Erwachsenenbildung

Zur Bedeutung des Konzepts der Erwachsenenbildung von Paulo Freire

von Gottfried Mergner

Die zentrale Frage, die sich Freire in seiner Bildungsarbeit stellt, ist die Frage nach der Würde des Menschen. Worin besteht die Würde jedes einzelnen Menschen? Wie behauptet sie sich? Wodurch ist sie bedroht? John Locke hat gültig für die Aufklärungserziehung geantwortet: die Würde jedes einzelnen Menschen konstituiert sich über sein Handeln. Durch die Einschränkung seiner Handlungsmöglichkeiten wird der Mensch in seiner Würde eingeschränkt. Würde ist nach Locke die vom Subjekt gewollte und verantwortete Veränderung der Welt. Dies setzt das handelnde und handlungsfähige Subjekt voraus, das sich geschichtlich als einmalig und unersetzbar erfährt. Er billigt daher Würde nur dem gebildeten (männlichen) Bürger zu, der genug erzogen und vermögend ist, um aus eigener Verantwortung und aus eigenem Vermögen heraus handeln zu können. Locke sieht die Würde des Menschen vor allem durch den Menschen selbst bedroht. Erziehung soll diese Bedrohung abwehren. Dazu erklärt er das Eigentum des Bürgers als unverletzbar und bindet damit die Würde des Menschen an die (männlich strukturierte) Klassengesellschaft des aufkommenden Kapitalismus. Für die Armen bleiben so nur sehr eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten, nämlich sich nutzen, verwenden zu lassen. Die lernmethodische Basis der Nützlichkeit der Armen sah John Locke in der Erfindung des Zucht-hauses. Die Rechtfertigung von Zuchthaus oder Armenfürsorge oder die Vernichtung nutzlosen Lebens war die politisch Konsequenz dieser bürgerlichen Philosophie der menschlichen Würde. Doch Locke legte mit seinen Überlegungen die Grundlagen für die (bürgerliche) Subjekterziehung bis heute.

Die sozialistischen Gegenkonzepte beschränkten sich zum großen Teil auf einem abgeleiteten Begriff von Würde: In einer gerechten, ausbeutungsfreien Gesellschaft löse sich das Problem der Würde des Subjekts „von selbst". Alle Menschen würden in einer solchen Gesellschaft gemeinsam „vernünftig" denken und handeln. Bis sie erreicht ist, fuße die Würde des einzelnen Menschen auf dem kollektiven Wider-standsrecht der unterdrückten und ausgebeuteten Klasse. Dieses Recht verwirkliche sich in der Ver-nunft der Revolution, die durch die wissenschaftlich geschulten Führer und die richtige Partei formuliert werde.

Der „reale" Sozialismus hat die Konsequenzen dieses Konzeptes durch die Entmündigung gerade des „gewöhnlichen" Volkes, durch die Schaffung von Vernichtungslagern, monströsen staatlichen Überwachungsinstitutionen und durch die permanente Produktion einer würdelosen Passivität der Be-herrschten „realisiert". Das absehbare Scheitern des „realen" Sozialismus als Befreiungskonzept (das dem Scheitern als politisches-ökonomisches System vorausging) und der tödliche Siegeslauf des bürgerlich- kapitalistischen Prinzips stellten mit den antikolonialen Befreiungsbewegungen die Frage nach der Würde des Menschen neu. Sozial engagierte Erwachsenenbildner - wie Paulo Freire - suchten nach einer Verbindung von sozialer Umstrukturierung der Gesellschaft mit der subjektiven, emanzipatorische Handlungsfähigkeit der Elenden und Unterdrückten. Die Verbindung der Kritik an der bürgerlich-kapitalistischen Realität und an den realisierten Konzepten der verschiedenen, autoritären Sozialismen hatte sich über die Armutsbewegungen, antirassistischen Bewegungen (zum Beispiel in den USA) und kolonialen Befreiungsbewegungen konkret hergestellt und politisch organisiert. Über die weltweiten intellektuellen Jugendbewegungen der 60er Jahre hat sich diese Kritik auch philosophisch, bildungspolitisch und handlungstheoretisch artikuliert. Hierbei wurde die (bürgerliche) Frage nach der Würde des Subjekts neu aufgeworfen und verband sich mit der Suche nach neuen handlungs-orientierten Bildungskonzepten. In diesen historischen Zusammenhang ist das Denken und Handeln Paulo Freires einzuordnen. Wie John Locke verbindet auch Freire die Würde des Einzelnen mit der jeweiligen Handlungsfähig-keit des Subjekts. Handeln ist - wie bei dem Bürger John Locke - die Fähigkeit, auf die Welt einzuwirken, in die das Subjekt hineingeboren wird. Anders aber als John Locke fragt Freire nach den gesellschaftlichen Gründen der subjektiven Handlungsunfähigkeit. Die bürgerlichen Aufklärer sahen die Gründe für die Handlungsunfähigkeit des Einzelnen in seinem Beharren auf den ungebildeten (rohen) Trieben und der tierhaften, angeborenen Unmoral. Dank der Erziehung durch den Vater (oder des in seinem Auftrag tätig werdenden Lehrers) wird das an Gehorsam gewohnte kindliche tierische Wesen zum mündigen Bürger erhoben. Das bürgerliche Schulsystem diente später dieser Höherzüchtung zum Bürger und der Selektion derer, die das Klassenziel nicht erreichen konnten.

