Von der Erschöpfung zur Befreiung

Soziale Arbeit auf den Spuren von Paulo Freire

von Ronald Lutz

Ungemach

Erschöpfte Sozialarbeit? 

Eine Rekonstruktion ihrer Rahmungen

Der Profession droht im „aktivierenden Staat“ derzeit doppeltes Ungemach: Zum einen scheint ihre emanzipatorische Basis löchrig zu werden, jene „parteiliche Seite der Sozialarbeit, das klassische Berufsethos der Helferberufe, das Menschenbild, das bei aller Einsicht in die gesellschaftlichen Anforderungen und der irgendwo begrenzten Finanzierungsmöglichkeiten öffentlicher Hilfen, das einzelne Individuum akzeptiert und ihm hilft sich zu entfalten“. (Spindler 2003, 239f.) Zum anderen verliert sie zugleich die ihr notwendigerweise immanente Suche nach den Ursachen sozialer Probleme, ihr hermeneutisches Fallverstehen und ihre Lebensweltorientierung (Dahme/Wohlfahrt 2003, 95) – und so auch ihre „skandalisierende“ Funktion im Sinne einer Wahrnehmungsfokussierung auf soziale Problematiken.

Mit diesen Verlusten entschwindet eine ethische Basis, die auf Menschen und deren Alltagssorgen bezogen Arbeit an einem gelingenderen Alltag als das eigentliche Ziel formulierte (Thiersch 1986; 2002). Die Profession ereifert sich stattdessen immer stärker in dem Versuch ein modernes Dienstleistungsunternehmen zu werden, das auf dem Markt zunehmend anonymer werdender Kunden Leistungen anbietet und sich dabei wie ein Versicherungsmakler oder Investmentbanker verhält - der unverhohlen und immer offener platzierte Begriff der Sozialwirtschaft deutet dies unverblümt an. Das hat zwar Charme, da Soziale Arbeit jenseits aller einstmals romantischen Vorstellungen Gesellschaft grundlegend zu ändern nun endlich auf ihre Füße kommt, doch auf diesen Füßen steht man nur dann sicher, wenn man seinem eigenen Fundament vertrauen kann. Das ist so aber nicht zu sehen, da dieses Fundament zunehmend schwankender zu werden droht.

Soziale Arbeit war zwar schon immer eine Dienstleistung, doch bisher schien sie in ethische, forschende und humanistische, an einem konkreten Menschenbild orientierte Rahmungen eingebunden zu sein, die ihr als einem Teil des Projektes der Moderne immanent waren und ihrer Praxis den notwendigen Sinn verliehen. Das droht zu entschwinden und dies ist das eigentliche Ungemach, das auf der Profession lastet.

Diese Entwicklung wird durch neuere Leitdiskurse und theoretische Debatten legitimiert und ergänzt, die verführerisch wirken, da sie offenkundig anschlussfähig an neoliberale Tendenzen sind, in denen aber Parteilichkeit und die notwendige Anerkennung des Anderen und insofern eine emanzipatorische Konzeption des Menschen, die dessen Eigenständigkeit gegenüber Ökonomie betont, hinter „postmoderner Beliebigkeit“ (Kleve 2000; Kleve 2003a, 2003b ) und „systemischer Funktionalität der Exklusionsverwaltung“ (Merten 1997; Merten 2000, Bommes/ Scherr 2000) entgleitet. In diesen Diskursen wird, so eine vorläufige Diagnose, unbemerkt der Mensch als Ganzes ausgetrieben, zerlegt, modularisiert und segmentiert, auf sein Eigeninteresse und seine Funktionalität reduziert.

Eigenschaftslose Dienstleistung?

Sicherlich ist es immer wieder von Vorteil eherne und tradierte Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen, möglicherweise werden dabei sogar höhere Freiheitsgrade des Denkens möglich, da in einer komplexer werdenden Gesellschaft immer mehr sich nicht von selbst versteht. Kleve hat in seiner These durchaus Recht, dass fast alles kommunikativ hinterfragbar wird, begründet und ausgehandelt werden muss (Kleve 2000, 62). Doch in dieser Komplexität sind, um dieses Aushandeln kommunikativ und für Alle zu ermöglichen, Ruhepunkte und grundlegende Überzeugungen nötig, die einen Ausgangspunkt für diese Verhandlungen bieten. Dies wird insbesondere in einer am Wort orientierten Praxis wie der Sozialen Arbeit von besonderer Wichtigkeit. Ohne diese Ruhepunkte versinken Verhandlungsergebnisse nämlich in gefährlicher Heterogenität, da es kaum noch um ihren befreienden, parteilichen oder emanzipatorischen Charakter geht, der den Menschen in ihren Alltagssorgen Unterstützung bietet, sondern formale Ergebnisse zur Wiederherstellung bzw. Erhöhung von Anpassung und Funktionalität erzielt werden sollen.

In der Sozialen Arbeit gedeiht derzeit eine neue Selbstverständlichkeit: neoliberale Steuerungsmodelle, die als Kontextsteuerung, Kontraktmanagement oder Case-Management im Dschungel versäulter Dienstleistungen diskutiert werden, sehen einen selbstständigen privaten Leistungsanbieter sozialer Dienstleistungen und  einen souveränen nachfragenden Leistungsabnehmer im Mittelpunkt (Maaser 2003, 18). Der zentrale Gedanke dieses Modells ist der Mensch als ein rationaler Egoist, der seine partikularen  Zielsetzungen managt und dabei seinen Eigeninteressen verpflichtet ist. Darin liegt zwar auch ein Stück Hoffnung, dass sich aus den Interessenskämpfen letztlich doch ein Allgemeinwohl ergebe - über den Status einer These ist dies aber bisher nicht hinaus gekommen. Letztlich ist diese Vorstellung des homo oeconomicus eine eng geführte und somit auch unzureichende Konzeption des Menschen (Maaser 2003).

Der Mensch lässt sich nämlich nur schwerlich auf die Konzeption des Eigeninteresses festlegen, er bewegt sich vielmehr zwischen unterschiedlichen Graden von Verpflichtungen und kulturellen Einbindungen; er ist ein prinzipiell soziales Wesen und pendelt zwischen Egoismus und Altruismus – das lehren uns alle seitherigen Anthropologien der Moderne. Entscheidungen sind deshalb nicht einzig rational begründet oder durch Eigeninteresse festgelegt, sie folgen mitunter völlig anderen Prinzipien und Kontexten, sind zudem kulturell different. Der Mensch ist nur als ein offenes Projekt zu begreifen (Nussbaum 1999). Der „Präferenzmonismus der homo-oeconomicus-Konzeption“ ist deshalb eine stark verkürzte Vorstellung menschlicher Handlungsmotivationen (Maaser 2003, 20).

Angelehnt an dieses verkürzte Modell eines an Eigeninteressen orientierten Menschen wird Soziale Arbeit nun aber verstärkt auf eine Ökonomisierung festgelegt, die sich zur perfekten Arbeit mit Menschen entwickeln will ohne über ein wirklich umfassendes Bild des Menschen zu verfügen. Somit wird sie aber zwangsläufig zu jenem „Reparaturbetrieb“, den man ihr aus gesellschaftskritischer Perspektive schon immer unterstellte.

Erinnert sei deshalb an dieser Stelle, dass Soziale Arbeit als Institution moderner Gesellschaft in dem ihr zugewiesenen Aufgabenbereich auf nicht intendierte und ungelöste Folgeprobleme von Modernisierungsprozessen reagiert, die in ihrer tradierten Form – Armut, Obdachlosigkeit, Sucht, Krankheit, Gewalt und  Kriminalität – selbst immer wieder modernisiert werden und in veränderten Ausprägungsformen erscheinen. Dabei ist Soziale Arbeit, theoretisch und praktisch, nicht nur eine Reparaturinstanz, die den Menschen Unterstützung im Dschungel und in den Widersprüchen der Moderne anbietet, eben ein Dienstleister, sondern sie ist zudem das „schlechte Gewissen“ der Moderne, das auf soziale Ungleichheiten, soziale Probleme und soziale Ausgrenzung reagiert und damit auf Ungerechtigkeiten hinweist ohne diese wirklich grundlegend lösen zu können. Sie organisiert lediglich Unterstützung zur besseren Bewältigung besonderer Lebenslagen; allerdings klagt sie deren Bearbeitung im öffentlichen Diskurs immer wieder ein. Zugleich ist sie in ihren ethischen Rahmungen und in ihrem Menschenbild, das ihr als schlechtem Gewissen und Produkt des Projektes der Moderne immanent sein muss, Teil des „Anderen der Moderne“, Aspekt einer modernetypischen Anthropologie der Hoffnung, die immer Vorstellungen eines anderen Lebens transportiert, sich mitunter sogar als Förderer anderer Lebensentwürfe versteht.

Dieses „schlechte Gewissen“ und seine utopischen Visionen werden nun in der anstehenden Ökonomisierung zerpulvert und sukzessive ausgetrieben; sie fallen der Beliebigkeit anheim, sind Aspekte unter vielen oder werden als irrational und dysfunktional verdrängt. Soziale Arbeit verliert in dieser Beliebigkeit tatsächlich ihre Eigenschaften: Offen für alles wird eine postulierte „Identitätslosigkeit“ zur Identität, „die professionelle und disziplinäre Annahme von Differenz und Vielheit, von den identitätssprengenden postmodernen Tendenzen Sozialer Arbeit“ (Kleve 2000, 18).

Im Kontext dieser behaupteten Identitätslosigkeit kann Soziale Arbeit sich nicht mehr wie andere Professionen und Disziplinen eindeutig praktisch und theoretisch identifizieren,„sie bleibt diesbezüglich eine Profession und Disziplin der Vielfalt, der Pluralität, der Heterogenität, der Komplexität“(Kleve 2003b, 326). Mit einer solchen Fixierung stößt sie allerdings in der durchaus zutreffend diagnostizierten Komplexität der Moderne ihre ethischen Rahmungen ab, die in ihrer Praxis als einer Arbeit mit Menschen an deren Sorgen und mit dem Ziel eines gelingenderen Alltags erforderlich sind.

Als Disziplin ohne Eigenschaften muss Soziale Arbeit ökonomischen Sachzwang-argumenten erliegen; sie entwickelt sich  zu einer rationalen Optimierungsstrategie der Funktionalität sozialer Systeme und damit zum Makler sozialer Leistungen ohne dies noch grundlegend zu hinterfragen. Wer offen ist für alles, der kann nicht immer ganz dicht sein; und wer nicht ganz dicht ist, der verliert notwendige Substanz. So aber werden ethische Rahmungen – das Menschenbild, der utopische Charakter, die darin eingelagerte Anerkennung des Anderen und Vorstellungen einer menschlichen Entwicklung – als Aspekte unter beliebig Vielen abgesondert. Damit entschwindet Sozialer Arbeit als theoretischer und praktischer Profession die notwendige Distanz zur Praxis der Menschen und somit notwendige Kritikfähigkeit. Sie nimmt hin, was um sie herum passiert, schreibt dies als Vielfalt komplexer Beliebigkeit zu; offen für alles hat sie eigentlich keine Begriffe mehr, um Praxis reflexiv zu würdigen.

In diesen Prozessen wird zudem der Mensch in seiner Komplexität ausgetrieben. Er wird nur noch als Egoist gesehen, der an spezifischen Schnittstellen Anpassungsprobleme an gesellschaftliche und systemische Anforderungen hat und deshalb sein Eigeninteresse (vorübergehend) nicht realisieren kann. Um die bessere DurchsetzungseinerEigeninteressenwieder zu aktivieren, was neuerdings zusätzlich als gesellschaftlich gesteuerter Zwang auf ihm lastet, erhält er im Zusammenhang neoliberaler Strategien Sozialer Arbeit Unterstützung in der Kontextsteuerung und seinem ökonomischen Handeln auf dem Markt.

Diese individuelle Dienstleitung, die sie/ er sich auf dem Markt kaufen kann, erhält sie/ er aber nicht als Mensch, sondern als Aspekt und Reflex, als Eigennutz produzierender und konsumierender homo oeconomicus, eines Systems, das auf Grund individueller Anpassungsschwierigkeiten etwas schlechter funktionieren würde bzw. höhere Inklusionsleistungen und aufwändigere Exklusionsverwaltung betreiben müsste, die aber nicht mehr finanzierbar scheinen. Insofern erhalten auch vermehrt nur noch jene effektive Unterstützung in Form von Dienstleistungen, deren Anpassung gelingen könnte; nichts anderes sagt das Kriterium der Arbeitsfähigkeit in den Regelungen von HARTZ IV. Alle anderen werden zunehmend nur noch „barmherzig“ versorgt (Tafeln, Suppenküchen, Restaurant der Herzen etc.) – hier meldet sich dann aber wieder das „schlechte Gewissen“ in einer eigenartig caritativen Hinwendung zu christlichen Wurzeln Sozialer Arbeit!

Eine zentrale Kritik an den derzeitig theoretischen Debatten ist deshalb, dass diese auf Grund ihrer prinzipiellen Thesen der Beliebigkeit und systemischer Funktionalität diese Entwicklung nicht mehr aus einer ethischen Distanz zu reflektieren vermögen, da Visionen und Vorstellungen eines Anderen fehlen, sondern marktliberale Tendenzen verstärken und die sozialarbeiterische Praxis zur Beförderung des Eigeninteresses theoretisch legitimieren. Vor diesem Hintergrund muss Soziale Arbeit als Dienstleistung in einem Stadium der „Erschöpfung“ interpretiert werden, da sie kein klares und überzeugendes Bild des Menschen und dessen Entwicklung mehr in sich trägt.

Das ist insofern dramatisch und logisch zugleich, da sich die Moderne selbst in einem Stadium der Erschöpfung befindet und darin allmählich von grundlegenden Freiheitsgraden und dem Projekt der Moderne Abstand nimmt. Die prinzipielle Offenheit menschlicher Entwicklung steht zur Disposition. Dies schlägt auf die Soziale Arbeit durch.

Erschöpfte Moderne, erschöpfte Sozialarbeit

Immer stärker prägen Sorgen und Ängste das Leben der Menschen, ihre Biographien werden flüssiger, Planungen erweisen sich als zunehmend kontingent; sie verlieren allmählich die Kontrolle über ihren Alltag und erleben sich als unbeteiligte Zuschauer undurchschaubarer Entwicklungen. Diese auf die eigene Position in der Welt und auf die Zukunft bezogene Furcht, die gegenwärtig in einem Klima entsteht, das ständig Risiken betont, verdoppelt sich zudem, „wenn die Erfahrung als Führer durch die Gegenwart ausgedient zu haben scheint“ (Sennett 1998, 129). Der gezwungenermaßen „flexible Mensch“ kann in der neuen Kultur des Kapitalismus biographische Lebensereignisse immer weniger in einen erkennbar allgemeinen Horizont einbinden, der Sinn, Ruhe, Sicherheit, Erwartbarkeit und Überschaubarkeit liefert. Die „Entbettung des Subjekts“ aus Traditionen und Erwartungen (Beck 1986; Beck/ Beck-Gernsheim 1994; Giddens 1996) löst den Einzelnen aus ehemals vorgegebenen Kontexten und Laufbahnen, damit werden begründete Sorgen über das eigene Leben und das Leben anderer verursacht. Diese Sorgen steigern sich noch bei jenen, die am Rande leben, während Wohlhabende sich scheinbar noch moderat einzurichten vermögen (Barlösius/ Ludwig-Mayerhofer 2001; Kronauer 2002).

Die Moderne ist an einem Punkt angekommen, an dem ihre Versprechungen und Möglichkeiten, eben einer Befreiung aus selbst verschuldeter Unmündigkeit, sich immer weniger in den Wirklichkeiten spiegeln; Vorstellungen und Erfahrungen klaffen auseinander, eine unsichtbare Spaltung wächst. Das lässt sich in doppelter Weise denken:

  • Zum einen kann es zum Charakter der Moderne gehören, die sich in den Menschen verkörpert, sich in sie einschreibt und sie formt, dass die gegenwärtige Sorge ein notwendiger Bestandteil ihrer Prozesse ist, die in einem neuerlichen Wandel das „Menschenmaterial“ neu konfigurieren (Lessenich 2003; Reckwitz 2003; Otto/ Kessl 2004). Insofern müssten wir uns nicht wirklich sorgen, da dies ein grundlegender Bestandteil unseres Daseins ist und wir nach dem erforderlichen Umbau wieder in ruhigeres Wasser kommen und sorgenfreier schwimmen können. Die Versprechungen wären dann aber als bloße Ideologie zu begreifen, die nicht Ernst genommen werden dürfen.
  • Zum anderen kann es auch sein, dass die Moderne als noch immer nicht eingelöstes Projekt (Habermas 1985; Lutz 2000) des Menschen bedarf, der in der Arbeit an seinen Sorgen sich seiner bemächtigt, zum Grund seines Wesens vorstößt und seine Welt an den Möglichkeiten und Optionen gemessen stetig neu und anders entwirft. Dies würde bedeuten, dass es des Menschen Wesen ist ein schöpferischer Gestalter seiner eigenen Geschichte zu sein und zu werden (Greverus 1978; Lutz 2000); Geschichte wäre in ihrem Ergebnis eine menschliche, darin offen und gestaltbar. Dann könnte die erkennbare Steigerung der Sorgen und Ängste ein ernsthaftes Signal für Fehlentwicklungen sein, für Übergriffe auf menschliches Dasein, auf menschliche Freiheiten, auf menschliche Verwirklichungschancen und auf die prinzipielle Offenheit der Prozesse.

Eine Anthropologie der Hoffnung, die den hier vorgetragenen Thesen zu Grunde liegt, setzt den Menschen in den Mittelpunkt und geht essentiell von dessen Gestaltungsfähigkeiten aus; damit befindet sie sich zugleich in inhaltlicher Nähe zu Ansätzen einer „befreienden Pädagogik“, die Sorgen der Menschen Ernst nimmt und zur Arbeit an ihnen ermächtigen will (Freire 1992; Knauth/ Schröder 1998). Soziale Arbeit, jene Profession, die am stärksten mit den komplexen Problemen der Menschen in der Moderne konfrontiert wird, muss dementsprechend ebenfalls zum zweiten Denkansatz tendieren. Das aber hat Konsequenzen in der Behandlung und Deutung der Gegenwartsphänomene, die in der These der Erschöpfung verdichtet werden sollen und die darin eine spezifische Bedeutung für die Profession Sozialer Arbeit gewinnen.

Vielfältige Debatten über Heterogenisierung, Differenzierung, Individualisierung und Entbettung zeugen von einer rasanten Entwicklung der Auflösung tradierter Strukturen, in denen die Menschen im doppelten Sinne aufgehoben schienen:

  • aufgehoben auf einer integrativen Ebene des sozialen und kulturellen Lebens,
  • aufgehoben auf einer Ebene der Sicherheit, des Sinns, der Erwartbarkeit und der Entlastungen.

Diese zunehmenden Erfahrungen einer zusammenhanglosen Zeit bedrohen die grundlegende Fähigkeit der Menschen, „ihre Charaktere zu durchhaltbaren Erzählungen zu formen“ (Sennett 1998, 37). Damit wird zugleich jener ethische Wert dauerhafter Anerkennung durch andere geschwächt (Honneth 1992), den Menschen ihren Entscheidungen und ihren Beziehungen zu Grunde legen, der im öffentlichen und privaten Leben Erwartbarkeiten, Integrationsangebote und Rückzugsofferten mit Unterstützungscharakter in Krisenzeiten bieten soll und zur unaufhörlichen Neugestaltung der eigenen Welt befähigt.

In diesen Prozessen schwindet nicht nur der Blick auf den ganzen Menschen in seiner komplexen Lebenslage, dieser ist zudem kaum noch als Produkt sozialer und kultureller Reproduktionsprozesse erkennbar: er wird immer weniger in seiner Ganzheit lesbar und pendelt zwischen Globalisierung und „Glokalisierung“, zwischen Individualisierung und neuer Integration, zwischen Weltbürger und Lokalbürger, zwischen engen und weiten Horizonten, zwischen Optionen und Verlusten, zwischen Inklusion und Exklusion (Beck 1998; Stichweh 2000). So findet sich kaum noch ein Ort, an dem die Person in ihrer Integrität wachsen kann, an dem sie zur Ruhe kommt. Der Mensch scheint sich in Parzellen, in Modulen, aufzulösen:

  • Die Flüchtigkeit von Begegnungen, Freundschaften und Gemeinschaften breitet sich aus.
  • Statt gerader Linien wird von Menschen zunehmend Flexibilität erwartet; „nichts Langfristiges“ ist das Motto des Arbeitsmarktes.
  • Normalbiographien werden tendenziell in einem unergründlichen Patchwork aufgelöst: „Es gibt keine Pfade mehr, denen Menschen in ihrem Berufsleben folgen können“ (Sennett 1998, 203); statt dessen müssen sie sich in stetig fremden Territorien bewegen.
  • Im Bildungssystem verschwinden Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung hinter isolierten Modulen, die als Baukastensystem beliebig kombinierbar scheinen, dabei aber den Charakter des Menschen zur Nebensache degradieren.
  • Der gesellschaftlich produzierte Unterschied zwischen begabt und nicht begabt wird generalisiert und standardisiert, das Schlagwort Elite wird bedenkenlos in die Debatte geworfen ohne zu reflektieren, dass damit ein Menschenbild verabschiedet wird, das Gleichheit der Menschen unterstellend allen auch gleiche Chancen eröffnen wollte. An seiner Statt werden wieder Unterschiede in menschlichen Talenten und Fähigkeiten entworfen, deren Hintergründe jenseits des Sozialen liegen sollen.

Neben den Zugriffen auf die Unverwechselbarkeit, Ganzheitlichkeit und Gleichheit der Menschen sind es weitere elementare Entwicklungen, die zu Bedrohungen und Polarisierungen führen. Die Moderne befindet sich offenkundig in einem grundlegenden Umbruch, der Verluste ihrer Versprechungen und ihres Anspruchs beinhaltet:

  • Die Angriffe auf die Menschenwürde und die Unversehrtheit der Person nehmen zu.
  • Terrorismus und Fundamentalismus bedrohen die Freiheit; die staatlichen Reaktionen darauf verstärken diese Bedrohungen noch einmal und nehmen der Moderne sukzessive ihre Menschlichkeit.
  • Der Kampf gegen den Terrorismus wird nicht selten als Kampf gegen Kulturen gedacht und praktiziert; eine neue Arroganz des Westens gegenüber fremden Kulturen wächst.
  • Die alten Kriege der nationalen Konstellation werden durch neue Kriege in der postnationalen Konstellation erweitert und die einzig verbliebene „Supermacht“ will die Welt nach ihren politischen und ökonomischen Interessen ordnen.
  • Die Kopftuchdebatte und der mögliche EU-Beitritt der Türkei werden zu einem Beispiel neuer kultureller Konflikte zwischen dem aufgeklärten und christlichen Abendland und dem angeblich noch immer finsteren und zurückgebliebenen Morgenland, das in tiefstem Heidentum verharrt. Während das Kreuz als rein religiöses Artefakt unumstritten ist, man vergisst, dass mit ihm im Gepäck Menschen unterworfen und getötet wurden, wird das Kopftuch als Unterdrückung der Frau und als politisches Symbol diskriminiert.

Die Dialektik der Aufklärung schlägt erneut in ihr Gegenteil um: „Der Pfeil der Zeit ist zerbrochen; er hat keine Flugbahn mehr in einer sich ständig umstrukturierenden, routinelosen, kurzfristigen Ökonomie“ (Sennett 1998, 131). Politische Interessen und der „Terror der Ökonomie“ (Forrester 1997) sind offenkundig dabei Versprechungen der Moderne in die Knie zu zwingen. Darin wird ein neues, segmentierendes Menschenbild sichtbar: Nicht Gleichheit, Anerkennung des Anderen und Solidarität sind essentiell, sondern die Entgegensetzungen von Leistungsfähigkeit und Schwäche, von westlicher Aufklärung und östlichem Mittelalter, von kapitalistischem Individualismus und despotischem Gemeinwesen.

Eigentlich ist es der Anspruch der Epoche, in der wir leben, dass sie des Menschen Selbstverständigung und Selbstbestimmung befördert. Dazu gehört dann auch die immer wieder neu zu stellende zeitdiagnostische Frage, „ob im Prozess der Verwirklichung dieser Ansprüche nicht bedrohliche Verwerfungen im menschlichen Selbst- und Sozialverhältnis entstanden sind, für die so unterschiedliche Begriffe wie Entfremdung, Verdinglichung, Anomie oder eben Pathologie verwendet werden“ (Honneth 2000, 216). Diese Verwerfungen sind vielfältig erkennbar und untermauern die These einer erschöpften Moderne, die sich in ihrem Selbstverständnis verändert.

Das Projekt der Moderne erfüllte sich zudem auch darin, dass barbarische Potentiale in einem offenen Prozess der Menschwerdung überwunden werden sollten; das scheint sich nun abzuschwächen: Barbarei als die niemals ausgeschlossene Kehrseite kommt zurück (Miller/ Soeffner 1996). Darin schwächt sich die Moderne als offenes Projekt der Selbstwerdung des Menschen insgesamt ab und macht Platz für Gewalt sowie segmentierende und segregierende Menschenbilder, darin wird Leid und Elend zugleich normalisiert. Nicht das Ende der Geschichte ist eingeläutet (Fukuyama 1992), die Kehrseiten der Moderne, ihr antizivilisatorisches Potential, erwachen wieder.

Mit der Moderne erschöpft sich zugleich der emanzipatorische, der parteiliche Gehalt der Sozialen Arbeit, die, wie bereits betont, darin zum Makler sozialer Leistungen verkümmert und sich als Profession ohne Eigenschaften in den Ambivalenzen der Moderne zu verlieren droht – offen für alles droht ihr auf Grund abgeschwächter Rahmungen ein empfindlicher Substanzverlust. Dies betrifft vor allem die Visionen Sozialer Arbeit, die einst als Profession für den Ausgleich zwischen gesellschaftlich produzierter Stärke und Schwäche stand, die soziale Integration anstrebte und die Ermächtigung der Unterdrückten und Diskriminierten für ihre eigenen Interessen als Ziel sah. Sie wollte eigentlich jene unterstützen, die an der Gesellschaft leiden. Bezogen auf diese Soziale Arbeit zeigt sich nun allerdings:

  • In vielfältig entwickelten Konzepten der Systemtheorie, die immer stärker auch Soziale Arbeit als eine „Profession ohne Eigenschaften“ prägen, wird der Mensch in Teilsystemzugehörigkeit aufgelöst, er findet keinen Ort mehr an dem er ganz für sich und ohne Auflösungstendenzen sein kann.
  • Der Gegenstand der Hilfe ist das isolierte Problem, the case, und immer weniger der Mensch in seinem Alltag. Der Betroffene wird zu einem Kunden, der sich für eine spezifische Problematik eine spezifische Dienstleistung aus dem Supermarkt Sozialer Hilfen „ordert“. Er stellt sich quasi sein Hilfe-Menu aus unterschiedlichen Angebotssegmenten zusammen, deren Kontext unwichtig wird.
  • Das verlängert sich in die neuen Sortierungskriterien der Menschen im Kontext sozialstaatlicher Reformen in arbeitsmarktfähige und arbeitsmarktunfähige Menschen. Erhalten die Ersteren noch persönliche und problembezogene Hilfen, so fallen die letzteren möglicherweise aus dem  Betreuungssystem heraus.

Natürlich kann man Soziale Arbeit als eine postmoderne Profession denken, „weil sie keine andere Wahl hat, als sich der uneindeutigen Heterogenität, den vielfältigen Ambivalenzen in ihrem sozialstrukturellen und semantischen Feld zu stellen und diese anzunehmen, mit ihnen zu leben“ (Kleve 2000, 98). Da hat Kleve ja durchaus Recht, er zieht aber Schlüsse, die diese Tendenzen verfestigen statt ihnen notwendige Ruhepunkte entgegen zu setzen, statt der erkennbaren Erschöpfung, die sich eben auch in dieser Beliebigkeit zeigt, theoretische Erholungskuren zu verschreiben, statt der Anpassung an den Fortgang der Geschichte deren Kritik zu befördern.

Gerade in einer uneindeutigen Heterogenität moderner Gesellschaft bedarf Soziale Arbeit ethischer Rahmungen, die ihr eigentlich durch die Errungenschaften der Moderne und durch ihre Funktion des „schlechten Gewissens“, das sie darin eingenommen hat, ureigentlich eingeschrieben wurden. Soziale Arbeit muss sich zwar den Ambivalenzen der Moderne stellen, sie muss aber auch reflektorisch-theoretisch empfindlich sein für die darin erkennbare Erschöpfung der Moderne und darin eingelagerter partieller Verabschiedungen ethischer Grundlagen. Eigentlich müsste Soziale Arbeit Barbarei erkennen und sie reflektieren, doch in ihren gegenwärtigen, die Diskurse leitenden Kontexten, fehlt ihr dafür die Sensibilität.

Soziale Arbeit als Arbeit mit Menschen bedarf sicherlich des Wissens über Ambivalenzen und Funktionszusammenhänge, den systemisch-postmodernen Theoretikern sei Dank, dass sie darauf hinweisen. Doch diese Beliebigkeit gilt nicht auch für das Bild vom Menschen, Soziale Arbeit benötigt ein klares Menschenbild, das den Mensch in seinem Alltag und in seiner Komplexität reflektiert. Im Mittelpunkt müssen dabei der handelnde Mensch und die eigentlich befreienden Potentiale menschlicher Praxis stehen.

Sozialarbeit muss sich so ihrer Visionen und ihres Ausgangspunktes neu vergewissern. Sie ist zwar keine Disziplin, die Revolutionen ausruft; sie ist aber als schlechtes Gewissen bzw. als Aspekt eines „Anderen der Moderne“ eine Art „Wächter“ über das gelingendere Leben Aller und über die Wiedergewinnung der Chancen Benachteiligter in der Moderne. Hinter aller Ambivalenz, die postmodernes Denken durchaus zutreffend postuliert, gibt es eben Eindeutigkeiten: dazu gehört ein modernes Menschenbild, eine Theorie der Anerkennung und eine Vorstellung menschlicher Entwicklung.

Diese Selbstvergewisserung ist dringend geboten, da gegenwärtig viele Leitdiskurse der Sozialen Arbeit nicht durch ethische Argumente gedeckt sind. Gerade in einer sich erschöpfenden Moderne werden diese Diskurse von Bedeutung, „denn nur eine ethisch informierte Soziale Arbeit dürfte angesichts der Ambivalenzen und Beliebigkeiten künftig in der Lage sein, dem wachsenden Andrang vermeintlicher Sachzwangargumente erfolgreich zu begegnen“ (Steckmann 2004, 264). Soziale Arbeit kann dabei keine moralische Praxis sein, sie bedarf aber moralischer Rahmungen in ihrer Praxis, damit sie Gutes tun kann. Würde sie sich von diesen Rahmungen gänzlich verabschieden ginge dies letztlich nur für den Preis einer völligen Identitätsumwandlung (Brumlik 1992)

Eine Erinnerungsarbeit steht deshalb an, die an der Rückkehr des Menschen in die Soziale Arbeit ansetzt und sich zum Konzept Menschlicher Entwicklung vorarbeitet um den Auftrag der Sozialen Arbeit zu rekonstruieren. Dabei geht es nicht um eine Re-Moralisierung der Praxis sondern um die Wideraneignung eines moralischen Rahmens für die Praxis. Es geht um die Sicherstellung des ihr originären Fundamentes, auf dem Soziale Arbeit im Projekt der Moderne ruht; dies liefert die notwendige begriffliche Basis für die Arbeit mit Menschen und erneuert damit auch Kritikfähigkeit.

Dynamisches Menschenbild

Die Konzeption eines Menschenbildes basiert nicht auf einer metaphysischen oder mythischen Biologie, sie ruht auf den Geschichten und Erfahrungen aus unterschiedlichen Zeiten und Orten, die sich zu einer Erzählung verdichten, mit der man Freunden aber auch Fremden erklären kann, was es denn bedeutet ein Mensch zu sein (vgl. auch Nussbaum 1999). Dies kann nur ein dynamisches Bild des Menschen sein, das diesen als entwicklungsoffen, kulturschöpferisch und dialogfähig beschreibt.

Es ist sein Streben, das den Menschen prägt: die Bewältigung von Sorge und Leid, die Suche nach einer Ausweitung der Optionen und Verwirklichungschancen, die Bewältigung der Randständigkeit, die Suche nach einem gelingenderen Alltag. Noch die prekärste und düsterste Situation hat in sich immer einen Funken Hoffnung, wenn man den Menschen als offen für Entwicklungen begreift! Zu den Fähigkeiten der Menschen gehören diese prinzipielle Entwicklungsoffenheit menschlichen Denkens und menschlicher Praxis und damit die Veränderbarkeit der Welt und des Menschen durch die Praxis der Menschen.

Dies führt uns zu einem weiteren zentralen Aspekt: Das Gesicht dieser Welt trägt die Züge der Menschen, ihre Kultur ist nur von ihnen gemacht und somit wandelbar. Das lässt sich in die These des kulturschaffenden Wesens gießen: „Kultur stellt (...) das nur menschliche Mittel der Umweltbewältigung dar. Kultur, wie auch immer wir sie definieren, ist vom Menschen Geschaffenes, ist Produktion, schöpferisches Tun, durch das der Mensch sich aus seiner Abhängigkeit von der äußeren und inneren Natur zu befreien vermag.“ (Greverus 1978, 59f.) Das Wesen des Menschen ist originär von dieser Fähigkeit geprägt, auf die eigene Umwelt, die eigene Kultur, als Geschöpf und als Schöpfer einzuwirken; der Mensch ist ein handlungsfähiges Wesen. Nicht einzig Opfer seiner Verhältnisse ist er deshalb sondern auch deren Gestalter: „Kulturfähigkeit ist die Kompetenz zur Gestaltung und kulturelles Handeln ist ein gestaltgebendes“ (Greverus 1978, 64).

Paulo Freiregab dieser Anthropologie der Hoffnung, die auf der Entwicklungsoffenheit des Menschen und seiner Gestaltungsfähigkeit ruht, mit seinem radikal positiven Menschenbild noch einen weiteren Aspekt (Freire 1973). Seine Philosophie und seine Anthropologie betonten das Wort: Es gibt kein wirkliches Wort, das nicht zugleich Praxis ist, so kann ein jedes Wort, das den Dialog nicht abbricht sondern weiterführt, die Welt verändern (Freire 1974a). Freire setzte auf den Dialog, der auf das Verstehen und nicht auf die Beeinflussung des Gegenübers zielte (Freire 1973, 1974b, 1987). Das aber postuliert die prinzipielle Dialogfähigkeit des Menschen.

Ein dynamisches Menschenbild zeichnet den Menschen als entwicklungsoffen, kulturschöpferisch und dialogfähig. Um dieses Menschenbild in der Praxis zu leben, um seine Identität und Integrität als durchgängigen Entwurf stabil zu halten, ist die Anerkennung des Einzelnen durch eine soziale und kulturelle Umwelt zwingend erforderlich (Greverus 1978).

Axel Honnethhat die Ebenen dieser Anerkennung prinzipiell herausgearbeitet; Anerkennung durch die Anderen ruht nach ihm:

  • auf emotionaler Achtung - der Liebe -,
  • auf rechtlicher Anerkennung sich selbst und anderen gegenüber
  • und auf wechselseitiger Anerkennung zwischen soziokulturell unterschiedlich individuierten Personen – der Solidarität (Honneth 1992). 

Doch was verbirgt sich hinter diesem Konzept, was heißt es, Anerkennung sei erforderlich um Identität als einen durchgängigen Entwurf stabil zu halten?

Honnethsprach von einer emotionalen Achtung; Freire formulierte dies als Achtung gegenüber den Leistungen und den Fähigkeiten der Menschen, die er mit Demut, Toleranz, Glaube und Liebe umschrieb. Sennet sprach kürzlich vom Respekt, den wir anderen gegenüber entwickeln müssen, um sie Ernst zu nehmen (Sennet 2002). Achtung gegenüber den Bedürfnissen der Menschen, die einem nicht gleichgestellt sind, definierte John Rawls als Anerkennung; Habermas erweiterte diese Konzeption auf die Achtung abweichender Meinungen, die anderen Interessen entspringen (vgl. Sennet 2002, 73).

Mit dem Kant‘schen Begriff der Achtung kommen wir dem moralischen Kern der Anerkennung nahe: Achtung gegenüber einem Anderen ist die Vorstellung von einem Werte, „der meiner Selbstliebe Abbruch tut“ (Kant in Honneth 2003, 21). Wer einen Menschen achtet, der räumt diesem einen Wert und einen Platz ein, der nicht nur die Quelle legitimer Ansprüche darstellt, sondern auch die eigene Position relativiert, sich in eigenen, egoistischen Perspektiven und Ansprüchen zurück nimmt. Das anerkennende Subjekt ist zukünftig bereit, dem geachteten Menschen moralische Autorität zu verleihen und es gemäß seinem Wert zu behandeln (Honneth 2003, 22).

Anerkennung der Anderen wird über das Erkennen, das Identifizieren hinaus zu einem expressiven Akt, der vom Gegenüber als solcher verstanden wird. Es wird eine positive Bedeutung der Befürwortung zum Ausdruck gebracht, in der deutlich wird, dass die andere Person „Geltung“ besitzen soll (Honneth 2003, 15). Achtung als moralischer Kern der Anerkennung drückt Demut und Vertrauen gegenüber dem Anderen aus und zeigt diesem, dass er als gleichwertig akzeptiert wird, trotz anderer Interessen und Positionen, trotz anderer kultureller Kontexte. Durch diese Anerkennung weiß der Andere sich in elementarer Form sozial anerkannt (Honneth 2003, 20). 

Menschliche Entwicklung als Gutes Leben

Das dynamische Menschenbild und das Konzept der Anerkennung bieten die Basis für die Theorie eines Guten Lebens, die auf Aristoteles ruht und von Martha Nussbaum für die Moderne angemahnt wurde. Sie entwirft sich als eine ethisch begründete visionäre Anthropologie der Hoffnung; sie umfasst zwar menschliche Ziele in allen Lebensbereichen; sie gibt aber lediglich einen Umriss und lässt somit viele Spezifikationen zu, ist letztlich ein offener Prozess (Nussbaum 1999, 46).

Diese Theorie muss „breit“ angelegt sein, sie muss folglich für alle und nicht nur für eine Elite gelten. Sie muss zudem „tief“ sein und nicht nur Güter wie Geld, Grund und Boden oder Chancen und Ämter umfassen; es muss ihr um die Totalität der Fähigkeiten und Tätigkeiten gehen, die ein gutes Leben ausmachen. Darin setzt sie auf die konstitutiven Bedingungen menschlichen Lebens, auf die Beförderung jener Tätigkeiten und Fähigkeiten, ohne die ein Leben zu viele Defizite bergen würde. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sind dies Grundfähigkeiten des Menschen wie (Nussbaum 1999):

  • Ein volles Menschenleben bis zum Ende zu führen
  • Eine gute Gesundheit, eine angemessene Ernährung, eine angemessene Unterkunft, Möglichkeiten der Sexualität, Möglichkeiten der Mobilität
  • Die Vermeidung unnötiger Schmerzen
  • Die Bindungen zu Dingen und Personen
  • Die Verbundenheit mit anderen Menschen, familiäre und soziale  Beziehungen
  • Vorstellungen vom Guten
  • Die Verbundenheit mit der Natur
  • lachen, spielen und Freude haben
  • kognitive Fähigkeiten wie: wahrnehmen, vorstellen, denken
  • Die Fähigkeit zur praktischen Vernunft

Staatlich-gesellschaftliche Ordnung als von Menschen geschaffener Garant menschlichen Lebens muss die Menschen in der Entfaltung ihrer Tätigkeiten und Fähigkeiten unterstützen; es müssen Chancen und Optionen für alle bestehen, entsprechend ihrer Fähigkeiten eine gute Lebensführung zu leben, und zwar ein ganzes Leben lang. Dies kann nur durch eine präventive Strategie geschehen, die nicht wartet, bis es den Menschen schlecht geht; zu diesen Strategien, die auch als öffentliche Güter diskutiert werden, zählen: eine humanistische Erziehung, Bildung, Gesundheit, Arbeit, Sicherheit für Leben und Besitz aber auch gesunde Luft und gesundes Wasser, ausreichende Ernährung und Unterkunft, Schutz vor tätlichen Angriffen, Schutz der Künste und der Wissenschaften, Gewährleistung von Entscheidungsfreiheit, Erholungsmöglichkeiten, Schutz einer unantastbaren Sphäre (Nussbaum 1999).

Das Gute Leben ist in seiner Umsetzung und Praxis, und darauf hat Nussbaum mit der „Vorläufigkeit“ ihrer Liste und dem Umriss, den sie lediglich geben wollte, bereits hingewiesen, ein offener Prozess, den wir als Menschliche Entwicklung verstehen, die jenen Raum öffnet, in dem die Fähigkeiten des Menschen zu sich selbst kommen.

Entwicklung versteht Sen nun als einen Prozess der Beseitigung verschiedener Arten von Unfreiheit, „die den Menschen nur wenig Entscheidungsspielraum und wenig Gelegenheit lassen, wohldurchdachten Gründen gemäß zu handeln“. Erst die Beseitigung gewichtiger Unfreiheiten sei deshalb die grundlegende Voraussetzung für Entwicklung (Sen 1999, 10). Somit wird Entwicklung zu einem Prozess, „in dem die menschlichen Freiheiten erweitert werden“ (Sen 1999, 50). Als ethisches Konzept fordert Entwicklung dazu auf die Hauptursachen von Unfreiheit zu beseitigen, zu denen Armut, fehlende wirtschaftliche Chancen wie auch systematischer sozialer Notstand zählen (Sen 1999, 13). Entwicklung heißt letztlich, sich auf die Möglichkeiten der Freiheit einzulassen (Sen 1999, 353).

Die Vereinten Nationen veröffentlichen seit Anfang der 90er Jahre im Jahresabstand Berichte zur Menschlichen Entwicklung (DGVN 2000). Diese wird als Prozess begriffen, der die Wahlmöglichkeiten der Subjekte erweitert. Das aber ist nur durch eine Ausweitung der Lebens- und Entwicklungschancen erreichbar, die sich beispielsweise an einer Verbesserung der Bildungschancen aller, an einer stärkeren Geschlechtergleichheit und an weniger Armut festmachen lassen. Es ist allerdings ein Fixpunkt nötig, an dem sich die Entfaltungsmöglichkeiten menschlichen Handelns orientieren und dessen Ergebnisse in ihrer Wirkung auf die involvierten Menschen bewertbar machen. Das Glück der Einen darf  nämlich nicht das Elend der Anderen bedeuten, die Freiheit der Einen kann nicht die Unfreiheit Anderer bedingen.

Menschliche Entwicklung wird somit zu einem universellen Wert, zu einer globalen Ethik, der als Prozess des Wachsens und Gestaltens begreifbar ist. Sie impliziert wesentlich eine Zunahme von Entscheidungsmöglichkeiten, die für menschliches Leben und menschliches Werden unabdingbar sind. Hierzu gehören politische, ökonomische, soziale und kulturelle Chancen, durch die Türen zu Kreativität und Produktivität geöffnet werden. Dies umfasst zugleich die Entfaltung menschlicher Kompetenzen wie Selbstachtung, Handlungsfähigkeit und das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die Anerkennung durch Andere und Identität vermittelt.

Menschliche Entwicklung als Handlungsmodell basiert vor allem auf vier Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, damit Menschen sich ungehindert entwickeln können, ohne zugleich andere in ihren Entwicklungschancen einzuschränken:

  • Produktivität: Menschen müssen die Möglichkeit haben, ihre Produktivität zu erhöhen, Einkommen zu erzielen und eine bezahlte Beschäftigung auszuüben.
  • Gleichberechtigung: Menschen müssen einen gleichen Zugang zu Chancen haben; deshalb müssen auftretende Hindernisse für politische und ökonomische Chancen beseitigt werden.
  • Nachhaltigkeit: Der Zugang zu Chancen kann und darf nicht nur für die heutige Generation gelten, er muss auch für weitere Generationen gesichert sein.
  • Ermächtigung: Entwicklung kann letztlich nicht für die Menschen verwirklicht werden, sondern ausschließlich nur durch sie; sie müssen voll und ganz den Prozess selbst gestalten und notwendige Entscheidungen wesentlich selbst treffen.

Entwicklung als offenes Projekt

Die reformulierte Wendung zum Menschen und dessen Entwicklung bedarf einer anderen Vorstellung von Normalität. Historisch ist normal das Wort zur Homogenisierung und Vereinheitlichung von Arbeits-, Verhaltens-, Bildungs- und Gesundheitsstandards; Normalität regelt Zugehörigkeit und Abweichung (Link1997; Sohn/ Mehrtens 1999). Die Techniken der Normalisierung sind dabei Disziplin, Drohung, Strafe und Ausschluss. Wird Normalisierung historisch zunächst noch durch äußere Institutionen und Sanktionen durchgesetzt, verlagert sie sich allmählich in die Selbstkontrolle des Subjekts; das moderne Subjekt kann so als das sich selbst verantwortliche und sich selbst entwerfende Subjekt verstanden werden, das seine eigene Normalisierung als Ziel begreift und danach handelt (Foucault 1977).

„Normalität“ als Erwartbarkeit und als notwendig kulturell zu entwerfendes, handlungsleitendes Muster sozialen Lebens ist jenseits der skizzierten Engfassung in ihren Bedeutungen und Sanktionen aber immer kultur- und zeitspezifisch, es gibt deshalb eigentlich keine festgelegten und allgemein gültigen Standards des „Normalen“. Da die Menschen sehr wohl zu den Gestaltern ihrer eigenen Geschichte werden können, geschieht dies immer jenseits einer absolut gesetzten „Normalität“. Sie müssen so zu ihrer je eigenen „Normalität“ finden, zu ihren kulturell entworfenen Mustern des Sozialen, die Erwartbarkeit und Kommunikation sicherstellen; sie müssen sich dabei aber ihrer je eigenen Fähigkeiten, diese selbst zu gestalten, bewusster werden.

Die Chancen menschlicher Entwicklung steigen,wennsienichtmehrdurchscheinbar generell gültige Normalisierungsstandards eingeengt werden, die allzu oft auf Machtstrukturen ruhen, sondern von den Menschen und deren Sorgen ausgehend, als Suche nach Optionen und einem gelingenderen Alltag ermöglicht werden. Allein schon das notwendige Lernen für die Zukunft bezieht sich gegenwärtig auf Situationen und Aufgaben, „die in der jeweils aktuellen Situation noch gar nicht identifizierbar und deshalb um so weniger vorauszusehen sein können, je unbestimmter und offener die Lebensperspektiven“ sind (Lindner 2003, 290).

Doch diese Offenheit kann, auch wenn es zunächst so klingen mag, nicht als Beliebigkeit im Sinne postmodernen Denkens entworfen werden. Sie ruht hingegen auf den hier skizzierten Ruhepunkten des Menschenbildes, der Anerkennung durch Andere und der These einer offenen Menschlichen Entwicklung. Letztlich geht es dabei um die Implementierung eines zentralen Topos von Paulo Freire in die Arbeit mit Menschen: Es wäre ein schreiender Widerspruch, wenn sich das menschliche Wesen, das sich in unfertigem Zustand befindet und sich dessen bewusst ist, nicht in einen permanenten Prozess hoffnungsvoller Suche einbrächte (Freire 1973). Suchprozesse sind aber prinzipiell offen, normativ entworfene Realitäten als unhintergehbare Grenzen engen sie hingegen ein.

Fähigkeitenraum

Menschliche Entwicklung ist unter diesen VoraussetzungenvonderfreienEntfaltung menschlicher Kulturfähigkeit geprägt, von einem Mehr an Optionen, das ein Mehr an Verwirklichungschancendarstellt.Aus die-ser Vorstellung menschlicher Entwicklung folgt konsequent die von Sen vorgelegte Konzeption des „Fähigkeitenraumes“, den es gesellschaftspolitisch zu entwerfen gilt.

Dieser „Raum“ stellt dabei auch eine Alternative zu Almosen und anderen Formen der eigentlich würdelosen Alimentierung Benachteiligter dar, die mitunter eben weniger diesen als der Selbstliebe der Gebenden dient und Menschen auch durchaus von dieser Hilfe abhängig werden lässt, indem ihre Fähigkeiten zur Selbstorganisation sukzessive verkümmern (Sennet 2002). So ist dieser Begriff auch für moderne Wohlfahrtsstaaten von Relevanz, da sich in ihnen das Thema sozialer Unterstützung derzeit völlig neu stellt. Auf Soziale Arbeit bezogen hieße dies, dass sie hieraus ihren originären Auftrag abzuleiten vermag, nämlich am Aufbau, am Ausbau und an der Wiederherstellung eines Fähigkeitenraums mit Menschen zu arbeiten und ihnen hierfür Unterstützung zu bieten.

Der Fähigkeitenraum, der für Menschliche Entwicklung geöffnet werden muss, umfasst nicht nur die Vorstellungen eines guten Lebens, zu ihm zählen auch die Verfahren, sogenannte instrumentelle Freiheiten, die Handlungs- und Entscheidungsoptionen für Menschen angesichts ihrer persönlichen und sozialen Umstände erst ermöglichen:

  • Politische Freiheiten
  • Ökonomische Freiheiten
  • Soziale Chancen
  • Transparenzgarantien; die Anerkennung durch Andere und die Offenheit füreinander
  • Soziale Sicherheit

(Sen 1999, 52).

Hiermit werden gesellschaftliche Rahmenbedingungen definiert, die „Verwirklichungschancen“ der Menschen öffnen und erweitern; es sind Konzepte, die als Ausdrucksformen der Freiheit zu verstehen sind; „nämlich der substantiellen Freiheit, alternative Kombinationen von Funktionen zu verwirklichen“, eben unterschiedliche Lebensstile zu realisieren (Sen 1999, 95). Hiermit wird jene Freiheit der Menschen radikal ins Zentrum gerückt, das jeweils erstrebenswerte Leben zu führen und reale Entscheidungsmöglichkeiten und vorhandene Fähigkeiten auszuweiten bzw. umzusetzen.

Das Humane einer Gesellschaft ist deshalb davon abhängig, „wie groß die von ihren Mitgliedern genossenen substantiellen Freiheiten sind“ (Sen 1999, 30). Sen wird nicht müde, die Bedeutung dieser Freiheit zu betonen: mehr Freiheit stärke die Fähigkeit der Menschen, sich selbst zu helfen und auf die Welt einzuwirken; der Staat solle lediglich Hilfestellungen geben, Räume verfügbar machen, in denen Freiheiten möglich sind; er solle keine Fertiglösungen anbieten, die wiederum menschliche Gestaltungsfähigkeit und Kreativität erschlagen können. Insofern ist menschliche Entwicklung die Erweiterung und Steigerung der „Verwirklichungschancen“ und die stetige Ausweitung des „Fähigkeitenraumes“ durch Menschen und ihre staatlich-gesellschaftliche Ordnungen in einem, um individuelle Potentiale und Möglichkeiten zu entwickeln, das Leben führen zu können, das man schätzt – und zwar mit guten Gründen.

Dies sind Konzepte, die den gelingenderen Alltag im Blick haben und als Menschliche Entwicklung neu definieren. An ihnen sollte Soziale Arbeit in ihrer Beauftragung prinzipiell orientiert sein; zugleich sollte sie aber auch immer wieder deren Realisierung, und somit auch erkennbare Abschwächungen, kritisch würdigen um auf Fehlentwicklungen zumindest hinzuweisen. Hierfür müssen diese Konzepte Sozialer Arbeit als Fundament aber immanent sein.

Autonomie und Selbstachtung; der Auftrag Sozialer Arbeit

Aus diesen Überlegungen zum Fundament leiten sich die Ziele ab, die insbesondere sozialberuflichem Handeln eingeschrieben sein sollten: Autonomie und Selbstachtung der Menschen auf der Basis einer prozessorientierten und Freiheiten erweiternden menschlichen Entwicklung in kollektiver Verantwortung zu ermöglichen. Selbstachtung heißt dabei, dass über Achtung und Respekt, die von den Anderen dem Subjekt entgegen gebracht werden, das Wissen wächst man selbst zu sein und etwas für sich selbst tun zu können. Autonomie ist die Erfahrung eigenen Wollens und eigenen Könnens, letztlich ist sie Resultat der Selbstachtung. Selbstachtung und Autonomie formen sich mit der Erfahrung, dass das Wollen und das Handeln des Anderen dem eigenen ebenbürtig ist. Sie leben von den Fähigkeiten, die umsetzbar sind und zur Erweiterung der Optionen für ein gutes Leben führen.

Da diese Entscheidungsfähigkeit eine grundlegende Bedingung eines „guten Lebens“ darstellt (Nussbaum 1999, 41), kann es nicht darum gehen, Menschen eine bestimmte Form des Lebens vorzuschreiben, sondern diese kann sich nur um das Schaffen von Voraussetzungen bemühen, damit Menschen die autonome Wahl eines Lebensplanes offen steht, aus der sie Selbstachtung gewinnen.

Mit dieser Betonung menschlicher Handlungsfähigkeit kommt noch einmal postmodernes Denken in den Blick. Man kann die darin formulierte Beliebigkeit natürlich auch anders sehen: als die Ausweitung von Optionen und die Öffnung von Verwirklichungschancen im Fähigkeitenraum; das geht aber nur im Kontext der hier erinnerten Rahmungen. Postmodernes Denken scheint dies zu ahnen, eine dementsprechende These wird durchaus entwickelt; KlientInnen sollen nämlich zu ExpertInnen für ihre eigenen Lösungen werden: „Die Professionalität der HelferInnen besteht dann darin, den KlientInnen dabei zu helfen, dass diese ihre Fähigkeit, ExpertInnen für die Lösung der eigenen Probleme zu sein, wiedererlangen“ (Kleve, 2000, 107).

Doch genau das kann nicht der zugleich postulierten Beliebigkeit anheim gegeben werden, es muss vielmehr das ethische Zentrum und der Ruhepunkt der Debatten sein: Offenheit, die sich nicht selbst in Frage stellt, ist nur auf einem ethischen Fundament menschlicher Entwicklung möglich, das dabei auch die Kritikfähigkeit an Abschwächungen des utopischen Potentials der Moderne reflektiert. Der Auftrag Sozialer Arbeit muss deshalb erneuert werden: die Praxis der Menschen zu entwickeln, um mit ihnen und in gemeinsamer Arbeit am gelingenderen Alltag Autonomie und Selbstachtung zu entfalten, erst dadurch können Menschen wirklich als Experten ihres Alltags Ernst genommen werden.

Almosen („Sozialhilfe“ im weiten Sinn) können vor diesem Hintergrund tatsächlich sogar zum „Synonym für Demütigung“ werden. Durch Almosen werden Menschen mitunter zu bloßen Zuschauern ihrer eigenen Bedürfnisse, zu Konsumenten der ihnen gewährten Hilfe. Sie erleben einen Mangel an Respekt, an Achtung, der sich darin zeigt, dass sie letztlich nicht als vollwertige Menschen wahrgenommen werden. Hilfe dient leider allzu oft sogar nur dem ruhigen Gewissen des Helfenden. Durch das Geben will man ein „guter Mensch“ werden, man bekämpft damit die eigene Neigung zur Sünde. „Der Wert der Gabe ist gleichgültig, und für manche ist es sogar gleichgültig, ob die Gabe anderen von Nutzen ist“, schreibt Sennet (2002, 169) und erinnert an das Konzept der Anerkennung der Anderen, dessen moralischer Kern die Achtung darstellt.

Diese, die auch als Respekt begriffen werden kann, fordert hingegen Zurückhaltung, eine Reduktion der „Selbstliebe“, um Menschen wirklich dadurch zu helfen, dass man ihren Fähigkeiten, ihren Kompetenzen, Raum gibt, sie darin ermuntert, sie „ermächtigt“ und sie nicht an ihren Defiziten misst. Menschen sind eben von Grund auf keine passiven Empfänger von Wohltaten, sie sind aktive, nach Veränderung strebende und diese auch bewirkende Subjekte - man muss ihnen nur den Raum dafür lassen (Sen 1999, Sennet 2002).

Insofern haben die Praktiken der Aktivierung und der Verlagerung von Verantwortung in das Subjekt, die so genannte  Neuprogrammierung des Sozialen (Kessl/ Otto 2002), ja durchaus verführerischen Charme. Auch der Kundenbegriff, der Autonomie stärken will, macht scheinbar Sinn. Dennoch liegt in ihnen eine große Gefahr: Autonomie und Selbstachtung werden auf neoliberale Strategien der Formung und Anpassung des Menschen verkürzt, denen kein Bild menschlicher Entwicklung und einer Offenheit der dadurch möglichen Prozesse immanent ist.

Um die Bedeutsamkeit des hier entwickelten Fundamentes zu illustrieren sollen zwei Beispiele skizziert werden. Das erste führt weit weg, es ermöglicht einen Blick über den Tellerrand, das zweite bringt den eigenen Alltag zurück und verdeutlicht, was es bedeuten könnte Menschen Achtung entgegen zu bringen, um Autonomie und Selbstverantwortung zu entwickeln.

Reichtum von unten

Nicht Spenden, sondern Investitionen, nicht milde Gaben, sondern Initiativen, aus denen sich „nachhaltige Ökonomien von unten“ entwickeln sind als Menschliche Entwicklung zu begreifen (Faltin/ Zimmer 1995). Ein solcher Versuch wurde von einem Ökonomieprofessor in Bangladesh gestartet. Muhammad Yunus gründete vor Jahren die Grameen-Bank, die kleine Kredite an Bauern, überwiegend Frauen, vergab, und die bei niedrigen Zinsen in kleinen wöchentlichen Raten, auf ein Jahr gestreckt, zurück bezahlt werden konnten (Yunus 1998).

Seine These war, dass es den Armen nicht an Fähigkeiten fehle, sondern lediglich am Zugang zu Krediten. Die Kreditnehmer mussten so eine Geschäftsidee haben, beispielsweise eine zweite Ziege kaufen um Ziegenkäse für den Verkauf produzieren zu können, und sich in Gruppen organisieren, die sich gegenseitig unterstützten. Die einzigen Sicherheiten, die verlangt wurden, waren eben diese Idee, Selbstdisziplin, Mut und der Wille an der Idee zu arbeiten. Nach einem ersten zurück bezahlten Kredit war ein neuer in höherem Umfang möglich, der eine weitere Ziege finanzieren konnte, um die Produktion zu steigern. Dahinter verbirgt sich eine immense Achtung gegenüber den Fähigkeiten der Menschen.

Der Erfolg ist bis heute umwerfend; die Rückzahlungsquoten liegen nahe bei 100%. Das System ist mittlerweile ein weltweites Erfolgsmodell und wurde auch von der Kreditanstalt für Wiederaufbau als Kleinkreditsystem kopiert. Die Erfahrungen zeigen dabei, dass Arme durch den Zugriff auf Kapital, so niedrig der Kredit auch sein mag, „in die Lage versetzt wurden, ihr Leben in unglaublicher Weise zu verändern“ (Yunus 1998, 262).

Yunusfasst die Philosophie seines Modells etwas provokant zusammen: „Ich bin fest davon überzeugt, dass die Zahlung von Almosen nicht zu einer Lösung des Problems beiträgt, sondert die Schwierigkeiten der Armen nur zementiert und sie in ihrem Elend festhält. Die arbeitsfähigen Armen wollen keine Almosen und haben sie auch nicht nötig. Die soziale Wohlfahrt erhöht nur ihren Jammer, denn sie beraubt sie ihres Unternehmungsgeistes und ihrer Würde.“ (Yunus 1998, 261)

Günter Faltinund Jürgen Zimmer fordern vor diesem Hintergrund dazu auf, die Soziale Frage in der Moderne neu zu stellen. Mit Entwicklungshilfe sei sie nicht zu beantworten, denn diese diene oft nur dem Zweck die Privilegien des Nordens nachhaltig zu sichern. Stattdessen müssten die Menschen ermächtigt werden ihre Fähigkeiten umzusetzen und damit zu wirklichen Konkurrenten der Reichen zu werden; nicht der Aufstand der Arbeiter, der die erste soziale Frage lösen wollte, liegt als Kopie für den Aufstand der Armen an, sondern die Förderung der Fähigkeit unternehmerisch tätig zu sein.

 „Dies“, so Faltin und Zimmer, „wäre die wichtigste aller möglichen Entwicklungshilfe, die Öffnung des Marktes für die konkurrenzfähigen Unternehmer des Südens“ (Faltin/Zimmer 1995, 20). Letztlich ist damit die Antwort auf die neue soziale Frage nicht durch das Sammeln von Spenden lösbar, den Armen wird vielmehr nur dann effektiv geholfen, wenn sie selbst eine Ökonomie von unten entwickeln und Zugang zum Markt haben.

Soziale Stadt

Arme leben nun nicht nur außerhalb des bundesrepublikanischen Gesichtskreises; dass es Armut und Benachteiligung auch hier gibt, ist mittlerweile einen Gemeinplatz und muss nicht weiter erläutert werden. Die soziale Frage stellt sich ebenfalls neu und verlangt zunehmend nach Lösungen, die jenseits traditioneller Transfersysteme wie der Sozialhilfe liegen - zumal diese Systeme stark umgebaut und reduziert werden.

Allerdings wären deutsche Sozialhilfeempfänger zunächst einmal entsetzt, wenn man ihnen das Modell der Grameen-Bank, einen Kleinkredit für eine selbständige Existenz aufzunehmen, als Alternative präsentieren würde. Für viele von ihnen käme das auf Grund von Krankheit, Behinderung und Alter auch gar nicht in Frage; andere würden hingegen schnell ausrechnen, was sie dadurch an Hilfen und weiterer sozialer Absicherung verlieren würden. Yunus ist deshalb durchaus zuzustimmen, dass man in Europa erst einmal gegen die „Verheerungen“ des Sozialhilfesystems anarbeiten müsste, das Menschen vielfältig von staatlicher Hilfe abhängig gemacht hat (Yunus 1998, 230).

Deshalb kommt es hier zunächst einmal darauf an, die Menschen an Entscheidungen zu beteiligen, sie für sich und ihre Interessen zu befähigen, ihnen Räume zu öffnen, in denen sie sich als Gestalter ihrer eigenen Welt erleben können um so Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu gewinnen. Die umfassende Einbeziehung bisher randständiger Gruppen, und nicht deren Stigmatisierung und Ghettoisierung, ist die größte Herausforderung für menschliche Entwicklung in Europa.

Eine der hierfür entworfenen, praktizierten und weiter zu entwickelnden Ansätze ist die Vision der Sozialen Stadt, die Forderungen nach Teilhabe und Schutz vor gesellschaftlicher Ausgrenzung in den Vordergrund hebt. Seit Anfang der 90er Jahre gibt es in der Republik Projekte, die sich dieser Aufgabe widmen; seit 1998 existiert hierzu sogar ein Bund-Länder-Programm Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf - die  Soziale Stadt. Der tatsächliche Erfolg dieser Projekte wird sicherlich an ihrem Anspruch gemessen werden, ob nämlich „breite Bevölkerungsschichten inklusive bisher benachteiligter Gruppen wie Migranten und sozial Schwacher an der Gestaltung ihrer Stadt beteiligt sind, ärmere soziale Gruppen ausreichenden, günstigen Wohnraum vorfinden, möglichst viele Menschen eigenständig ihren Lebensunterhalt sichern können und ob sie breiten Zugang zu vielfältiger soziokultureller Infrastruktur haben“. (Cramer/ Schmitz  2004, 16)

Jenseits der noch anstehenden letztendlichen Evaluation dieser Projekte  wird aber schon jetzt  deutlich, dass sie durchaus eine Akteursperspektive eingenommen haben, die von seitherigem Defizit- und Opferdenken Abstand nimmt und die Menschen in den benachteiligten Stadtteilen sehr wohl als fähig begreift, sich für ihre eigenen Interessen zu mobilisieren und für diese einzusetzen. Es sollen nämlich die Ressourcen eines Stadtteils aktiviert werden, damit sie für alle Menschen im Stadtteil zum Vorteil werden. Die Bewohner sollen gemeinsam mit der Stadt, mit Unternehmern, mit Geschäftsinhabern, mit Kirchen, mit Vereinen  und mit anderen Institutionen Lösungen für sich und ihr Wohngebiet finden, um die Lebenslagen aller zu verbessern.

In den Maßnahmen sollen die Bürger aktiviert und beteiligt werden, sie sollen zu Akteuren und Gestaltern in ihrer eigenen Umwelt werden. Ziel ist deshalb auch der AufbaueinerGemeinwesenökonomie,einer Verfügbarmachung von Ressourcen im Stadtgebiet, die als eine neue Form der Nachbarschaftshilfe zu verstehen ist (Lindenberg/ Peters 2004).

Befreiende Praxis

Vom Süden ist zu lernen, wie Zugänge zum Markt unter Bezug auf Autonomie, Selbstachtung, Anerkennung und im Vertrauen auf menschliche Fähigkeiten entwickelt werden können. Im Norden ist zu entdecken, wie neue Sensibilität für das Gemeinwesen und die notwendige Einbeziehung der Anderen entstehen kann, wie Menschen im Stadtteil nicht mehr als Fall oder Kunde, sondern als Akteur begriffen, in die Gestaltung ihrer Lebenswelten eingebunden und dafür ermächtigt werden. Beides sind Hinführungen zur Vision einer befreienden Praxis.

Die wirkliche und grundlegende Bedeutung der Praxis vor dem Hintergrund menschlicher Handlungen hat uns dabei Freire gelehrt:  „Nur Menschen sind Praxis – die Praxis, die, wie Reflexion und Aktion, wahrhaft die Wirklichkeit verwandelnd Quelle von Erkenntnis und Schöpfung ist. (…) Durch ihre fortgesetzte Praxis schaffen sie gleichzeitig die Geschichte und werden sie historisch soziale Wesen.“ (Freire in: Knauth/ Schröder 1998, 253). Ein historisch soziales Wesen ist ein sich stets neu entwerfendes und dabei sich immer wieder aus Alltagssorgen befreiendes Wesen.

Das aber macht, bezogen auf eine befreiende Praxis Sozialer Arbeit, die Entwicklung von Autonomie erforderlich. Dies bedarf eines grundlegenden Vertrauens in die Fähigkeiten der Menschen und deren prinzipielle Anerkennung als kulturschöpferische, dialogfähige und entwicklungsoffene Wesen. Makler sozialer Dienste können das nicht leisten, da es ein menschliches Handeln erforderlich macht, das nur in der Begegnung von Menschen möglich wird, die sich gegenseitig achten und ihr Menschsein in eine gegenseitige Beziehung einbringen.

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Prof. Dr. Ronald Lutz

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