Grenzüberschreitungen – Begegnungen mit der Fremde - Reflexionen über ein deutsch-französisches Theaterprojekt

von Sandra Masemann

„Diese Grundsituationen unseres Daseins nennen wir Grenzsituationen.“ (Jaspers 1998, S.18)

Seit 20 Jahren besteht das interkulturelle Theaterprojekt „Grenzüberschreitungen“ zwischen der Universität Hannover Fachbereich Erziehungswissenschaften und der Universität Toulouse – Le Mirail. 20 Jahre deutsch-französische Arbeitsgemeinschaft und Freundschaft wären Anlass genug, um von diesem Projekt zu berichten.

Das Ziel dieses Artikels geht jedoch darüber hinaus. Es soll herausgearbeitet werden, welche zukunftsweisenden Perspektiven die Lehr- und Lernformen innerhalb dieses Projektes der deutschen „pisa-gebeutelten“ Bildungslandschaft eröffnen können. Wie treten Menschen in Dialog, um gemeinsam zu lernen? Welche Grenzen müssen dabei überschritten werden? Wie können Begegnungen mit dem Fremden neue Blickwinkel aufzeigen?

20 Jahre Grenzüberschreitungen

Alles begann im Jahre 1983 mit einer Gastprofessur von Dietlinde Gipser in Frankreich. Sie führte ein Semester lang Theaterseminare im Bereich lettres modernes an der Universität Toulouse – Le Mirail durch.

Aufgrund der sich entwickelnden intensiven Kontakte zu französischen Studierenden und Lehrenden entstand die Idee eines deutsch-französischen Austausches. Ziel war, über die Begegnung zwischen Studierenden unterschiedlicher Kulturen interkulturelles Lernen zu ermöglichen. Die Studierenden sollten die Möglichkeit bekommen, in einem für die Hochschule ungewöhnlichen Lernkontext intensive Begegnungen mit dem Fremden zu machen. Die bewusste Auseinandersetzung und die Erprobung in der Überschreitung kultureller, universitärer, zwischenmenschlicher und persönlicher Grenzen sind seither die wichtigsten Grundgedanken dieses Projektes. Hierzu sollten die tatsächlichen Landesgrenzen überschritten werden. Also überquerten im Sommer 1983 tatsächlich 35 deutsche Studierende der Universität Hannover die Grenze und fuhren mit dem Bus nach Toulouse.

Gefördert vom DAAD fand dort das erste deutsch-französische Theaterseminar unter der Leitung von Dietlinde Gipser und ihrer Hannoveraner Kollegin Ingeborg Altstaedt-Kriwet in Kooperation mit den französischen Kollegen Michel Didier und Peter Diener statt.

Es zeigte sich, dass Theaterarbeit ein sehr gutes Mittel ist, um intensive interkulturelle Begegnungen zu ermöglichen. So konnten z.B. die sprachlichen Barrieren auf beiden Seiten über körperbezogene Theaterarbeit überwunden werden. Es stellte sich auch heraus, dass die Arbeit auf eine gemeinsame öffentliche Aufführung hin die Intensität der Begegnung zu erhöhen vermag.

Mit der finanziellen Unterstützung des deutsch-französischen Jugendwerkes (DFJW/OFAJ) konnte ab 1984 eine langfristige Zusammenarbeit umgesetzt werden. Seither findet einmal jährlich diese zehntägige deutsch-französische Begegnung jeweils im Wechsel in Frankreich und in Deutschland statt. Aufgrund des hohen organisatorischen Aufwandes wurde ab 1985 für die praktische Theaterarbeit der italienische Theaterregisseur Mario Fraschetti gewonnen, mit dem Dietlinde Gipser schon seit 1979 in verschiedenen internationalen Projekten zusammenarbeitet.

