Schule

Dialogisches Lernen in der Schule

  • Dem Bildungsbegriff wird im dialogischen Lernprozess eine situationsbezogene Dimension hinzugefügt. Damit wird der Unterricht auf die Lebens- und Handlungsmöglichkeiten der am Bildungsprozess Beteiligten bezogen.
  • Zum subjektiven Wesen des Menschen gehören die kritische Betrachtung der Wirklichkeit, das Erkennen der Widersprüche und die Möglichkeit des verändernden Handelns.
  • Lernprozesse bleiben grundsätzlich offen und führen weder zu endgültigen, nicht mehr hinterfragbaren Ergebnissen noch zu grundsätzlichen Wahrheiten, sondern begründen Einstellungen und einzelne Wissenselemente der Lernenden.
  • Sie führen weiterhin zu Handlungskompetenzen für kulturelle Aktionen, deren Voraussetzung dialogische Kommunikationsprozesse sind.
  • Das Neubedenken von Lernsituationen beinhaltet eine kritische Bewusstwerdung gesellschaftlicher Zusammenhänge, der Stellung des Einzelnen zur Gemeinschaft und der jeweils individuellen Situation in der Gemeinschaft.

Dialog als grundlegendes Prinzip

von Joachim Dabisch

Für den Verlauf des Unterrichts sind die Beziehungen der Schülerinnen und Schüler zu ihren Lehrerinnen und Lehrern von grundlegender Bedeutung. Die besondere Funktion des Lehrers als Koordinator, Animator oder Arrangeur schulischer Interaktionsprozesse dürfte am deutlichsten beim gemeinsames Herangehen von Lehrern und Schülern an komplexe Themenstellungen sein. Erst dann wird eine Situation der Entfremdung aufgehoben, wenn Schüler und Schülerinnen im schulischen Lernprozeß nicht auf einen Objektstatus reduziert werden. Zudem besteht das Ziel einer demokratischen Erziehung darin, die schöpferische Beziehung eines jeden Menschen zur Welt dermaßen zu gestalten, daß er die vorgefundenen Verhältnisse durchschaut und seine Lebensbedingungen verbessern kann. Entfremdete Lebensumstände halten ihn jedoch oftmals davon ab, seine Umwelt zu humanisieren. Optimismus und Hoffnungslosigkeit wechseln sich bei ihm ab und geben wenig Raum, den Zustand erkannter Ungerechtigkeit zu überwinden.

Paulo Freire hat oft davon gesprochen, wie die jeweils Herrschenden die Manipulierbarkeit der Unterdrückten nutzen und mit Anordnungen oder in der Form von Kommuniqués bestimmen. In der Sprache der Herrschenden findet Kommunikation nur hierarchisch statt und erfüllt einzige den Zweck des Herausstellens von Machtpositionen. Für Freire ist dies das Gegenteil einer dialogischen Kommunikation: der Anti-Dialog. Die Herrschenden betonen ihren Besitzanspruch, ihre Kommandogewalt, ihre Sprachbeherrschung, ihre Kenntnis der Konventionen und Ausdrucksweisen. Zentrale Bedeutung in ihrem Herrschaftsgefüge haben Besitz und Geltung. Der Besitz drückt sich in ihrem finanziellen Vermögen aus, ihre Geltung definiert sich über Bildung. Abweichendes Verhalten oder unpassende Ausdrucksweisen werden von ihnen als jeweils persönliche Defizite herausgestellt und aus ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang gelöst.

Der Dialog hingegen fördert die Suche nach gemeinsamen Lösungsstrategien, er führt zur Selbstreflexion und kritischer Analyse. Im Zusammenhang zwischen Bewußtseinsbildung und politisch handelnder Aktion ist dialogisches Verhalten ein notwendiges Bindeglied. Praxis und Dialog sind dabei für Freire weitgehend identisch. Würde man den Menschen von der Praxis, von der Veränderung der Welt ausschließen, so würde man ihn auch aus der zwischenmenschlichen Kommunikation ausschließen. Die Menschen, denen der Dialog verweigert wird, die zum Schweigen verurteilt sind, werden an ihrem eigenen Handeln, ihrem eigentlichen Menschsein gehindert. Somit gehört das dialogische Verhalten des Menschen zu seinem ursprünglichen Wesen und ist nicht nur auf den Menschen selbst bezogen, sondern auf die gesamte Welt ausgerichtet.

Weil die Sprache dem Menschen ermöglicht, die Welt zu benennen und zu gestalten, kommt ihr eine zentrale Bedeutung zu. Sie ist mehr als ein Mittel zur Kommunikation, vielmehr ermöglicht sie erst eine Verbindung zwischen Reflexion und kultureller Aktion zur Veränderung der menschlichen Umwelt. Die bewußte Reflexion seiner Lebenswelt bedingt somit Handlungen zur Veränderung unterdrückerischer Zustände: „Es gibt kein wirkliches Wort, das nicht gleichzeitig Praxis wäre. Ein wirkliches Wort sagen heißt daher, die Welt verändern" (Freire 1973, S. 71).

Dialog beinhaltet ein hohes Maß an Vertrauen in die Umwelt. Dialogisches Verhalten setzt die Subjektwerdung des Menschen voraus. Es beinhaltet die Fähigkeit zur Kompromißbildung und auch die Schwierigkeit, Kritik und unbequeme Fragestellungen auszuhalten. Dialog bedeutet die solidarische Begegnung aller Beteiligten, um die Humanisierung der Welt als menschliche Aufgabe zu definieren: „Die, denen das Grundrecht verweigert wurde, ihr Wort zu sagen, müssen dieses Recht zunächst wiedergewinnen und die Fortsetzung dieses entmenschlichenden Übergriffs verhindern" (ebd., S. 72). Die Kultur des Schweigens, wie Freire diesen Zustand des Unrechts nennt, kann nur durch dialogisches Handeln aufgebrochen werden. Dialog zielt auf die Durchdringung der Wirklichkeit, der Entschleierung ihrer Mythen und die Veränderung unterdrückerischer Zustände.

Die Dimensionen der Kultur des Schweigens reichen bis tief in das persönliche Umfeld, es sind Situationen in Ausbildung, Beruf, Familie, sozialer Gruppe, auf Reisen und in der Nachbarschaft. Je mehr gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge verloren gehen, desto stärker wird die Bedeutung des Dialogs als Grundlage befreiender Handlungen. Die Theoreme der Pädagogik Freires betreffen vor allen Dingen die politischen Zusammenhänge vor Ort. Ausgangspunkt für dialogische Bildungsarbeit ist das reale Umfeld, mit der es ein Einzelner oder eine Gruppe zu tun hat. Dialog im Bildungsprozeß beinhaltet deshalb immer die Berücksichtigung der Lernenden, ihre Einstellungen, ihr Alltagsbewußtsein, ihr thematisches Universum. Nicht vorgegebene Curricula und erwartete Ergebnisse sind Inhalte eines dialogischen Bildungsprozesses, sondern die generativer Themen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Dazu bedarf es verstärkt der Moderation und Koordination, damit das Vertrauen in die eigenen Stärken der jeweiligen Schüler oder Studenten geweckt wird.

Der dialogische Lernprozeß vermittelt die Reflexion der eigenen Erkenntnis, des Wissens und Handelns und führt so zu selbständigem und selbstbewußtem Lernen. Probleme und Widersprüche, Brüche und Differenzen sind Bestandteile des gesellschaftlichen Lebens und Gegenstand dialogischer Erörterung. Befreiende Pädagogik begreift sich als Reflexions- und Handlungsfeld zur Erweiterung persönlicher Kompetenzen in situativen Gegebenheiten. Die Anwendung der von Freire als problemorientiertes Vorgehen bezeichneten Methode bedeutet, daß der Lehrer zum Lehrerschüler wird. Ebenso verliert der Schüler seine Rolle als Schüler und wird zum Schülerlehrer. Dieser neue wechselseitige pädagogische Bezug überwindet die unpolitsch-individualistische Begrenzung herkömmlicher Lernprozesse.

Dem Wissensbegriff wird hiermit eine situationsbezogene Dimension hinzugefügt. Auch Unterrichtsabläufe werden in ihrer sterilen Vorausplanbarkeit hinfällig, weil herkömmliches Unterrichten die Lebens- und Handlungsmöglichkeiten der am Bildungsprozeß Beteiligten verengt. Das Neubedenken von Bildungsinstitutionen ist ein konstitutives Element der Pädagogik Paulo Freires. Seine Grundaussage ist, daß zum subjektiven Wesen des Menschen die kritische Betrachtung der Wirklichkeit, das Erkennen der Widersprüche und die Möglichkeit des verändernden Handelns gehören. Damit bleiben die Lernprozesse grundsätzlich offen und führen weder zu endgültigen, nicht mehr hinterfragbaren Ergebnissen noch zu grundsätzlichen Wahrheiten, sondern begründen Einstellungen und einzelne Wissenselemente der Lernenden. Sie führen weiterhin zu Handlungskompetenzen für kulturelle Aktionen, deren Voraussetzung dialogische Kommunikationsprozesse sind. Und schließlich beinhaltet das Neubedenken eine kritische Bewußtwerdung gesellschaftlicher Zusammenhänge, der Stellung des Einzelnen zur Gemeinschaft und der jeweils individuellen Situation.

Lernen ist für Freire Erkenntnisakt in einer Wechselbeziehung des Einzelnen zwischen der Reflexion auf die Welt und einer Rückbesinnung auf sich selbst. Zweifellos übt der Erkenntnisgegenstand einen starken Impuls auf die Lernenden aus, soweit er zur erfahrbaren Umwelt gehört. Die weitere Motivation entsteht im dialogischen Prozeß dermaßen, daß die beteiligten Schüler oder Studenten zu kritischen Mitforschern werden. Hierin gipfelt die Forderung Freires nach einem politischen Unterricht. Die Offensichtlichkeit der Notwendigkeit der Veränderung des Bildungs- und Erziehungswesens führt dennoch zu der Schwierigkeit, gerade hiermit zu beginnen. Für Freire ist es wichtig, daß die Beteiligten die Grenzen ihrer Möglichkeiten erkennen und akzeptieren. So kann verhindert werden, daß bei allem Enthusiasmus überzogene Vorstellungen in Pessimismus umschlagen oder sich zu einem zynischen Opportunismus wandeln: „In der Geschichte handelt man danach, was historisch möglich ist und nicht danach, wonach einem selbst der Sinn steht" (Freire 1981, S. 85). Bildung und Erziehung bedürfen immer einer politischen Antwort, weil sie nicht unpolitisch bleiben können. Entweder vermittelt der Lernprozeß gesellschaftlich dominante Werte und Einstellungen, dann ist er konservativ, oder er arbeitet problemorientiert und situativ, dann regt er zur Veränderung an.

Der vollständige Text ist erhältlich unter dem Titel "Schule im Spiegel der Pädagogik Paulo Freires"

Ein weiteres Dokument zur Pädagogik Paulo Freires im Sportunterricht stellt das von Dr. Marc-D. Weilt und Johannes B. Rappel präsentierte Filmdokument "Lernen im Dialog" der Universität Augsburg dar.