Die Scuola di Barbiana

von Claudia Köster

In diesem Beitrag soll das italienische Alternativschulmodell Scuola di Barbiana (1955-1967), das von dem Pfarrer Don Lorenzo Milani gegründet worden war, vorgestellt werden. Mit dieser nichtautoritären Reformschule (vgl. Raith / Raith 1981) geht der Versuch einher, sich aus eigenen Kräften Mittel und Wege zu verschaffen, um den Anforderungen der Gesellschaft standzuhalten, und zwar von den Betroffenen selbst. Diese sind die Schülerinnen und Schüler, die aus sozial-ökonomischen Gründen nicht in das Regelschulsystem integriert werden konnten oder die am herkömmlichen Schulsystem scheiterten.

An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Scuola di Barbiana im Rahmen der Diskussion um Alternativschulmodelle in Deutschland zwar immer wieder aufgegriffen wurde, allerdings stützte sich die Information lediglich auf das 1970 erschienene Buch Die Schülerschule. Brief an eine Lehrerin[1], was in der Konsequenz zu Fehlurteilen und -interpretationen führte. Überdies ist die gegenwärtige vorliegende Sekundärliteratur zur Scuola di Barbiana im deutschen Sprachraum sehr spärlich und lückenhaft. Wenige ergänzende Aufsätze tragen jedoch dazu bei, sich eine befriedigende Vorstellung hinsichtlich der „Schülerschule“ zu verschaffen.

Lorenzo Milani (1923-1967)

Geboren wurde Lorenzo Milani am 27. Mai 1923 in Florenz als zweites von drei Kindern einer angesehenen jüdischen Familie. Milanis Vater war als Universitätsprofessor tätig und auch seine aus Israel stammende Mutter wird als gebildete Frau (vgl. Brink / Thies 1984, S. 13) bezeichnet, zu der Milani während seines ganzen Lebens eine innige Beziehung pflegte. Ab 1930 lebte der konvertierte katholische Pfarrer für etwa zehn Jahre mit seiner Familie in Mailand, wo er schließlich sein Abitur erwarb. Milani entwickelte ein reges Interesse an der Malerei, so dass er sich im Jahre 1941 für ein Studium der Kunst entschloss. In diesem Zusammenhang erinnerte sich Milani an ein ganz besonderes Schlüsselerlebnis, das seine subjektive Haltung gegenüber dem bürgerlichen Kunst- und Kulturverständnis veränderte. Wolfgang Zacharias[2], dem Milani aus dieser Zeit erzählte, beschrieb die Erfahrung des italienischen Pfarrers wie folgt:

„Einmal sei er beim Suchen und Zeichnen von romantischen Szenen in einem verfallenen Wohnviertel von einer Mutter beschimpft worden als Nichtsnutz, als eingebildeter Voyeur von anderer Leute Armut, als Schmarotzer, der sich mit sowas Dummem wie Zeichnen beschäftige, während die, die er zeichnete z.B. die Kinder, Hunger hätten und keine richtigen gesunden Wohnungen.“ (Zacharias, unveröffentlichter Text; zit. n. Brink / Thies 1984, S. 13)

Das Kunststudium beeinflusste Milanis Lebensweg vehement und eröffnete ihm darüber hinaus weiterführende Perspektiven: So motivierte ihn das Interesse an der sakralen Malerei dahingehend, das Evangelium zu studieren, um seine bisherigen Kenntnisse auf diesem Gebiet zu vertiefen. In einer skizzenhaften Biografie führen Brink und Thies dazu an: „Im Laufe seines Kunststudiums untersuchte Milani die Verwendung und Bedeutung bestimmter Farben in der Liturgie und entdeckte darüber den Reichtum der Liturgie und des Katholizismus.“ (Brink / Thies 1984, S. 14)

Im Jahre 1943 trat Lorenzo Milani im Alter von zwanzig Jahren in das Seminar Maggiore di Firenze ein, um den Beruf des Priesters zu ergreifen. Es ist davon auszugehen, dass diese Zeit der Wendepunkt im Leben Don Milanis bedeutete, während dieser „[die] ersten zwanzig Jahre seines Lebens [...] als ein Leben im Dunkeln“ (ebd.) bezeichnete. Nachdem Milani 1947 zum Priester geweiht und als Vikar des alten Priesters Don Pugi nach San Donato in Calenzano – einem Industrievorort von Florenz – gesandt worden war, gründete er die Scuola Populare, eine Schule für Arbeiter und Bauern, die allerdings Konflikte mit der kirchlichen Obrigkeit auslöste. Im Gegensatz zu Lorenzo Milani vertrat die kirchliche Instanz die Auffassung, dass das schulische Engagement nicht in der priesterlichen Aufgabe läge. Vor diesem Hintergrund war jedoch Milanis schulische Aktivität nicht vornehmlich pädagogisch, sondern theologisch motiviert, weil der christliche Glaube und sein Priestertum den Ausgangspunkt all seiner Tätigkeit darstellte. Nach dem Tode Pugis wurde der junge Priester in die toskanische Berggemeinde Barbiana versetzt, wo er schließlich 1955 die Scuola di Barbiana gründete.

Im Mai 1958 beendete Don Lorenzo Milani sein Werk Espirenze pastorali, das er bereits acht Jahre zuvor in Calenzano begonnen hatte. Mit dieser Schrift, in der er die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse Calenzanos dokumentierte und das Verhalten seiner Gemeindemitglieder hinsichtlich ihrer religiösen Praktiken untersuchte, provozierte er heftige öffentliche und kirchliche Auseinandersetzungen. In seinem Werk verdeutlichte er, dass der religiöse und moralische Werteverfall aus der Einstellung der katholischen Kirche und ihrer Priester zu ihrem Volk erwachsen sei (vgl. ebd., S. 14f.). In diesem Sinne warf Milani der katholischen Kirche vor, die Situation und die damit einhergehenden Probleme des einfachen Volkes und der Armen zu ignorieren und nicht auf deren Seite zu stehen (vgl. ebd., S. 15).

Weiter lenkte Milani die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich, als er im Jahre 1965 in einem „offenen Brief“ sich konsequent für die Kriegsdienstverweigerung aussprach. In diesem Brief wandte sich der Priester gegen eine Gruppe ehemaliger Feldgeistlicher der Toskana, weil sie die Kriegsdienstverweigerung als Ausdruck von Feigheit und Niedrigkeit betrachteten. Auf Grund dieser radikalen Position, die Lorenzo Milani in aller Öffentlichkeit vertrat, wurde der Lehrer und Priester der „Verherrlichung von Verbrechen“ angeklagt (vgl. ebd., S. 15). Aus gesundheitlichen Gründen konnte Milani selbst an dem Prozess in Rom nicht partizipieren, sodass er dem Gericht seine schriftliche Selbstverteidigung zukommen ließ. Dieses Schriftstück fand als lettere ai giudici (vgl. ebd., S. 111; Anm. 9) in der Öffentlichkeit herausragende Beachtung. Im Jahre 1966 wurde Lorenzo Milani in erster Instanz für nicht schuldig erklärt. Im Sommer desselben Jahres begann Don Milani gemeinsam mit seinen Schülerinnen und Schülern der Scuola di Barbiana das berühmte Buch Lettere a una professoressa[3] („Brief an eine Lehrerin“) zu schreiben, das 1967 veröffentlicht und in Deutschland als Die Schülerschule[4] bekannt und in der Studentenbewegung Anfang der siebziger Jahre diskutiert wurde. Einen Monat nach dem Erscheinen dieses Buches, im Juni 1967, starb Milani im Elternhaus in Florenz an Leukämie und zwar noch bevor das Gericht am 28. Oktober 1968 den Prozess Milanis erneut aufgriff, die Entscheidung der ersten Instanz änderte und den Priester in der Revision zu vier Monaten Gefängnis verurteilte (vgl. ebd., S. 15).

Die Realität der harten Existenzbedingungen der in Barbiana lebenden Menschen verlieh Lorenzo Milani die Idee, die Scuola di Barbiana zu gründen und den abgelegenen Ort in der Toskana mit der Wirklichkeit der großen, weiten Welt zu verbinden. Vor diesem Hintergrund soll folgend der Zusammenhang zwischen den Existenzbedingungen der im Bergdorf Barbiana lebenden Menschen und der Entstehung der „Schülerschule“ hervorgehoben werden.

Entstehung der Scuola di Barbiana

Das Bergdorf Barbiana liegt am Nordhang des Monte Giovi im Mugello-Tal in der Toskana und gehört mit seiner Kirche und den wenigen Häusern zu dem Dorf Vicchio. Zur Zeit des Schulexperiments wohnten neununddreißig Menschen in Barbiana. Schülerinnen und Schüler der Scuola di Barbiana zeichnen folgendes subjektives Bild des kleinen Dorfes:

„Barbiana ist nicht einmal ein Dorf, es ist eine Kirche, und die Häuser sind in den Wäldern und auf den Feldern verstreut. Die Orte im Gebirge, wie dieser, sind verlassen, ohne Bewohner. Wenn unsere Schule nicht wäre, die unsere Eltern in Barbiana festhält, wäre auch Barbiana verlassen. Im ganzen sind 39 Seelen hiergeblieben. Unsere Väter sind Bauern und Arbeiter.“ (Die Schülerschule 1970, S. 21)

Damit werden die Abgeschiedenheit und die harten Existenzbedingungen der dort lebenden Menschen, die vorwiegend Bauern und Arbeiter waren, beschrieben. In der Toskana waren die Bauern zum größten Teil nur Pächter auf dem Land, welches sie bewirtschafteten. Die sogenannte Mezzadria oder Halbpacht, die sich als ein konventionelles Regelsystem zwischen Grundbesitzer und -bearbeiter verstand, determinierte die soziale und wirtschaftliche Situation der Bauern. Der Mezzadria-Vertrag forderte von den Bauern, die Hälfte ihres erwirtschafteten Ertrages an den Grundbesitzer, zu dem sie in einem totalen Abhängigkeitsverhältnis standen, abzuliefern (vgl. Brink / Thies 1984, S. 112; Anm. 14). Dadurch erwirtschafteten sie kaum Überschüsse zur eigenen Verwendung und konnten in Folge dessen ihren Lebensunterhalt nur unter menschenunwürdigen Bedingungen bestreiten. Zu bedenken war darüber hinaus, dass in dem kleinen Dorf Barbiana der Gebirgsboden relativ unfruchtbar war, was die Situation der Bauern zusätzlich belastete. Die Schülerinnen und Schüler greifen in ihrem Werk Die Schülerschule dieses Problem kurz auf und schildern die Lage in Barbiana wie folgt: „Die Erde ist karg, weil die Regengüsse sie wegtragen und den Felsen freilegen. Das Wasser fließt in die Ebene ab. So essen die Bauern ihre ganze Ernte auf und können nichts verkaufen.“ (Die Schülerschule 1970, S. 21)

Die regionale Abgeschiedenheit des Ortes verstand sich insofern als weitere Benachteiligung der Bewohner Barbianas, als das kleine Bergdorf nicht an das elektrische Versorgungsnetz angeschlossen war, im Weiteren gab es auch kaum befahrbare Straßen. Auf dieses Problem hinweisend, führen die Kinder der Scuola di Barbiana an: „In vielen Häusern und auch hier in der Schule fehlt das elektrische Licht und das Wasser. Eine Straße gab es nicht. Wir haben sie einigermaßen hergerichtet, damit ein Auto darauf fahren kann.“ (ebd.)

Brink und Thies weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das Ausbauen der Straße zum Hauptort der Gemeinde Vicchio eine der ersten praktischen Tätigkeiten des Lehrers und Priesters Lorenzo Milanis war, die er mit den Heranwachsenden der Scuola di Barbiana in dem kleinen Bergdorf durchführte (vgl. Brink / Thies 1984, S. 21).

Ladengeschäfte waren in Barbiana nicht üblich, so mussten seine Bewohner acht Kilometer lange Fußmärsche (vgl. ebd.) nach Vicchio unternehmen, wollten sie Einkäufe oder Behördengänge unternehmen. Und gerade hier zeigt sich nicht nur das Problem der geographischen Abgeschiedenheit des Ortes, sondern auch das der Isolation der Bewohner von der Außenwelt. Die Abgeschiedenheit des Ortes wirkte sich vor allem auf die schulpflichtigen Kinder negativ aus: Um zur einzigen Schule der Region zu gelangen, mussten diese Kinder einen zwei- bis dreistündigen Weg nach Vicchio auf sich nehmen. Erschwerend kam hinzu, dass die dortige Schulsituation sehr schlecht war, und ein Großteil der Schülerinnen und Schüler im vorhandenen Schulsystem scheiterte. Es sei in diesem Zusammenhang allerdings darauf hingewiesen, dass jene Eltern, die unter den oben angeführten harten Existenzbedingungen lebten, die Notwendigkeit der Schulbildung ihrer Kinder nicht einsahen. So setzten sie oftmals ihre noch schulpflichtigen Heranwachsenden als Arbeitskräfte auf den Bauernhöfen ein. Wohl auf Grund der Abgeschiedenheit des Ortes und der Tatsache, dass es sich um Kinder unterprivilegierter Familien handelte (vgl. ebd., S. 22), wurde die Einhaltung der Schulpflicht von den Schulbehörden nicht kontrolliert.