Dies hatte zur Folge, dass in den letzten Jahren immer wieder auch italienische StudentInnen an dem Projekt teilnahmen. Als Hannoveraner Kollege kam Wolfgang Praschak hinzu, in Toulouse lösten Catherine Grünbeck und Jean Paul Confais die vorherigen Kollegen ab. In den ersten Jahren der Begegnungen waren die Studierenden noch getrennt in Privatunterkünften oder Studentenwohnheimen untergebracht.

Doch mit der Zeit und aufgrund der vorangegangenen Erfahrungen schien es sinnvoller, Arbeiten, Essen, Zusammensein und Übernachten unter einem Dach zu organisieren, um intensivere Arbeit und Begegnung zu ermöglichen. In Deutschland arbeitet das Theaterprojekt seit etlichen Jahren in der Europäischen Akademie Bad Bevensen, in Frankreich in verschiedenen ähnlichen Einrichtungen. Der krönende Abschluss - die öffentliche Aufführung - findet in Hannover im Festsaal des Fachbereichs Erziehungswissenschaften der Universität Hannover statt, in Toulouse im Theatersaal des Goethe-Instituts.

Das Projekt Grenzüberschreitungen im Herbst 2003 in Deutschland

(Leitung: Michaela Bunge, Jean Paul Confais, Mario Fraschetti, Dietlinde Gipser)

Es ist ein schwieriges Unterfangen, als Teilnehmerin intensive Begegnungen in Worte zu fassen um sie Außenstehenden zu vermitteln. Insbesondere dann, wenn aufgrund einer stark körperorientierten Arbeitsform nonverbale Kommunika-tionsformen in den Mittelpunkt rücken. Deshalb werde ich zunächst einen theoretischen Bogen spannen. Im Anschluss werden anhand einzelner Schwerpunktsetzungen Ausschnitte aus der Seminarwoche Einblick in die Arbeitsweise und die dabei erlebten Grenzüberschreitungen bieten.

Körperbezogenes Handeln in der Pädagogik

Ausgangspunkt meiner Beschäftigung mit dem Projekt „Grenzüberschreitungen“ ist die Forderung nach einem stärker körperbezogenem Handeln in der Pädagogik. Insbesondere dann, wenn Lerninhalte durch Personen vermittelt werden. In diesem Fall stehen sich individuelle Subjekte gegenüberstehen, die nicht nur einen Körper haben sondern auch in ihrem Körper sind. Den Körper „lesen“ zu können müsste daher eine wichtige methodische Qualifikation in der Pädagogik sein.

Erwin Goffman analysiert in seinem Werk „Wir alle spielen Theater“ die Selbstdarstellungstechniken die jeder von uns in sozialen Kontakten nutzt. Dies geschieht im „Theater des Alltags“ mehr oder weniger bewusst. Wir nutzen vor allem auch körpersprachliche Mittel, um unser Selbst so zu inszenieren, dass wir beim anderen einen von uns gewünschten Eindruck hinterlassen. Goffman beschreibt, wie unser Handeln stets in sozialen Rollen erfolgt und dass die Selbstdarstellung des Einzelnen nach vorgegebenen Regeln ein notwendiges Element menschlichen Lebens ist (vgl. Goffman 2003). Gerade in der Gestaltung von Schüler–Lehrer–Beziehungen sind Rollendefinitionen und Status sowie der daraus folgende Habitus wichtige Faktoren, die den Lernprozess sowohl in positiver als auch in negativer Weise beeinflussen. Viele Interaktionen scheitern, weil beide Seiten die Veränderung des eigenen Status bzw. der eigenen Rolle fürchten und in bestimmten Situationen immer wieder bestimmte Statuspositionen und Verhaltensmuster bevorzugen.

Es ist der Versuch, das eigene psychische System stabil zu halten. Gleichzeitig finden Grenzziehungen statt, die zu starren Kommunikationsmustern führen und das Dialogische im Austausch mit dem anderen verhindern. Die reflexive Auseinandersetzung mit dem eigenen Körperausdruck als auch dem des konkreten Gegenüber, der sich ebenso in seiner Körperlichkeit präsentiert, sollten demzufolge zentrale Bestandteile pädagogischer Prozesse sein.

Hierzu bedarf es in der universitären Ausbildung solcher Spielräume, die Studierenden als Forschungsfeld dienen, um ihren eigenen Körper in der Kommunikation mit anderen bewusst erleben und reflektieren zu können. Nur so können eigene Grenzen in der Kommunikation entlarvt und verändert werden. Solche Angebote werden umso notwendiger, je mehr das Körperliche als konkrete zwischenmenschliche Begegnung im Alltag verschwindet: „Die sich öffentlich begegnenden Körper sind weitgehend ‚entstofflicht’, d.h. sie treten eher als Bilder- , als Zeichen- und Bedeutungsträger auf , als dass sie als materielle Körper miteinander in Kontakt treten. In großstädtischen Menschenmassen ist es möglich, sich vorwärts zu bewegen, ohne jemanden anderen zu berühren, da die einzelnen Menschen einander geschickt ausweichen“ (Naumann, in Koch u.a. 1999, 21).

Das Theaterprojekt „Grenzüberschreitungen“ versucht diesen Weg in umgekehrter Richtung zu gehen. Der erste Schritt ist hier, den Körper zunächst einmal mit wertschätzender Aufmerksamkeit zu betrachten. Ihn spielerisch in die Kommunikation mit den anderen zu bringen ist der zweite Schritt, um von da ausgehend den körperlichen Ausdruck theatral einzusetzen. Den Körper wahrzunehmen, sein Zeichensystem, seine (körper-)sprachlichen Signale in eine kulturelle, spielerische und ästhetische Perspektive zu stellen, sind die Elemente, die das Projekt in seiner Besonderheit ausmachen. Mario Fraschetti beschreibt die darin erkennbare Arbeitsphilosophie mit folgenden Worten:

Viele Leute wissen nicht um die Möglichkeiten, die sie haben. In der Schule lernt man nach einem Modell. Aber für viele ist es schwer sich so zu bewegen, wie ein anderer. So zu lernen, wie ein anderer. Aber es ist leicht, sich so zu bewegen, wie man ist!… Vertrauen in sich selbst und die anderen, die anderen als compagnon de voyage, als Mitreisende zu erleben, das ist Ziel meiner Arbeit.“

Einblicke in die praktische Arbeit

Anhand von vier Schwerpunkten wird der Arbeitsprozess beschrieben und auf die stattgefundenen Grenzüberschreitungen hin befragt.

Die Schwerpunkte 1 und 2 werden anhand von Übungen des ersten Arbeitstages beschrieben. Im Laufe der Arbeit waren sie jedoch immer wieder Thema und wurden mit unterschiedlichen Übungen aufgegriffen und vertieft.

1. Schwerpunkt: Körperliche Selbsterfahrung und ihre Ästhetisierung - Sich selbst erfahren und einander zeigen.

Wir lenken die Aufmerksamkeit auf unsere Atmung in drei Schritten und synchronisieren sie mit einer Bewegungsfolge:

1. Ausatmung: Der Körper öffnet sich nach außen in den Raum. Die Arme werden schräg nach oben gestreckt, so dass sich der Brustraum entfalten kann. Ein Fuß schreitet zur Seite. Der Kopf ist nach vorn gerichtet und die Augen sind geöffnet.

2. Atempause: Ein Moment der Stille, der Körper bleibt in der nach außen gerichteten Haltung.

3. Einatmung: Mit dem Einatmen zieht sich der Körper in sich zurück. Ausgehend von den Armen zentrieren sich die Körperteile in Richtung Körpermitte. Der Brustraum verengt sich, die Körperhaltung ist gebeugt und der Kopf senkt sich.

Nachdem diese Schritte verinnerlicht sind, vollzieht sich der Übergang von der Atemübung in einen Tanz mit Musik. Die Gruppe wird geteilt in Akteure und Zuschauer. Die Zuschauer sitzen im Kreis um die Akteure herum. Ausgehend von der eigenen Atmung als vitaler Körperfunktion kommen die Akteure durch die Musik in einen Tanz. Die zuvor erarbeitete Atemübung wird zu einem ästhetischen Ausdrucksmittel, in dem sich das Thema Offenheit und Geschlossenheit widerspiegelt. Ausgehend vom eigenen Atemrhythmus entwickelt sich die körperliche Bewegung unter den Augen der Beobachterinnen und Beobachter zu einer Geste der Selbstdarstellung. Bereits an diesem Punkt tut sich für fast alle Beteiligten die erste Grenze auf.

Die Grenze der eigenen Körperlichkeit in der Öffentlichkeit.

Bei der Bewegung stößt man auf körperliche Ausdruckformen, die einem selbst als fremd und unvertraut erscheinen, da sie über die alltäglichen Bewegungs-muster hinausgehen. Die Musik gibt einerseits Orientierung, da sie hilft die fremde Bewegung zu rhythmisieren und so zu steuern. Gleichzeitig be“deutet“ sie die Bewegung zu einem ästhetischen Ausdruck, dem Tanz. Das Moment der Beobachtung bringt eine zusätzliche Verunsicherung mit sich. „Ich zeige mich den anderen in einer Weise, die mir selbst fremd ist.“ Die Körperlichkeit ist zugleich etwas Intimes als auch etwas Öffentliches. Die Bewegung eröffnet die Eigenwahrnehmung und ist zugleich Projektionsfläche für die Gedanken der Zuschauenden. Sich diesem widersprüchlichen Gefühl zu stellen ist ein erster Schritt über die Grenze, die die Kommunikation von Mensch zu Mensch behindert. Sich selbst darzustellen und nicht zu verstellen ermöglicht erst, sich durch die Augen des Betrachters selbst zu entdecken und neu zu erleben. Der Anfang des Dialogs ist gemacht, wenn sich die Blicke zwischen Akteuren und Zuschauenden treffen anstatt einander auszuweichen.

2. Schwerpunkt: Körper treten miteinander in Kontakt – Einander begegnen und verändern.

Ausgehend von der oben beschrieben Bewegungsfolge, die sich aus der Atmung ergeben hatte, beginnt die Partnerarbeit. Die zwei Partner pendeln sich zunächst auf einen gemeinsamen Atemrhythmus ein und schaffen somit die Voraussetzung die Bewegungen zeitlich zu dialogisieren. Bei der Ausatmung werden die Körper wie zwei gleiche Pole auseinander getrieben. Verstärkt wird dieses Auseinanderdriften, indem die Partner sich bei der Ausatmung leicht voneinander wegstoßen. In der Atempause hält die Bewegung inne, so dass eine im Raum nach außen geöffnete aus zwei Einzelteilen bestehende Gestalt sichtbar wird. Bei der Einatmung entsteht dagegen eine Art magnetischer Sog, der die beiden wieder aufeinander zusteuern lässt. Sie bilden eine geschlossene Figur, die über verschiedene Körperkontaktpunkte zusammengehalten wird. In dieser Übung wird auf körperliche Weise die Spannung zwischen Nähe und Distanz erlebt und körperlich die Frage thematisiert, wie in der Kommunikation aus dem Ich & Du das Wir entstehen kann.

Aus dem räumlichen Spiel zwischen Annäherung und Distanzierung werden über die verschiedenen Körperkontaktpunkte unterschiedliche Standpunkte erprobt. Genau diese Dynamik macht eine lebendige Kommunikation aus, in der die Beteiligten nach möglichen Formen der gemeinsamen Definition von Wirklichkeit suchen, aber auch Unterschiede wahrnehmen. Die Grenze, die hier überschritten wird, möchte ich als „Grenze zwischen Ich und Anderem“ definieren.

In der Ausatmung wird jeder Partner in seine Bewegungsmuster gestoßen. Er findet seinen individuellen Körperausdruck als bewegten Standpunkt innerhalb der offenen Figur. Bewegt deshalb, weil nach jeder Begegnung die körperliche Haltung eine andere ist. Jeder erlebt sich als Ich und sieht den anderen als gegenüberliegendes Du. Die Kontaktpunkte bilden hier der Blickkontakt als auch die sich aus der vorherigen Begegnung und dem jedes Mal unterschiedlichen Impuls nach außen ergebenden Haltungen. In der Einatmung bewegen sich die Körper aufeinander zu und finden einen gemeinsamen körperlichen Kontakt. Sie werden in der gemeinsamen Figur zum Wir, welches sich jedes Mal ebenfalls neu konstruiert, aber mit zunehmender Vertrautheit. „Aber ich bin nur mit dem anderen, allein bin ich nichts“, sind die Worte, die Karl Jaspers findet, um dieses dialektische Verhältnis von Ich/Du – Wir zu beschreiben (Jaspers 1998, 22).

Am Ende des ersten Arbeitstages sitzen wie an seinem Beginn alle gemeinsam im Kreis, diesmal jedoch Schulter an Schulter. Aus dem Kontakt entsteht eine gemeinsame Bewegung. Sobald sich jemand bewegt, nimmt ein anderer den Impuls auf, bis sich aus allen Teilnehmern ein bewegter Corpus entwickelt. Am Ende liegen alle zusammengekuschelt an/- übereinander auf dem Boden.

An diesem Arbeitstag wurden auf behutsame Weise in kleinen Schritten Berührungsgrenzen überschritten, die im Alltag tabu sind. So fand die erste Begegnung zwischen Franzosen und Deutschen in dem gemeinsamen Erleben des Körperlichen statt. Wir sind einander auf eine Weise nahe gekommen, die das gesprochene Wort in den Hintergrund rückt. Aus dem Fremden ist Vertrauen erwachsen, die Bereitschaft zu gegenseitigem Verstehen und die Sensibilisierung für die körperlichen Zeichensysteme jenseits der Verbalsprache.

Es war spannend zu beobachten, wie im Anschluss an die Arbeit sich viele Gespräche mit Händen und Füßen, Blicken und deutsch-französischer Sprachverwirrung entwickelten. Verbalsprachliche Grenzen wurden über körpersprachliches Verstehen umschifft.

Eine Teilnehmerin beschreibt diesen Prozess mit folgenden Worten: „Ja ich glaube dass die Arbeit einen großen Einfluss auf den Gruppenprozess hat.“ Am Anfang sind die Übungen mit Körperkontakt für einige noch zu viel, zu nah. Sich zu überwinden jemand ganz Fremdes anzufassen oder auf seinem Rücken rumzuhüpfen und dazu noch Geräusche zu machen ist schwer. Aber wenn man mit jemandem die Übungen gemacht hat, dann ist es hinterher einfacher auf ihn zu zugehen, ihm auf die Schulter zu klopfen und zu fragen ‚Comment ça va?’ Oder auch einen Scherz zu machen ist viel einfacher. Im Ganzen macht es Schritt für Schritt, dass man Vertrauen gewinnt und den anderen ein bisschen mehr von sich erzählt und sich einfach näher kennen lernt. Genau! Bei so einer Körperübung erfährt man ja nicht ‚Was hast du so gemacht, was machst du gerne’, aber körperlich kann man sich halt auch auf einer anderen Ebene austauschen. Das ist in der Uni sonst kaum möglich.“

3. Schwerpunkt: Spiel mit Körper und Stimme um sich einem Text zu nähern –sich den Text einverleiben.

Literarische Grundlage der Arbeit war der Zehnte Gesang aus der Odyssee von Homer, dessen Inhalt ich kurz wiedergeben möchte:

Odysseus kommt mit seinen Mannen zur Insel Äolia, die von Äolus, dem Gott der Winde bewohnt wird. Äolus ist Vater von sechs Söhnen und sechs Töchtern, die er miteinander verheiraten ließ. Die Familie lebt in Eintracht und Zufriedenheit in ihrem Palast. Odysseus und seine Männer verbringen einen Monat im Palast und werden mit köstlichen Speisen bewirtet. Schließlich bittet Odysseus den Äolus um Hilfe für die Heimfahrt und erhält einen dichtgenähten Schlauch, in dem sich das Wehen lautbrausender Winde befindet. Äolus lässt vor ihnen einen freundlichen Wind einher wehen, der sie und ihr Schiff sicher nach Hause führen soll. In der zehnten Nacht auf See schläft Odysseus vor Erschöpfung ein. Seine Genossen beschließen in der Erwartung von Gold und Silber den Schlauch zu öffnen. Hatten sie nicht ebenso wie Odysseus alle Gefahren auf sich genommen und etwas von den Schätzen verdient? Doch als sie den Schlauch lösen entsausen mit einem Male die Winde. Der Sturm schleudert die Männer in das Meer hinein und sie sterben. Ein Orkan wirft die noch übriggebliebenen Schiffe zur äolischen Insel zurück. Odysseus geht ein zweites Mal zu Äolus und bittet ihn um Hilfe. Doch dieser verweigert mit zornigen Worten die Unterstützung und wirft sie von der Insel. Es gezieme ihm nicht, einen Mann zu bewirten, noch weiter ihn zu senden, den die Rache der seligen Götter verfolgt. Voller Enttäuschung und Trauer über die eigene Torheit kehren Odysseus und seine Mannschaft zu den Schiffen zurück und machen sich müde und ohne Hoffnung auf den Weg.

Im Laufe der nächsten Tage nähern wir uns auf sehr unterschiedliche Weise dem Text. Handlungsleitend für die verschiedenen Techniken ist nicht die korrekte Wiedergabe des Inhaltes sondern die Verschmelzung von eigenen Interpretationen und Emotionen zum Text und der kreativen Suche nach körperlichem Ausdrucksformen. Wie diese gemeinsame Reise beschritten wurde, soll die Dokumentation der wichtigsten Schritte verdeutlichen.

Schritt 1: Jede Person liest den Text für sich allein.

Schritt 2: Alle TeilnehmerInnen sitzen im Kreis. Eine Person erhebt sich, geht durch den Raum und spricht dabei in ihrer Muttersprache den Satz, den sie erinnert. Sie setzt sich und die nächste Person steht auf, bis alle dran waren. Hierbei geht es nicht darum, den Text Wort für Wort wiederzugeben, sondern eigene Assoziationen mit Worten zu versprachlichen. Schon bald entsteht ein „Running Gag“: Die Aussage, dass Äolus seine sechs Söhne und sechs Töchter miteinander verheiratet hat, ist für viele besonders leicht zu erinnern.

Schritt 3: Alle gehen durch den Raum und erzählen einzelne Textpassagen. Aufgabe ist es, mit Sprache, Stimme und Bewegung zu spielen, so dass Bedeutungen sichtbarer werden oder neu hervortreten.

Schritt 4: Die Geschichte wird in einer Gruppe zu viert erzählt. Eine Person bewegt sich in die Mitte und erzählt einen kleinen Teil der Geschichte, friert dann in einer ungewöhnlichen Haltung ein, die nächste Person kommt hinzu und erzählt weiter. Auf diese Weise entsteht eine bewegliche sprechende Skulptur bis die Geschichte aus Sicht der Gruppe zu Ende erzählt ist.

Schritt 5: In der Großgruppe werden Hypothesen zu einzelnen Fragen aufgestellt. Z.B. Warum verheiratet Äolus seine 6 Söhne mit seinen 6 Töchtern?

Schritt 6: Jede Person erhält eine Textzeile, die sie spricht.

Schritt 7: Man erzählt die Geschichte, während eine andere Person einen durch den Raum bewegt. Die Sprachemelodie und der Inhalt des Textes werden durch die Bewegungsimpulse beeinflusst ebenso umgekehrt. Es entwickelt sich Dynamik und Spannung in der Erzählung.

Schritt 8: Zu fünft wird die Geschichte aus einer bestimmte Erzählerperspektive wiedergegeben. Z.B. aus der Perspektive des Odysseus, des König, einer Tochter, des Schiffkochs,… Hierbei erzählt eine Person, während die anderen vier das Gesagte synchron bebildern. Je nach Perspektive werden andere Geschichten konstruiert, die jedoch einen gemeinsamen Kern aufweisen.

Im Laufe der unterschiedlichen Techniken wird die Geschichte Odysseus mehr und mehr zu unserer Geschichte. Die Grenze zwischen der Textvorlage und uns als Sprecherinnen und Sprechern beginnt zu zerfließen. Wir selbst erleben die Verzweiflung des Odysseus, die Neugier und den Neid seiner Männer, die Wut des Äolus und die enge Familienbande. Unsere Körper und Stimmen werden zu bespielbaren Instrumenten, mit denen wir uns die Geschichte aktiv einverleiben können. Handlungsleitend ist nicht die klassische Frage des Oberstufen-Deutschunterrichtes „Was will uns der Autor sagen?“, sondern die Frage: „Welche Bedeutungen entwickeln sich für mich in der Auseinandersetzung mit dem Text und wie drücke ich dies sprachlich aus?“

Eine Teilnehmerin äußert sich so: „Unser Ziel war es, eine Aufführung zu machen und ich hab das Gefühl, Mario hat uns angeschoben unsere eigene Geschichte zu erzählen. Mario ist nur da, um uns zuzuhören. Zu fragen, was sind unsere Interpretationen der Geschichte. Das ist total gegensätzlich zur Uni. Dort müssen wir zuhören und sagen was der Lehrer will. Und hier ist es grenzenlos, das ist echt grenzenlos, das kann man im Unialltag nicht so spüren.“

4. Schwerpunkt: Die Entwicklung von Szenencollagen für die Aufführung - Auf dem Weg in die eigene Odyssee.

In festen deutsch-französischen Gruppen von fünf bis sechs Teilnehmerinnen und Teilnehmern sollen nun eigene Szenen für die Aufführung entwickelt werden. Die erste Aufgabe innerhalb der Gruppen ist es, ein Plakat zur Geschichte von Odysseus zu erstellen. Jede Person hat die Chance ihr Bild zu stellen, indem sie die anderen als Figuren positioniert. Es treten Grenzen in der Kommunikation auf. Weil wir es im Alltag gewohnt sind, unsere Ideen sprachlich mitzuteilen, versuchen wir es zunächst auf diese Weise.

Sehr schnell stellt sich heraus, dass es ein sehr zeitraubender Prozess ist. Jede Frage, jede Antwort und die symbolische Bedeutung einer Haltung müssen in die jeweils andere Sprache übersetzt werden. Es reicht nicht aus die anderen zu stellen, sie wollen die Bedeutung der einzelnen Elemente des Plakates verstehen. Wir müssen nach anderen Kanälen der Kommunikation suchen. Wir zeigen körpersprachlich die gewünschte Position, formen die anderen, machen mimisch und gestisch deutlich, was die Figur denkt. Nachdem jeder sein Bild geformt hat, gilt es sich in der Gruppe zu einigen. Es sollen zwei Standbilder ausgesucht und dann bewegte Übergänge von einem Bild zum nächsten erprobt werden.

In unserer Gruppe kommt es zu Differenzen. Es scheint unmöglich zu sein, sich auf ein Bild zu einigen, weil unterschiedliche Meinungen aufeinanderprallen. