Kinder der Straße in Ecuador

von Dieter Wolfer

Ganze Familien leben in der Neustadt Quitos auf der Straße; sie betteln, essen und schlafen dort wie überall in Lateinamerika. Kinder und Jugendliche springen auf Busse auf, verkaufen Kaugummis, Zigaretten und colas, Limo in Plastiktüten mit Strohhalm; andere singen und bitten um etwas Geld. Mädchen und Jungen arbeiten auf den Märkten der Städte; andere putzen Schuhe für ein paar centavos. Auch nachts sehen wir Kinder: In Bars und Straßencafés treffen wir sie; manche betteln, andere müssen sich prostituieren. Immer mehr Kinder aus Kolumbien sind im grenznahen Ecuador anzutreffen.

Eine kleine Wohngruppe im Hochland Ecuadors gibt alleingelassenen Mädchen und Jungen ein Zuhause. Bei klarer Sicht kann man die Vulkane sehen z.B. den Cotopaxi. Das Heim gründete sich 1989, seit 1992 kommen Gelder aus Deutschland. Die Erzieher Roberto Altamirano und die Erzieherin Anita Constante bauten aus einer alten Hühnerlebebatterie ihre erste Wohngruppe und machten mit den ersten Kindern, deren Eltern im Gefängnis einsaßen, das Land urbar. Ab 1994 begannen sie ein berufsbegleitendes Studium: „educador/a de la calle”.

Trotz der Gefährdungen eines Lebens auf der Straße: Kinder und Jugendliche lernen sehr viel im Feld Straße oder haben viel beim Straßenleben gelernt. Manche sind „allein gelassen”, sind aber auch sehr selbständig geworden. Die Straße bietet Platz dafür, sich aufzuhalten und auszutoben, sich zu treffen, Spaß zu haben – dort ist was los. Kinder und Jugendliche erfahren und erleben Konflikte und Reibungen mit der Erwachsenenwelt und suchen förmlich diese Konflikte. Erfahrungen und Grenzerfahrungen entwickeln ihr Sozialverhalten. Freundschaften sind in den jeweiligen Jugendsubkulturen von großer Bedeutung, sie prägen das Verhalten des Einzelnen mit, formen das Individuum und bieten speziell auf den Straßen die Möglichkeit Gruppen und Freundschaften zu wechseln, verschiedenste Erfahrungen in verschiedenen Gruppen zu machen, z.B. Liebe und Zärtlichkeit zu entdecken, Abenteuer zu erleben oder Erfahrungen im Umgang mit legalen bzw. illegalen Drogen zu machen. Die Straße ist also, trotz negativer und gefährdender Einwirkungen, ein immenser Lern- und Erfahrungsraum. Diese Sichtweise ist Ausgangspunkt einer positiven und fördernden Begleitung von Jungen und Mädchen.

Straßen- und Heimerzieher sind Begleiter und Vermittler

Im folgenden möchte ich die Ansätze dieser Ausbildung bei CECAFEC vorstellen; Der starke Bezug auf die Ausführungen von Paulo Freire sind unverkennbar. Zudem sind die Ansätze einer akzeptierenden Jugendarbeit, wie wir sie aus der Straßensozialarbeit her kennen einbezogen.

Während die Straßenpädagogik akzeptierende und parteiliche Ansätze zeigt, scheint eine klassische Heim- und Wohngruppenarbeit durch ihre Verpflichtung, Kinder und Jugendliche zu erziehen, zu betreuen oder in Obhut zu nehmen, noch weit entfernt von partizipativen Ansätzen und Ideen. Dennoch, gerade in Wohngruppen stehen die Akteure in engem familienähnlichem Verhältnis, sie übernehmen Erziehungsverantwortung . Demzufolge können wir auch von einer „be-elternden“ Beziehungsarbeit der Erzieherinnen und Erzieher sprechen. Gerade im Bereich der Wohngruppenarbeit wird ein neuer Typus des Erziehers gefordert: Erzieherinnen oder Erzieher, die begleiten, unterstützen, bilden und vermitteln.

Diese Ansätze lassen die Kinder nicht alleine, sie zielen vielmehr darauf ab, dass Mädchen und Jungen sich selbst erziehen dürfen. Sie werden begleitet, beraten und unterstützt den Weg in ein eigenverantwortliches und zukunftorientiertes Leben zu finden.

Begleiter als Vermittler – Educador Mediador

Auf der einen Seite nimmt sich die oder der Vermittelnde als parteiliche und politische Begleitung der Kinder wahr. Wichtig ist die eigene Persönlichkeit in ihrer Authentizität, die geprägt wird durch eigene Erfahrungen und Erlebnisse sowie die eigene soziale und kulturelle Stellung, umrahmt von bestimmten Bedingungen, die wiederum die eigene Professionalität und die angeeigneten Methoden ausmachen.

Ein harmonisches Team mit humorvollen Persönlichkeiten stellt die Grundvoraussetzungen für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen dar. Dies gilt zudem besonders bei der Arbeit mit Mädchen und Jungen, die negative Erlebnisse in ihrer Sozialisation aufweisen. Hierbei stehen Animation, Unterstützung, Begleitung und Beratung in lebenspraktischen Fragen im Vordergrund. Es wird davon ausgegangen, dass Jungen und Mädchen, die alleine gelassen wurden, Misshandlungs-, Missbrauchs- und Vernachlässigungserfahrungen gemacht haben und deshalb ein auffälliges bzw. apathisches Verhalten zeigen. Sie bedürfen besonders einer intensiv lobenden und ständig fördernden Begleitung. Es darf nicht vergessen werden, dass gerade diese Jungen und Mädchen negative Erfahrungen in ihren Beziehungen zu Erwachsenen gemacht haben.

An erster Stelle werden also Stärken betont und erst an zweiter Stelle werden Problemlagen und Defizite lösungsorientiert thematisiert und angegangen.

Die Vermittler versuchen Aufklärungsarbeit zu leisten, den Kindern Hilfestellung bei der Aufarbeitung ihrer eigenen Erfahrungen zu geben, sie in lebenspraktischen Bereichen zu beraten und sie auf ihre Rechte hinzuweisen. Den Kindern wird ihre soziale Stellung verdeutlicht und erklärt, warum sie zu marginalisiert worden sind. Die jeweiligen Subkulturen werden dargestellt und die Erwachsene geben ihre Geschichte weiter. Mitsprachemöglichkeiten werden erprobt, um den Akteuren neben den eigenen Rechten auch die Achtung der Rechte der Anderen vorzuleben und zu verdeutlichen. Hierbei wird eine gleichberechtigte Beziehung der Vermittler zu den Mädchen und Jungen angestrebt; denn Rechte und Pflichten können nicht nur für Minderjährige gelten. Die Rechte der Mädchen und Jungen rücken somit stärker in den Vordergrund als bisher.

Es wird auf das bereits Erlernte, auf die Ressourcen der Kinder und Jugendlichen gesetzt, auf ihre eigenen kreativen Fähigkeiten in verschiedensten Bereichen. Fähigkeiten und Neigungen sollen entdeckt und gefördert werden, um eine Steigerung des Selbstwertgefühls zu bewirken. In diesem Kontext wird Achtung und Selbstachtung vermittelt und in die tägliche Erfahrungs- und Lebenswelt der Mädchen und Jungen einbezogen. Kinder und Jugendliche fühlen sich durch das Erlernen von Mitsprache und Mitgestaltung ernst genommen, gefordert und gefördert.

Die erwachsenen Begleiter und Vermittler erinnern sich an ihre eigenen Entwicklungsphasen, um sich an Erfahrungen zurückzuerinnern oder zurückzufühlen (re-sentir al niñez). Positive Verstärkung, Lob und Wertschätzungsbezeugungen für Fortschritte und faires Verhalten sind dabei von immenser Bedeutung. Klare Grenzen lernen die Kinder in regelmäßigen Gesprächsrunden kennen, durch die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Meinungen und Ansichten, aber auch im Aushandeln von Sanktionen und Rechtfertigung des vermeintlichen Fehlverhaltens sowie der Möglichkeit, Sanktionen auch den Erwachsenen zu erteilen.

Durch langsame Schritte in aktiven und kreativen Projekte fühlen sich die Kinder und Jugendlichen als Akteure, die selbstständig eigene Planungs- und Organisationsformen entwickeln können. Dies steigert ihre Selbstverantwortung, ihr Selbstwertgefühl und ihr Selbstvertrauen. Gleichzeitig werden Forderungen aufgestellt, die einen Wandel in der Gesellschaft, in der Schule, der Sozialarbeit und in der Familie verlangen. Das Verhalten soll sich vom destruktiven Verhalten zum konstruktiven Verhalten wandeln. Es gilt, positive Verstärkung, Lob und Anerkennung anderer zu fördern. Dies bezieht sich gleichwohl auf das soziale Verhalten der Gleichaltrigen untereinander sowie auf den Umgang der Erwachsenen mit Kindern . Vermittelnde Pädagogik.

Mädchen und Jungen werden als selbstverantwortliche Akteure und Alltagsexperten ihrer Lebensrealität verstanden und akzeptiert. Um eine präventive Pädagogik einzuleiten, verstehen sich die Begleiter der Jungen und Mädchen als Moderatoren, als Vermittler in Lebens- und Problemlagen, wobei sie die Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen in die Arbeit mit einbeziehen und ihre Arbeit als parteilich für die Kinder und Jugendlichen verstehen.

Zentraler Ansatz dieser begleitenden, bildenden und vermittelnden Pädagogik ist es,

  • die Jungen und Mädchen grundsätzlich ernst zu nehmen,
  • mit ihnen horizontal und gleichberechtigt umzugehen,
  • ihre Lebenswelt zu akzeptieren,
  • sie in Projekte und Aktionen einzubeziehen, um sie selbst agieren zu lassen,
  • die Ideen und Visionen der Mädchen und Jungen umzusetzen,
  • geeignete Rahmenbedingungen für Betätigungs- und Beteiligungsmöglichkeiten zu schaffen,
  • partizipative und emanzipatorische Strukturen aufzubauen und zu verstärken,
  • aber auch die Grenzen von Verhaltens aufzuzeigen und Folgen darzustellen.

Im Vordergrund der pädagogischen Arbeit stehen in jedem Fall aber die Kinder und Jugendlichen. Die Projektinhalte müssen demgegenüber gegebenenfalls zurücktreten. Gruppendynamische Prozesse gehören deshalb zum vielfältigen Erfahrungsschatz der Gruppe.

Vermittelnde Pädagogik – eine rosarote Wolke?

Es geht in erster Linie nicht darum, Er-fahrungen vorwegzunehmen und Überzeugungsarbeit zu leisten, sondern vielmehr darum, Artikulationshilfen und Alternativen anzubieten, also um das Umlenken von auffälligem, illegalem oder delinquentem Verhalten in legale Verhaltensformen. Eine vermittelnde Pädagogik schützt nicht vor den Gefahren der Straße, sondern macht in horizontaler Weise auf Konsequenzen des eigenen Verhaltens aufmerksam. Diese Vorgehensweise zielt auf eine Schulung des Sozialverhaltens und des Umgangs untereinander ab („el uno y el otro”). Die Meinungen und Äußerungen der Kinder und Jugendlichen werden ernst genommen. Sie sind aktive Akteure und Protagonisten in ihren eigenen Lebensbereichen.

Deshalb müssen Möglichkeiten in lebenspraktischen Bereichen zur Verfügung gestellt werden. Legale Arbeits- und Geldbeschaffungsformen müssen aufgezeigt werden um beispielsweise Alternativen zur Beschaffungskriminalität anzubieten. Allerdings sind bei solchen Modellen immer innovative Finanzquellen notwendig und zu erschließen. Allgemein muss deshalb präventiven Ansätzen wieder mehr Bedeutung zukommen.

Erziehende, bildende, beratende und unterstützende, also vermittelnde oder subjektorientierte Pädagogik soll Priorität erhalten. Erst wenn die Rechte von Kindern und Jugendlichen anerkannt werden, kann die Gewalt gegen Kinder und Jugendliche verringern werden. Etablierte Kinderrechte verschaffen der Meinung von Kindern Gehör, gerade in den Bereichen Jugendarbeit, Familie und Schule.

Partizipation ist ein selbstverständlicher Bestandteil demokratischer Gesellschaften. Gerade dieses Verständnis von den Rechten von Minderheiten oder Kindern und Jugendlichen ist Grundlage demokratischer Organisationsformen. Dennoch haben Kinder oft zu wenig Rechte, z.B.. bei ihre „Inobhutnahme“ mitzubestimmen, Institutionen auszu-suchen, Betreuerinnen und Betreuer auszuwählen, in Institutionen wie der Schule mitzubestimmen oder Wünsche nach Veränderungen zu äußern. Sie können sich aufgrund der Strukturen der Erwachsenenwelt nur bedingt und beschränkt gegen Ungerechtigkeiten, Gewalt, Vernachlässigung, Missbrauch und Misshandlung zur Wehr setzen, da Erwachsenen immer noch wissen.

Die Aufgabe der Vermittelnden ist es, Rahmenbedingungen gemäß den Möglichkeiten, den Bedürfnissen und den Erwartungen der Mädchen und Jungen zu etablieren. Die Aufgabe politischer Institutionen kann überall mit einer ernstgemeinten Demokratisierungskampagne beginnen. Sie muss mit finanziellen Möglichkeiten bei der Erziehung und Bildung sowie bei der Beteiligung an Entscheidungsprozessen von Mädchen und Jungen ansetzen.

Literatur

  • CECAFEC (Hrsg.): El educador: persona y mediador./ J.I. Donoso, Alfredo Astorga [autores], Quito, CECAFEC (Centro Ecua-doriano de Capacitación y Formación de Educadores de la Calle), modulo 1, marzo 1995
  • CECAFEC (Hrsg.) 1996a, El educador: mediador para la actoria del niño. Regina Katz, Gonzalo Barreno [autores], Quito, CECAFEC [Centro Ecuadoriano de Capacitación y Formación de Educadores de la Calle], modulo 4, marzo 1996
  • von Dücker, Uwe (Hrsg.), „Straßenschule” - Straßenkinder in Lateinamerika und Deutschland - ein interkultureller Vergleich aus sozial- und entwicklungspolitischer und methodisch-konzeptioneller Sicht, Frankfurt/M. 1998
  • Freire, Paulo, Pädagogik der Unterdrückten, Bildung als Praxis der Freiheit, Reinbek 1991
  • Fröhlich-Gildhoff, Klaus, Einzelbetreuung - Chancen und Probleme der Beziehungsarbeit mit frühgestörten Jugendlichen, die an der Schwelle gesellschaftlicher Ausgrenzung stehen, in: Zeitschrift für Individualpsychologie, 20. Jg. 1995, S. 301-312
  • ISA [Institut für soziale Arbeit] (Hrsg.), Lebensort Straße - Kinder und Jugendliche in besonderen Problemlagen, Münster 1996
  • Liebel, Manfred, Wir sind die Gegenwart - Kinderarbeit und Kinderbewegungen in Lateinamerika, Frankfurt/M. 1994
  • Liebel, Manfred, Straßenkinder gibt es nicht - Über die verschlungenen Wege einer paternalistischen Metapher, in: Soziale Arbeit 4/2000
  • Pinto, Jacqueline; Constante, Ana Lucia; Altamirano, Patricio; Altamirano, Roberto, Jardín del Edén “Instruye al niño en su camino y cuando fuere viejo no se apartara de el”, Tesis del Proyecto educativo mediator, Quito 1996
  • Rogers, Carl, Die Kraft des Guten, Ein Appell zur Selbstverwirklichung, Frankfurt/M. 1985
  • Steffan, Werner (Hrsg.), Straßensozialarbeit – eine Methode für heiße Praxisfelder, Weinheim u.a. 1989
  • Sweeny-Riethmüller, Barbara, Streetwork in der Nichtseßhaftenhilfe - Entwicklung und Bedeutung, in: Steffan (Hrsg.), 1989
  • Wolfer, Dieter, Ein Leben mit Kindern der Straße – Kulturhistorische Hintergründe und Ursachen im Zusammenhang mit sozialpädagogischen Hilfsmaßnahmen am Beispiel des Kinderheims „Jardín del Edén” in Ecuador, Diplomarbeit, FH Fulda 1997
  • Wolfer, Dieter, Mobile und aufsuchende Jugendsozialarbeit, in: Streetcorner – Zeitschrift für aufsuchende und soziale Arbeit: Nürnberg 1/2000

Dieter Wolfer, Dipl.-Sozialpädagoge
Treberhilfe Dresden e.V. und
Fundación Jardin del Eden/ Ecuador
E-Mail: dwtito@gmx.net