Paulo Freire sieht dagegen die Ursachen für die Handlungsunfähigkeit des Einzelnen und von Gruppen in der Beschränkung der Handlungsmöglichkeiten durch die herrschenden Verhältnisse. Diese führen zu einem reduzierten Bewußtsein. Denn Armut, Unterdrückung und Ausbeutung erzwingen Handlungsstrategien und Denkgewohnheiten, die nur dem reinen Überleben dienen. Dies macht den Einzelnen zum passiven Dulder oder zum opportunistischen Mittäter an Unterdrückung und Ausbeutung. Der Einzelne gerät durch die ungerechten, ausbeuterischen sozialen Gegenbenheiten in einen aussichtslosen Kreislauf von Überlebensanstrengungen und aufgezwungener Deformation seines Lebens und seiner Lebenskonzepte.

Nur über die Erkenntnis dieses Zusammenhangs - den der eigenen Lebensumstände mit der durch sie erzeugten Deformation des Denkens - kann Handlungsfähigkeit wieder hergestellt werden. Dies gelingt dem Subjekt aber auch nicht, solange es versucht, sich allein und isoliert zu entwickeln. Nur im Kollektiv der Gleichbetroffenen kann der Einzelne befreiendes Denken und Handlungsfähigkeit erlernen. Daher ist die Bildung der Handlungsfähigkeit des Subjekts bei Freire von Anfang an politisch.

Freire sieht aber auch in den Alltagserfahrungen der Elenden Lernmöglichkeiten, wenn sie den Einzelnen nur bewußt werden. Der Einzelne erfährt nämlich in seiner elenden Lebenslage und seinem „schlauen" Alltagshandeln wichtige Prinzipien und Normen, die - unter der Perspektive der sozialen Veränderung - sein Lernen herausfordern und orientieren können:

  • Sie/er erfährt in ihrem/seinem Alltag immer wieder die Einheit von Denken und Arbeiten, von Lernen und Handeln.
  • Sie/er erfährt ihre/seine Lebenswelt im Guten und im Schlechten als eine soziale Umgebung und daher sich selbst als verbunden mit und abhängig von anderen Menschen.
  • Sie/er erfährt in ihrem/seinem Bemühen um Überleben den engen Zusammenhang von sozialem Elend, politischer Unterdrückung und eigener Unfreiheit.

Alle diese Erfahrungen gilt es in angeleiteten Lernprozessen bewußt zu machen, in ihnen wertvolle Lernmöglichkeiten zu erkennen und sie zu gemeinsamen Handlungsperspektiven mit dem Ziel der Verbesserung der eigenen und der gemeinschaftlichen Situation weiterzuentwickeln. Neugierde auf sich selbst, Stolz auf die eigenen Erfahrungen und selbstbewußte Kommunikation mit Gleich-betroffenen sind latent vorhandene Lernpotentiale, die es in der Erwachsenenbildung zu aktivieren gilt.

Auf dieser Einsicht beruhen die Methoden Freires: zum Beispiel die partizipatorische Erforschung der Lebensver-hältnisse; das Finden und die Weiterentwicklung von generativen Themen; die Alphabetisierung in der Muttersprache, die Nachalphabetisierung in der Dominanzsprache; der Dialog als Prinzip. Umstritten und offen in seinem Konzept bleibt jedoch die Frage nach der Auflösung der Spannungen und Interessensgegensätze zwischen den Subjekten und dem Kollektiv. Denn wenn das Subjekt erst dann zu seiner Würde kommt, wenn es seine Welt, in die es hineingeboren wurde, selbst handelnd gestalten und verändern kann, dann kann es keine gemeinsame Vernunft v o r dem gemeinsamen Handeln geben. Vernünftige, das heißt alle Subjekte soweit wie möglich befriedigende und befreiende Problemlösungen, können daher nur das Ergebnis von Kommunikation sein - einer Kommunikation, die sich vor, während und in Nacharbeit des Prozesses des gemeinsamen Handelns entwickeln und bewahren muß. Doch Kommunikation ist nur dann Kommunikation, wenn die Möglichkeiten des Dissenses, der Abweichung, ja des Scheiterns eines gemeinsamen, einvernehmlichen Handelns offen bleiben können.

In diesem Punkte bleibt Freire unklar. Er verdunkelt das Problem mit dem Pathos der Beschwörung von „Volk" und „Volksführung" und der in der Armut liegenden einigenden Kräfte. War das aufbrechende Böse in Angola, Uganda noch als das Ergebnis der Wirksamkeit internationaler Kräfte des Neoimperialismus zu deuten, so war der Verfall der nachrevolutionären Regierungsautorität in Tansania, Zimbabwe, Namibia, die Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien und das Morden im Sudan, in Somalia und Ruanda nicht mehr so leicht auf die globale Dichotomie von arm und reich, von Herrschenden und Unterdrückten allein zu reduzieren. Auch die immer wieder aufbrechenden Fragen nach Hitlers gehorsamen Tätern in Deutschland und nach den vielen freiwilligen Mitarbeitern für den Staatssicherheitsdienst der DDR, die Frage, warum aus dem Ruf während der Montagsdemonstrationen „Wir sind das Volk" bruchlos der Ruf wurde „Deutschland den Deutschen", stellt Fragen an emanzipatorische Bildungskonzeptionen - und auch an die von Paulo Freire. Die Bildungstheorie von Paulo Freire und ihre Rezeption muß sich daher am Problem des Scheiterns von Lernen im sozialen Kontext theoretisch und praktisch bewähren.

Jedoch muß festgestellt werden: Theoretiker und Praktiker der Erwachsenenbildung in aller Welt haben von den Schriften, Gedanken und Konzepten von Paulo Freire produktive und weiterführende Aspekte zu vielen Fragen der Erwachsenenbildung bekommen. Ich will hier nur einige Namen aus meinem Diskussionszusammenhang - stellvertretend für eine große Zahl weiterer möglicher und wichtiger Namen - nennen:

Der verstorbene Ernest Jouhy (BRD), Mzobanzi M. Mboya (Süd-Afrika), Neville Alexander (Süd-Afrika), Akundaeli Mbise (Tansania), Rogate R. Mshana (Tansania), Volker Lenhart (BRD). Sie wur-den - wie viele andere - vom Werk und Denken Paulo Freires beeinflußt und über ihn in einen weltweiten Diskussionszusammenhang gebracht. Doch die Diskussion und das Nachdenken - gerade über die Frage nach dem Verhältnis von Einzelinteressen und Gemeinschaftsinteressen - wird weiter- gehen müssen. Dazu wird eine kritische Lektüre der Werke Paulo Freires wichtig bleiben.

Zur Diskussion um die Konzeption Paulo Freires heute

Ernest Jouhy hat 1983 seinen wichtigen Essay „Ethnozentrismus und Egozentrismus - zur kollektiven und individuellen Verinnerlichung von Werten" im Jahrbuch Pädagogik: Dritte Welt (Frankfurt/M.) veröffentlicht. In diesem Essay stellte er ein Konzept vor, das richtungsweisend für die Diskussionen innerhalb der Kommission Bildungsforschung mit der Dritten Welt in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) werden sollte. Es ist das Konzept des kritischen Eth-nozentrismus. In ihm sehe ich eine Brücke zu Freire in den oben aufgeworfenen Fragen. Zusammengefaßt beinhaltet das Konzept folgenden Gedanken: Erst über den Erwerb von reflektivem Selbstvertrauen wird der Einzelne mit dem Anderen (dem Fremden) kommunikationsfähig. Selbstvertrauen gewinnt der Einzelne in einem dialektischen Prozeß: durch Erwerb von Selbst-Bewußtsein (kritische Selbstreflektion) und durch die Erfahrung von personaler Bedeutung (Liebesfähigkeit). Diese Dialektik verbindet Lebenserfahrung mit Lernbereitschaft und Lerninteresse im Subjekt.

Im gleichen Heft veröffentlicht Jouhy einen Artikel über Freire. Er erinnert darin an die Diskussionen wahrend eines Besuches Freires in Frankfurt im Jahre 1978, die unter anderem zur Dissertation seines Schülers H.-P. Gerhardt geführt habe. Seit diesen Diskussionen habe er, Ernest Jouhy, an Freire drei Fragen:

„Die erste Frage betraf das Zentralthema des Freireschen Denkens: Wie drücken sich konkret faßlich die Widersprüche der sozialpolitischen Existenz der Abhängigen in der Dritten Welt in ihrem Bewußtsein aus? Die zweite schloß sich daran an: Genügt es, die objektiven Widersprüche, die latent im Bewußtsein der Abhängigen sich abbilden, über ‘Bewußtseinsbildung’ den Betroffenen zu verdeutlichen, um sie zu aktiven Gestaltern ihres Schicksals zu machen? Oder anders ausgedrückt: Liegt - gleichsam verborgen - im ‘Wesen’ der Unterdrückten, d. h. in ihrer wirklichen Existenz und Erfahrung schon ihre zukünftige, befreite Existenz als Anlage, die nur entfaltet werden braucht? Und hieraus ergab sich die dritte Frage: Beinhaltet das von der ‘Kultur des Schweigens’ befreite Bewußtsein in erster Linie Klarheit über das Verhältnis ‘Herr und Knecht’; also Kultur des herrschenden industriellen Imperialismus versus Volkskultur der abhängigen Völker? Oder bedarf das sich befreiende Bewußtsein nicht gerade des gesamten Erbes der wissenschaftlich-technischen Kultur der ‘Herren’; muß also Bewußtseinsbildung nicht gerade in der kritischen Aneignung der wissenschaftlichen, technischen, politischen, sozialen Ergebnisse der Kultur bestehen, die die Volkskulturen imperialistisch beherrscht und ausgebeutet hat?" (S. 207 f.)

Durch einen Zusammenschnitt verschiedener in Zeitschriften veröffentlichter Interviews versucht das Team um Jouhy für den genannten Artikel die Antworten Freire „abzuzwingen" - ohne daß die „Frankfurter" die Gelegenheit gehabt hatten, Freire die Fragen selbst vorzulegen. Deutlich wird, daß Freire diese Fragen - wenigsten in den abgedruckten Texten - nicht im Sinne Jouhys beantwortet. Es sind ja auch nicht seine Fragen, sondern die Fragen des Ernest Jouhy, die dieser dann selbst in den letzten Jahren seines Lebens zu beantworten gesucht hat.

Trotzdem hat Jouhy wichtige Fragen gestellt, die die Diskussion um die Wirksamkeit Freires weiterbringen können. Der Text verweist auf die pädagogisch-methodische Bedeutung und auch auf die Begrenzung von Freire hin. Ich zitiere daher aus den „Antworten" Freires - ohne Überprüfung der Originalquellen - aus dem von Jouhy und seinem Team zusammengestellten Text.

Auf die Frage nach der Kultur des Schweigens führt Freire aus: „Es stellt sich dann auch die Aufgabe des Pädagogen dar, der mit dem Volk arbeitet, um ihm zu helfen, das zu systematisieren, was es schon weiß. Das Volk weiß, weil es Praxis hat, arbeitet und verändert ..." (S. 209). Auf die Frage nach der Möglichkeit, die Zirkularität des Denkens bei den Lernenden zu überwinden, erinnert Freire an seinen Begriff der „unerprobten Möglichkeit" aus seinem Buch „Pädagogik der Unterdrückten": „Die Durchführung der ‘unerprobten Möglichkeit’; die die Überwindung der ‘Grenzsituation’ erfordert - sie wird durch die konkrete Situation, in der wir unabhängig von unserem Bewußtsein leben, geschaffen - , kann nur durch die Praxis erfolgen" (S. 211)

Auf die Frage nach einer emanzipatorischen Sprachpolitik antwortet Freire - nachdem er von seinen Erfahrungen mit den verschiedenen Sprachstrategien bei der Alphabetisierung in Guinea-Bissau („Erfahrungen verpflanzt man nicht, man schafft sie neu.") berichtet hat: „Es ist das Problem der Sprache, das Problem der Ausdrucksweise und insofern der Struktur des Denkens. Ich bin absolut davon überzeugt, daß ein Volk seine Freiheit in dem Maße erobert, in dem es sein Wort wiedererobert, d .h. seine Sprache, seine Art, sich und seine Welt auszudrücken, seine Art zu sein, seine Art zu denken" (S. 214). (Freire verwendet hier den emphatischen Volksbegriff der antikolonialen Befreiungsarmeen, der mir inzwischen den kalten Schauer über den Rücken jagt.)

Und zum Schluß noch ein Zitat zum Arbeitsbegriff von Freire, der implizit die Frage nach den techni-schen Errungenschaften beantwortet: „Die Frage ist, wie Arbeiten und Lernen so gekoppelt sein können, daß wir weder arbeiten, um zu lernen, noch zu lernen um zu arbeiten, sondern, daß wir lernen, indem wir arbeiten (...). Es geht darum, den Kindern klarzumachen, daß Arbeit, daß Beherrschung und Verwandlung der Realität sie zu Menschen macht. Menschen haben im Akt des Verwandelns der objektiven Realität denken gelernt" (S. 216).

Ich habe die Fragen Jouhys und die (zitierten) Antworten Freires mit der Absicht gegenübergestellt, damit ein offener Dialog entsteht - ohne daß sich eine völlige Entsprechung ergibt: Deutlich wird da-durch, daß der antwortende Freire vom fragenden Jouhy - ich denke mit Recht - auf eine philosophisch und politisch begründete Didaktik begrenzt wird, die noch nicht in der Lage ist, die Dialektik von Revolution und System zu analysieren. Dabei wird deutlich, daß für Jouhy - und dem stimme ich zu - Freires Bedeutung in der Begründung, Begleitung und Ausgestaltung von Lernprozessen von Konfliktgruppen liegt. Der brutalen Realität des globalen, geschichtlichen Prozesses setzt er den Hinweis auf die existierende Vielfalt von Lernfeldern und lernenden Gruppen entgegen.

Seine Botschaft ist: Solange es lernfähige und lernwillige Menschen gibt, sind die negativen Globalanalysen der zunehmenden Verelendung der Welt unvollständig. Solange sozial engagierte Pädagogen selbst verschuldete, selbst verursachte Lernverhinderungen identifizieren können und müssen, ist philosophischer Pessimismus und politische Resignation ein Ausdruck von Bequemlichkeit und Denkfaulheit. Damit beharrt er in seinen politischen Analysen auf dem Prinzip Hoffnung - ohne zum politischen Strategen werden zu können.

Die kritische Rezeption der Schriften Paulo Freires erbringt vielfältige Ansätze und Konzepte für die methodische Selbstkritik und für die Sensibilisierung für real existierende Lernpotentiale bei den verelendeten und ausgebeuteten Menschen. Dies ist heute, wo es leicht ist, sich pessimistischen Globalanalysen anzuschließen, von großer wissenschaftlicher und politischer Bedeutung. Für die pädagogischen Enkel Freires ist sein Hinweis auf die Lernpotentiale, die in der konkreten Praxis und Erfahrung liegen, von methodischer und wissenschaftspolitischer Wichtigkeit. Sie können sein Erbe aber nur antreten, wenn sie die Frage nach der politischen Solidarität und den Widersprüchen zwischen den Subjekten und dem Kollektiven heute neu stellen und neue Antworten finden.

Siehe dazu auch: