson Mandela, Der lange Weg zur Freiheit, 7. Aufl. Frankfurt 2003, S. 169

[53]ebd. S. 207

[54]ebd. S. 209

[55]ebd. S. 209

[56]ebd. S. 353

[57]Nelson Mandela, Der lange Weg zur Freiheit, a.a.O., S. 833

[58]Um Pfarrer Martin Arnold herum ist eine „Arbeitsgruppe Gütekraft“ entstanden, die „Seelenkraft“, Gütekraft Gandhis (Satyagraha) zu ergründen.

[59]Mandela, Der lange Weg zur Freiheit, a.a.O., S. 835

[60]ebd. S. 836

[61]  Desmond Tutu, „Gott segne Afrika“, Texte und Predigten des Friedensnobelpreisträgers, Reinbek 1984, S. 88; s. ders. Versöhnung ist unteilbar, Wuppertal 1977; Stephanie Schell-Favcon, Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit in ethnopolitischen Spannungsgebieten: das Beispiel Südafrika, Frankfurt 2004; s. a. Norbert Brieskorn (Hrsg.), Globale Solidarität. Die verschiedenen Kulturen und die Eine Welt, Stuttgart / Berlin / Köln 1997