Mit der Konfrontation der vorgefundenen Realität, die in Barbiana herrschte, fasste Lorenzo Milani den Entschluss, sich für die unterprivilegierten Kinder Barbianas einzusetzen und sie „auf eine allgemeine kulturelle Höhe zu heben“ (Milani 1978, S. 31; zit. n. Brink / Thies 1984, S. 22). So gründete er die Scuola di Barbiana, welche schließlich für ihn zum Lebensinhalt wurde, denn Milani fand letztendlich in seinem Priesterdasein im Kontext der kleinen Gemeinde Barbiana keine Erfüllung. Er widmete sich in Folge dessen vornehmlich seiner schulischen Tätigkeit, die allerdings theologisch geprägt war. Vor diesem Hintergrund sah Don Lorenzo Milani seine Hauptaufgabe darin, die Armen der Gesellschaft durch die pädagogische Tätigkeit zu rehabilitieren, was nach seiner eigenen Auffassung jedoch nur im Zusammenhang mit dem christlichen Glauben und seinem Priestertum geschehen konnte.

Die Schule selbst war in der Kirche untergebracht und bestand aus vier Zimmern, von denen zwei als Werkstatt dienten. Die Scuola di Barbiana setzte sich aus 26 Jungen und 3 Mädchen zusammen. Das Alter der Schülerinnen und Schüler erstreckte sich von elf bis hin zu achtzehn Jahren (vgl. Die Schülerschule 1970, S. 21f.). Für den Besuch der Scuola di Barbiana lagen auf Seiten der Schülerinnen und Schüler unterschiedliche Gründe vor, die Knauer, Krohn und Höner zusammenfassend anführen: „[E]inige waren nicht aus eigenem Willen hingekommen, sondern als Bestrafung, andere von sich aus, wieder andere wurden vom Schwimmen oder Skifahren angezogen, andere hatten nur die Wahl zwischen dieser Schule oder der Arbeit.“ (Knauer et al. 1979, S. 98; vgl. Die Schülerschule 1970, S. 23)

Besuchten die Schülerinnen und Schüler die Scuola di Barbiana auch aus sehr unterschiedlichen Motiven heraus, so trugen sie doch alle die gleichen Erfahrungen mit den Missständen des italienischen Regelschulsystems in sich. Gerade die Mängel dieses Schulsystems haben die Kinder des unterprivilegierten Teils der Gesellschaft bewusst werden lassen, dass sie am Bildungsleben, das „fast nur den höheren Schichten zugänglich [war]“ (Knauer et al. 1979, S. 99), nicht teilhaben konnten. Milani versuchte, mit seinem Modell der Scuola di Barbiana der unerfreulichen Realität auf dem Lande entgegenzuwirken, indem er seine siebenjährigen Erfahrungen aus der Scuola Popolare in Calenzano heranzog. Wesentliche Aspekte seiner pädagogischen Grundgedanken übertrug er auf seine Schule in Barbiana.

Ein wesentliches Merkmal seines Konzepts war dabei die Integration von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in den Unterricht, um mit diesen Fachleuten verschiedener Berufsgruppen Diskussionen zu ermöglichen. Wegen der regionalen Abgeschiedenheit Barbianas war die Mitwirkung solcher Persönlichkeiten gerade für das kleine Bergdorf sehr bedeutsam. Für die Realisierung seiner pädagogischen Konzepte fand Milani Unterstützung bei ehemaligen Schülerinnen und Schülern aus der Scuola Popolare in Calenzano, die fortwährend die Kontaktaufnahme mit den Fachleuten herstellten und zudem für die Materialbeschaffung verantwortlich waren. Um Zeugnisse zu erwerben, gingen die Kinder der Scuola di Barbiana als Privatisten an die staatlichen Schulen, um Prüfungen abzulegen.

Hatte die katholische Obrigkeit Lorenzo Milani auch dahingehend forciert, seine pädagogische Tätigkeit in Calenzano vor dem Hintergrund seines Priesterdaseins abzubrechen, so betrachtete der sozialpolitisch engagierte Priester die Scuola di Barbiana als eine neue und sinnvolle Herausforderung. Die Idee der Gründung einer solchen Schule im Kontext der schwachen Sozialstruktur Barbianas fand sehr positive Resonanz, denn das kleine toskanische Bergdorf „entwickelte sich [...] durch Don Milani und seine Schule zu einem Mittelpunkt geistiger und politischer Auseinandersetzungen, die in ganz Italien Aufmerksamkeit fanden.“ (Brink / Thies 1984, S. 24)

Das Verhältnis von Christentum, Klassenkampf und Schule

Don Lorenzo Milani war in erster Linie Priester, so war sein schulisches Engagement nicht pädagogisch, sondern vor allem theologisch orientiert. In diesem Sinne bildete sein christlicher Glaube den Ausgangspunkt all seiner Tätigkeiten. Der Glaube stellte für Milani ein wesentliches Element dar, das ihn zu einer eindeutigen Entscheidung und Parteinahme für die Armen, die Unterdrückten und Verachteten der Gesellschaft führte. Der Priester und Lehrer fühlte sich den Bergbauernkindern, den Arbeitslosen und Hilfsarbeitern der italienischen Gesellschaft verbunden, er stand demnach auf ihrer Seite und „bekannte sich wie Jesus zu den ‚Letzten‘ der Gesellschaft“ (ebd., S. 16). Materielle und die damit häufig verbundene intellektuelle Armut empfand Milani nicht nur als soziale Ungerechtigkeit, sondern er ging weiter, wenn er jene vorgefundenen Missstände als eine Sünde ansah. Und gerade hier deutete er den Zusammenhang zwischen der pädagogischen Komponente und dem christlichen Glauben an (vgl. ebd. S. 16f.). Lorenzo Milani definierte demnach die Schule als ein wichtiges Instrument seiner priesterlichen Tätigkeit. In einem Brief Don Milanis, den Brink und Thies in ihrer Rekonstruktion Nachforschungen in Barbiana (1984, S. 17) anführen, kristallisiert sich Milanis radikale Haltung, die hinter seinem pädagogischen Wirken stand, sehr deutlich heraus: „Ihr tut nichts für die Armen, wenn Ihr mit den Nicht-Armen über sie sprecht... Ich bewundere und liebe Euch und bete dafür, daß Euch alles gelingen möge, aber wenn ich an Euren intellektuellen Reichtum und an die intellektuelle Armut anderer denke, kann ich mir nicht helfen zu denken, daß Ihr Euch mit etwas Gewöhnlichem abgebt, wenn Ihr eine Zeitung für die Reichen schreibt... Willst Du, daß die Armen bald regieren? Willst Du, daß sie gut regieren? Dann schreibe doch ein Buch oder eine Zeitschrift für sie, oder werde Apostel unter Deinen katholischen Akademiker-Freunden, um eine großartige Schule für das Volk in Florenz zu gründen. Nicht als Geschenk an die Armen, sondern als ob Du eine Schuld bezahlst und ein Geschenk bekommst. Nicht um zu unterrichten, sondern nur, um den Armen die notwendigen technischen Mittel (das heißt die Sprache) zu geben, damit sie Euch etwas vermitteln können über den unerschöpflichen Reichtum an Ausgeglichenheit, Weisheit, Sachlichkeit, potentieller Religiosität, die Gott in ihren herzen versteckt hat; sie sozusagen zu entschädigen für die kulturelle Unausgeglichenheit, der sie zum Opfer gefallen sind.“ (Milani, zit. n. Gesualdi, 1979, S. 36)

Grundaspekte zu Antonio Gramsci (1891-1937)

Der oben zitierte Brief hebt nicht nur Don Milanis Einstellung hinsichtlich seines pädagogischen Einsatzes hervor, sondern widerspiegelt gleichsam wesentliche Gedankenstrukturen des italienischen Kommunisten und Parteigründers Antonio Gramsci (1891-1937): Dieser verstand sich als Politiker, Philosoph, Geschichtsschreiber und Literaturkritiker in derselben Gestalt, denn nach seiner Auffassung war eine Trennung von Politik, Philosophie und Geschichte undenkbar. Antonio Gramsci suchte nach einer revolutionären Lösung der sozialen Krise seiner Zeit. Vor diesem Hintergrund trat er für eine revolutionäre Machtergreifung durch das Proletariat ein. Die einzig wahre Gesellschaftsform, die Gramscis Ideen und Vorstellungen realisieren konnte, war für ihn der Marxismus oder – wie er ihn bezeichnete – die Philosophie der Praxis.

Für Gramsci war hierbei der Begriff der Hegemonie von großer Bedeutung, der sich in der matten Sprache der deutschen Politik wohl eher mit „Meinungsführerschaft“ übersetzen ließe. Doch in dem Wort Hegemonie schimmert die Idee der Macht, des hierarchischen Anweisungsverhältnisses durch. Für Gramsci implizierte der Begriff der Hegemonie die Führung einer herrschenden Klasse innerhalb einer Gesellschaft. Der Revolutionär sah sein Ziel definitiv darin, dass das Proletariat – d.h. die Arbeiterklasse und die Bauern – die Führung im Staat erlangte.

Bei Milani deutet sich dieser Gedanke in folgender Äußerung an: „Willst Du, daß die Armen bald regieren? Willst Du, daß sie gut regieren?“ Um die Hegemonie des Proletariats zu ermöglichen und aufrechtzuerhalten, war für Gramsci sowohl eine neue Kultur als auch eine Neuorganisation des Bildungswesens erforderlich. Diese neue Kultur sollte zu neuen Verhaltensweisen, Organisiertheit und Selbstdisziplin führen. Sie fordert überdies, nicht nur neue Wahrheiten zu entdecken, sondern gegebene Wahrheiten der Masse kritisch darzulegen.

Antonio Gramsci definierte das Phänomen der Kultur als den Gewinn eines höheren Bewusstseins, durch den der Mensch in der Gesellschaft den eigenen historischen Wert und seine Funktion hinsichtlich der Klassenzugehörigkeit erkennen könne. Erst wenn der Mensch in seiner Gesellschaft sich selbst erkannt hat, ist es nach Gramscis Auffassung möglich, Kritik zu üben. Mittels einer vermehrten Kritik gegenüber der kapitalistischen Gesellschaftsordnung fänden die unterdrückten und benachteiligten Klassen schließlich zusammen und bildeten ein einheitliches Bewusstsein. Erst aus diesem einheitlichen Bewusstsein heraus könne der Klassenkampf erwachsen und das Proletariat sich befreien.

Um das Proletariat zur Entwicklung einer Kritikfähigkeit und zur Reform des Bewusstseins zu motivieren, bedürfe es nach Gramsci zunächst einer Gruppe Intellektueller (vgl. Gramsci 1992, S. 513), die das Proletariat zu diesen Zielen befähige. Dieses sollte allerdings kein aufoktroyierter Prozess werden, sondern ein Vorgang, der charakterisiert ist durch ein aktives Verhältnis wechselseitiger Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden (vgl. Gramsci 1994, S. 1335f.), in dem „jeder Lehrer immer auch Schüler und jeder Schüler Lehrer ist.“ (ebd.) Gramsci weist an dieser Stelle darauf hin, dass dieses pädagogische Verhältnis jedoch nicht lediglich auf die spezifisch schulischen Beziehungen eingegrenzt werden dürfe (vgl. ebd.), denn „[d]ieses Verhältnis existiert in der ganzen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit und für jedes Individuum in bezug auf andere Individuen, zwischen intellektuellen und nicht-intellektuellen Schichten, zwischen Regierenden und Regierten, zwischen Eliten und Anhängern, zwischen Führenden und Geführten, zwischen Avantgarden und dem Gros der Truppen.“ (ebd.)

Da die damalige Gesellschaftsform immer auch als eine Widerspiegelung des Bildungswesens angesehen werden konnte, zog Gramsci ebenfalls eine Neuorganisation eben dieses Bildungswesens in Betracht. Seine Kritik galt bis dahin der Tatsache, dass das Proletariat kaum Möglichkeiten wahrnehmen konnte, Ober- und Hochschulen zu besuchen, da die Proletarier möglichst früh in das Erwerbsleben eintreten mussten, um ihre Existenz zu sichern. Die Neuorganisation lag für Antonio Gramsci in einer humanistischen Einheitsschule (vgl. Gramsci 1992, S. 524), welche die Selbstständigkeit und Eigeninitiative fördern sollte. Hinsichtlich dessen äußert sich Gramsci wie folgt:

„Die Einheits- oder allgemeinbildende „humanistische“ Schule (im weiten Sinne und nicht im traditionellen Sinne verstanden) müßte sich vornehmen, die Jugendlichen mit einer gewissen intellektuellen Selbständigkeit ins aktive Leben zu entlassen, das heißt mit einem gewissen Grad an Fähigkeit zum intellektuellen und praktischen Schaffen, der selbständigen Orientierung.“ (ebd., S. 524-525)

Weiterhin sollten die Ober- und Hochschulen nur den „Befähigten“ offen bleiben. Im Kern soll die humanistische Schule die Freiheit jedes einzelnen fördern und eine Schule der freien Initiative sein.

Christentum, Klassenkampf und Schule

Gramscis Idee vom Klassenkampf, der, wie oben erwähnt, vor allem auf einem höheren und einheitlichen Bewusstsein basiert, findet Eingang in die elementaren Werte und Prinzipien Lorenzo Milanis. Während das „notwendige Ziel“ Milanis im Bestehen des Mitttelschulabschlusses lag und dafür notwendigerweise Lerninhalte aus staatlichen Schulen vermittelt wurden, so lag das „höhere Ziel“ seines politischen und sozialen Engagements in der parteilichen Nächstenliebe, die „einem klassenkämpferischen Einsatz keineswegs entgegensteht, sondern ihn sogar zu erfordern scheint.“ (Boehncke / Humburg 1977, S. 307)

Milani versuchte kontinuierlich, seine Schülerinnen und Schüler von der Notwendigkeit ernsthaften Lernens zu überzeugen. Dabei bediente er sich seiner eigenen „edleren“ Strategie, die er in einem Vortrag im Jahre 1962 im Schulamt von Florenz (vgl. ebd., S. 307f.) an Hand folgender Äußerung illustrierte:

„Hör mal, mein Kind, deine Klasse, deine soziale Klasse, die Unterdrückten, die Unglücklichen der ganzen Welt, von Algerien bis zum Kongo, von Barbiana, von Monte Giovi, die in den Werkstätten, Fabrikhallen und auf den Feldern, die Unterdrückten der ganzen Welt, die Proletarier der ganzen Welt leiden an denselben Leiden wie du auch. Widme dein ganzes Leben der Aufgabe, diese Klasse aus dieser Lage herauszuführen.“ (Milani, aus einem Vortrag von 1962; zit. n. Boehncke / Humburg 1977, S. 307)

In der oben angeführten Äußerung Milanis findet sich das von Gramsci definierte einheitliche Bewusstsein wieder. Dies wird insbesondere an der Stelle deutlich, an der er seine Schülerinnen und Schüler darauf hinweist, dass die Proletarier der ganzen Welt dasselbe Leid ertragen müssen wie sie selbst. Deshalb forderte er seine Schülerinnen und Schüler auf, diese Klasse der Unterdrückten aus dieser Lage herauszuführen. Um ein solches einheitliches Bewusstsein auf Seiten der Kinder der Scuola di Barbiana entwickeln zu können, baute Milani seine Erziehungsarbeit primär auf dem Konzept des Klassenkampfes auf. Dagegen warf er der herkömmlichen Schule vor, sie erziehe das Kind lediglich zum Egoismus. Diese Art von Erziehung wertete Don Milani ab als „eine schmutzige und amoralische Sache“ (ebd., S. 308). Weiter kritisierte er, dass das herkömmliche Schulsystem das Kind dahingehend motiviere, für sich allein zu lernen, für sich davon zu profitieren, um später in der Gesellschaft für sich einen angesehenen Status zu erzielen. Die Schülerinnen und Schüler der traditionellen Schule internalisieren Eigen-Liebe, während sich die Kinder in der Scuola di Barbiana sich für eine ganze Klasse bildeten. So stand Milanis Konzept des Klassenkampfes und -bewusstseins dem Individualismus, der im herkömmlichen Schulsystem vorherrscht, gegenüber: „Die herkömmliche Schule läßt sie [die Kinder] nur einen Menschen lieben, nämlich sich selbst. Aber ich meine, daß ich ihnen auf der geistigen Ebene durch das Ausgehen von einem Klassenstandpunkt im allgemeinen mehr gebe als die herkömmliche Schule mit ihrem Individualismus.“ (ebd., S. 308)

Mit solch einer Erziehungsarbeit im Sinne des Klassenkampfes geht nicht nur eine Förderung des Klassenbewusstseins einher, sondern sie impliziert gleichwohl die Stärkung der Persönlichkeit im Kind. Diese Persönlichkeitsstärke verleiht dem Kind die Kraft, den anderen als Mensch anzusehen und sich ihm zu widmen. In dieser Hinsicht entwickelten die Schülerinnen und Schüler der Scuola di Barbiana eine weiterführende Definition des Begriffs „Wissen“: Sie meinten also nicht das „Wissen“, dessen Inhalt realitätsfremd war, in seiner Fülle lähmte und handlungsunfähig werden ließ, sondern jenes, das dazu beitrug, „andere zu verstehen und sich verständlich machen“. (Die Schülerschule 1970, S. 95)

Das pädagogische Konzept Milanis schloss folglich „egoistische“ Ambitionen wie beispielsweise „reinen Wissensdurst“ einzelner Schülerinnen und Schüler aus. Auch die Förderung einzelner Schülerinnen und Schüler fanden keinen Platz in der Erziehungsarbeit Milanis, so gab es keine „Begabtenförderung“. Somit wurde eine eventuelle Konkurrenzsituationen von vornherein entschärft. Die Schülerinnen und Schüler der Scuola di Barbiana kämpften für Gerechtigkeit und Gleichheit der Menschen und bemühten sich gerade um die Schwächsten in der Gesellschaft, zumal sie selbst dazu zählten und die Diskriminierung selbst erfahren hatten.

Grundgedanken und Ziele Don Milanis

Das in Form eines Briefes von acht italienischen Schülern geschriebene Buch Die Schülerschule. Brief an eine Lehrerin übt eine detaillierte Kritik an der staatlichen Schule und zeigt auf, dass die Gründe für das persönliche Scheitern in der allgemeinen Unzulänglichkeit des Regelschulsystems begründet liegt. Die Hauptanklage der Schüler von Barbiana richtet sich in ihrem Werk gegen die Schule „der Reichen“, welche soziale Unterschiede verstärkt und eine Schule derjenigen ist, „die die Bildung zuhause haben und nur in die Schule gehen, um Zeugnisse zu ernten.“ (ebd., S. 43) In Ihrem Buch heben die Schüler der Scuola di Barbiana hervor, dass nicht die Schülerinnen und Schüler aus den unteren sozialen Schichten das eigentliche Problem sind, sondern es sind die Anforderungen und die Struktur der italienischen Schulinstitutionen, die in auffälliger Weise den Kenntnissen und Fähigkeiten der Schülerinnen und Schülern privilegierter Gesellschaftsschichten angepasst sind.

Vor dem Hintergrund dieses Kontextes führen die Schüler der Scuola di Barbiana Verbesserungsvorschläge an, die darauf hinauslaufen, Schule als Ganztagsschule durchzuführen, Schüler nicht durchfallen zu lassen und ein weitreichendes Engagement der Lehrkräfte zu fordern.

Das besondere Verdienst Lorenzo Milanis lag vor allem in dem Versuch herauszufinden, wie er seine Schülerinnen und Schüler so ansprechen konnte, dass sie sich selbst wiederfanden. Milani motivierte die Kinder dahingehend, bestimmte Dinge als ihre Interessen zu erkennen, weiter sollten die Schülerinnen und Schüler der Scuola di Barbiana zu Nachfragen angeregt werden. Um dieses Ziel auch zu realisieren, musste der Priester und Lehrer Milani auf die Vermittlung nahezu aller traditionellen Lerninhalte verzichten – in dem Bewusstsein, dass seine Schülerinnen und Schüler nicht der Mittelschicht, sondern der unterprivilegierten Gesellschaftsschicht angehörten. Das von den Schülern geschriebene Buch Die Schülerschule stand faktisch am Abschluss des Lebens von Milani.

Raith und Raith weisen in ihrem Aufsatz darauf hin, dass das Werk „[...] eigentlich mehr ein verzweifelter Ansatz auf der Suche nach dem, was Kinder interessieren könnte[,] [war].“ (Raith / Raith 1981, S. 53) Gerade die Thematisierung der eigenen Situation, die Wahrnehmung und die Selbst-Erkennung im gesellschaftlichen Kontext brachte den Durchbruch, hier arbeiteten alle Kinder in einer Gemeinschaft zusammen.

In ihren Aufzeichnungen hoben die Schüler hervor, dass das staatliche Schulsystem eben nicht dazu dient, Inhalte zu vermitteln, die praktisch lebensnah und sinnvoll sind, sondern dass die staatliche Schule Aussonderung betreibt. Diese Kritik illustrierten die Schüler wie folgt: „Der Privilegierte lernt in der Schule eben nicht nur Dinge, die ihm direkt in seinem Leben dienen, sondern er lernt auch den Code, der ihm erlaubt, sich in der Elite zu bewegen. Die Gebildeten sprechen eine andere Sprache, um die Verständlichkeit auf ihren Kreis zu beschränken, dadurch werden sie zur Elite und haben nicht nur einen Beruf, sondern auch einen Stand.“ (Die Schülerschule 1970, S. 12f.)

Um das Konkurrenzdenken und den in der staatlichen Schule geförderten Individualismus zu vermeiden oder gänzlich auszuschalten, gab es in der Scuola di Barbiana weder Noten noch Zeugnisse oder Versetzungen, keine voneinander getrennten Klassenzimmer und keine isoliert voneinander arbeitenden Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler – im Gegenteil: Jeder war potentiell Lernender und Lehrender zugleich. Das ethisch-moralische Ziel der Verantwortung des Einzelnen für alle korrespondierte mit dem Motto „I care“, unter dem die Schule in Barbiana stand. So stellt dieses Motto das direkte Gegenteil des faschistischen „me ne frego“ („es ist mir egal“) dar.

Im Rahmen seiner weltanschaulichen Überzeugung fühlte Milani sich verpflichtet, seinen Schülerinnen und Schülern stets Vorbild zu sein. Diese Verpflichtung empfand der Priester und Lehrer wichtiger als pädagogische Programme und Methoden, denen er im Allgemeinen eher kritisch gegenüberstand. Das Unterrichten ist nach Milanis Auffassung nicht die Frage der Methoden, sondern die der Persönlichkeit. Die Qualität des Unterrichts hängt also von der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur und vom Denken dieser Persönlichkeit ab (vgl. Brink / Thies 1984, S. 20).

Mit seiner Scuola di Barbiana pflegte Lorenzo Milani, theoretisches Lernen mit praktischer Arbeit zu verknüpfen. Diese Verbindung war deshalb sinnvoll, da vor allem das praktische Arbeiten der Lebensform der Arbeiterkinder entsprach. Der Lerninhalt richtete sich primär nach den Interessen der Schülerinnen und Schüler, so versuchte Milani, die Emanzipation der Kinder zu fördern (vgl. Winkel 1974, S. 116). Holz- und Eisenverarbeitung waren ebenso wichtig wie das Lernen einer fremden Sprache, Statistik und Skilaufen (vgl. ebd.). Zudem wurden alle notwendigen Gebrauchsgegenstände wie beispielsweise Stühle, Tische und Bücherregale des Klassenzimmers für das Zusammenleben in der Schule von den Lernenden selbst hergestellt. Dabei dienten diese praktischen Arbeiten gerade nicht dem Ziel – wie es im traditionellen Werkunterricht der staatlichen Schule üblich war –, eine bestimmte Technik zu erlernen, sondern hier wurde an Hand der praktischen Tätigkeiten eine Zweckbestimmtheit verwirklicht: All das, was von den Kindern hergestellt wurde, war von unmittelbarem Nutzen für die Schule oder Gemeinde. In ihrer Rekonstruktion veranschaulichen Brink und Thies diesen Ansatz an folgendem Beispiel:

„Die erste, für die Gemeinde Barbiana nutzbringende Arbeit der Schüler war der Straßenbau im Jahre 1955. Als Don Milani 1954 in das 473 Meter hoch gelegene Dorf kam, hörte die einzige Straße schon nach wenigen Kilometern unten in der Ebene auf. Das Dorf war von den anderen Orten isoliert. Don Milani und seine Schüler lösten dieses Problem, indem sie die Straße bis zum Kirchplatz von Barbiana konstruierten und weiterbauten.“ (Brink / Thies 1984, S. 54)

Dieser Ansatz verdeutlicht, dass Milani stets bestrebt war, Unterricht, Freizeit, Leben, Lernen und Arbeiten als untrennbare Disziplinen zu vereinigen. Dies bedeutete für die Schülerinnen und Schüler jedoch auch, dass selbst der Sonntag sich von den anderen Schultagen lediglich durch den Besuch der Messe unterschied. In diesem Sinne betrachten Raith und Raith den Pfarrer Milani als eine „radikale“ Persönlichkeit (vgl. Raith / Raith 1981, S. 52): „Don Milanis Grundtendenz war die hin zu einer totalen Schule mit einem totalen Lehrer: Frühmorgens um acht Uhr begann sie, am Nachmittag um sechs [...] war sie zu Ende; es gab keinen freien Sonntag, keinen Feiertag, keine Ferien.“ (ebd.)

Dennoch, die Scuola di Barbiana war für die Kinder überhaupt die einzige Informationsquelle und somit der einzige Anlass zur schulischen Sozialisation. Lorenzo Milani konzipierte das Gemeinschaftsleben in der Scuola di Barbiana dahingehend, dass Schul- und Versagensängste dort keinen Platz fanden: Keine Schülerin und kein Schüler konnte durchfallen, und jede bzw. jeder hatte genügend Zeit, sich die Lerninhalte anzueignen, um die späteren staatlichen Prüfungen zu bestehen. Die Kinder der Scuola di Barbiana konnten als Privatisten die staatlichen Schulen besuchen und die notwendigen Prüfungen ablegen (vgl. Winkel 1974, S. 116f.).

Die Selbst-Emanzipation der Schülerinnen und Schüler war in den Grundgedanken Milanis leitend. Die Kinder emanzipierten sich selbst im Verlaufe ihrer Arbeit, indem ihnen die Gründe ihres Scheiterns auf dem Regelschulsystem bewusst wurden. Sie setzten sich in der Scuola di Barbiana zunehmend mit der Frage auseinander, warum ihnen als Proletarier im bürgerlichen Schulsystem keine Chance gegeben werden konnte.

Diese Auseinandersetzungen mit der eigenen Situation im gesellschaftlichen Kontext verstanden sich als Lernprozesse, die keiner Motivation im Sinne der Lernpsychologie bedurften, ebenso waren hinsichtlich dessen Belohnungen und Strafen überflüssig (vgl. ebd., S. 117). Das Ziel dieses Lernprozesses lag im Verstehen und Erkennen der eigenen Biographie. Im Zusammenhang dieses Ansatzes merkt Winkel weiter an: „Aber dabei blieben die Schüler nicht stehen. Sie wollten ihre Emanzipation aus dem Gestrüpp von Scheinargumenten und verlogenen Erfolgsmeldungen, von Vertuschungen und Beschwichtigungen zur Emanzipation aller Unterdrückten machen. Deshalb schrieben sie ihr Buch.“ (ebd., S. 118)

Milani gründete und leitete die Scuola di Barbiana vor dem Hintergrund der Einstellung, dass die allgemeine Schule eine Klassenschule sei (vgl. Langer[5] 1981; zit. n. Raith / Raith 1981, S. 52). Der Priester und Lehrer erkannte im Lichte dieser Tatsache, dass die staatliche Schule auf Schüler der unterprivilegierten Gesellschaftsschichten nicht zugeschnitten war und „daß sie [die Kinder] in der Schule nicht weiterkommen. Was Don Milani wollte, war, daß wir uns dafür einsetzen, daß diese Leute reden lernen.“ (ebd.)

Das Lehrer-Schüler-Verhältnis

Zwischen Lorenzo Milani und seinen Schülerinnen und Schülern bestand ein familiäres Verhältnis; denn die Kinder in Barbiana bezeichnete er als seine Familie, „während er, wenn er seine Angehörigen erwähnte, von seinen Verwandten in Florenz sprach.“ (Brink / Thies 1984, S. 68) Milani löste Konflikte stets auf gemeinschaftlicher Basis und versuchte auf dieser Ebene, Leben und Lernen miteinander zu verflechten.

Bezüglich des Lehrer-Schüler-Verhältnis-ses in der Scuola di Barbiana wurde vor allem der Begriff der Autorität diskutiert. Hardy Tasso merkte in einer Ausgabe der päd.extra (8/1979) an: „Ich möchte nur eines fragen: warum glaubte so ein bewundernswerter Erzieher wie Don Lorenzo Milani trotz aller Begeisterung der Schüler, nicht ohne Züchtigungsmaßnahmen und starke Leitung des Unterrichts auszukommen?“ (Tasso 1979, S. 14)

Zacharias nahm diese Bemerkung auf und wies darauf hin, dass das autoritäre Verhalten Milanis kaum wahrnehmbar gewesen und der Alltag dadurch nicht signifikant bestimmt worden sei. Der Unterricht in der Scuola di Barbiana war zunächst durch Desinteresse am Lernen geprägt. Milani versuchte als Lehrer und Vorbild seiner Schülerinnen und Schüler, die labilen Grundstrukturen der notwendigen materiellen und zeitlichen Organisationsformen aufrechtzuerhalten, damit das Lernen in der Gemeinschaft möglich war. Durch das Ensemble von Leben und Lernen, was die „Schülerschule“ charakterisierte, erhielt das Problem der Autorität eine positive Ausformung. Erich Fromm unterscheidet zwei Arten der Autorität: „Rationale Autorität fördert das Wachstum des Menschen, der sich ihr anvertraut, und beruht auf Kompetenz. Irrationale Autorität stützt sich auf Machtmittel und dient zur Ausbeutung der ihr Unterworfenen.“ (Fromm 1976, S. 45)

In diesem Sinne kann Milani als rationale Autorität seinen Kindern gegenüber angesehen werden. Diese Form der Autorität entspricht derjenigen, die auf dem Sein und damit auf der Persönlichkeit eines Menschen beruht, der ein hohes Maß an Selbstverwirklichung und Integration erreicht hat. Fromm führt weiter an: „Ein solcher Mensch strahlt Autorität aus, ohne drohen, bestechen oder Befehle erteilen zu müssen; es handelt sich einfach um ein hochentwickeltes Individuum, das durch das, was es ist – und nicht nur, was er tut oder sagt – demonstriert, was der Mensch sein kann.“ (ebd.)

Diese Beschreibung Fromms spiegelt gleichsam den Charakter Milanis wider. Schülerinnen und Schüler der Scuola di Barbiana bestätigten, dass der Priester und Lehrer Milani seine Kinder geliebt habe und diese sich von ihm Ernst genommen fühlten. Vor allem habe er sich selbst kritisch gegenüber diesen Kindern gesehen, und gerade darin manifestierte sich seine Autorität.

Folgen der Scuola di Barbiana

Die Diskussion, welche die „Schülerschule“ insbesondere durch den “Brief an eine Lehrerin” ausgelöst hat, hat im italienischen Schulsystem tatsächlich Spuren hinterlassen. So wurden nach der Schließung der Scuola di Barbiana private Nachmittagsschulen (doposcuola) eingerichtet, die Ergänzungsunterricht anbieten und sich als Alternative zu Staatsschulen verstehen. Sie haben sich im Wesentlichen am Beispiel der Schülerschule orientiert.

Das staatliche Schulsystem richtete Ganztagsschulen ein und ersetzte 1977 die Notenbeurteilung in den acht Pflichtschuljahren durch schriftliche Beurteilungen, wodurch auch die Prüfungen und das Durchfallen wegfielen. Die Integration lern- und verhaltensgestörter Kinder in den Regelschulen in gemeinsamen Gruppen mit Nicht-Behinderten wurde in das Gesetz aufgenommen.

Selbst wenn der Unterricht sich in den italienischen Pflichtschulen stärker an altersbezogenen Inhalten orientierte, so wurden im Allgemeinen nur Themen übernommen, die Lorenzo Milani nebensächlich erschienen, die Frage nach dem Lebenssinn, die bei Milani Priorität hatte, wurde nicht berücksichtigt. Ebenso wenig wurde die Forderung nach einer Konfessionsschule beachtet, die einen Einklang zwischen den Zielvorstellungen von Lehrenden und Lernenden schaffen könnte.

Schlussbemerkung

Der Interaktionsprozess in der Scuola di Barbiana wurde entscheidend durch Milanis Verzicht auf die herkömmlichen schulischen Sanktionsmittel der Notengebung und Nicht-Versetzung geprägt. Milani schuf positive Ausgangsbedingungen zur Entwicklung einer vertrauensvollen Lehrer-Schüler-Beziehung, indem er die permanente Beurteilung der Lernenden – zu der die Lehrkräfte staatlicher Schulen verpflichtet sind – verweigerte. War dadurch die Konkurrenzsituation unter den Schülerinnen und Schülern von vornherein schon entschärft, so vermied Milani die Herausforderung rivalisierender Gefühle noch zusätzlich durch den Einsatz kooperativer Arbeitsformen.

Das Besondere an der Scuola di Barbiana war ihre einmalige Kraft, die einmalige Geduld und die einmalige Leidenschaft, mit der Don Lorenzo Milani diese Schule trug. Sie war nicht reformerisch, sondern sie war radikal, deshalb konnte von ihr eine solche beeinflussende Wirkung ausgehen.

Literatur

  • Beck, Johannes; Boehncke, Heiner (Hrsg.): Jahrbuch für Lehrer 7. Selbstkritik der pädagogischen Linken: Einsichten und Aussichten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1982.
  • Boehncke, Heiner; Humburg, Jürgen: Don Lorenzo Milani. Parteiliche Nächstenliebe. In: Beck, Johannes; Boehncke, Heiner (Hrsg.): Jahrbuch für Lehrer 1978. Unterrichtsarbeit / Schulalternativen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1977. S. 307-308.
  • Brink, Lisa; Thies, Leonore: Nachforschungen in Barbiana. Alltag und Folgen der Schülerschule. Unter Mitarbeit von Gerd Iben. Weinheim, Basel: Beltz Verlag 1984.
  • Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1973.
  • Gesualdi, Michele (Hrsg.): Lettere di Don Lorenzo Milani, priore di Barbiana. Mailand 1979.
  • Gramsci, Antonio: Gefängnishefte. Band 3. Hrsg. v. Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug. Hefte 4-5. Hamburg, Berlin: Argument-Verlag 1992.
  • Gramsci, Antonio: Gefängnishefte. Band 6. Philosophie der Praxis. Hrsg. v. Wolfgang Fritz Haug. Hefte 10 und 11. Hamburg, Berlin: Argument-Verlag 1994.
  • Klemm, Ulrich: Scuola di Barbiana. Ein Bergdorf praktiziert Alternativpädagogik. In: Direkte Aktion 48/ 1985. S. 8-9.
  • Klemm, Ulrich; Treml, Alfred (Hrsg.): Apropos Lernen. Alternative Entwürfe und Perspektiven zur Staatsschulpädagogik. München: AG-Spak-Publ. 1989.
  • Knauer, Raingard; Krohn, Erika; Höner, P.: Lernen geht auch anders. Reader zu Alternativschulen und Alternativpädagogik. Berlin: Sozialpolitischer Verlag SPV 1979.
  • Köster, Claudia: Die Reformpädagogik von Alexander Neill, Célestin Freinet und Don Milani. Summerhill, École Moderne und Barbiana als Beispiele befreiender Pädagogik. Oldenburg: Paulo Freire Verlag 2005
  • Milani, Lorenzo: L’obbedienza non e piu virtu. Florenz 1978.
  • Paetz, Andreas.; Pilarczyk, Ulrike (Hrsg.): Schulen, die anders waren. Zwanzig reformpädagogische Modelle im Überblick. Berlin: Volk und Wissen Verlag 1990.
  • Raith, Werner, Raith Xenia: Scuola di Barbiana: Die Linke hat eine Legende daraus gemacht. Warum die italienische Bergdorfschule zum Mythos wurde. In: päd.extra 7/8 1981. S. 51-55.
  • Scuola di Barbiana. Die Schülerschule. Brief an eine Lehrerin. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 1970.
  • Tasso, Hardy: Scuola di Barbiana – eine Legende der Linken? In: päd.extra 8/1979. S. 14.
  • Winkel, Reiner: Das Ende der Schule oder: Alternativprogramme im Spätkapitalismus. München: List Verlag 1974.
  • Zacharias, Wolfgang: Vom leichtfertigen Umgang mit Legenden. In: päd.extra 2/1980. S. 32-36.
  • Zacharias, Wolfgang: Das Kultbuch: Die Schülerschule von Barbiana, oder: Der Umgang mit entfernter pädagogischer Wirklichkeit. In: Beck, Johannes;Boehncke, Heiner (Hrsg.): Jahrbuch für Lehrer 7. Selbstkritik der pädagogischen Linken: Einsichten und Aussichten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1982. S. 193-200.

[1] Der ursprüngliche italienische Titel hieß Lettera a una Professoressa.

[2] Nähere Informationen zu den Tätigkeiten Zacharias in: päd.extra 2/1980. S. 32.

[3] Titel der 1967 bei Libreria Editrice Fiorentina erschienen Originalausgabe.

[4] Das Buch erschien 1970 in der deutschen Übersetzung: Verlag Klaus Wagenbach.

[5] Werner und Xenia Raith interviewten Alexander Langer, der „Die Schülerschule“ ins Deutsche übersetzt und herausgegeben hat. Er war 1981 Landtagsabgeordneter der Radikalen Partei in Südtirol.

Claudia Köster E-Mail: claudiakoe@web.de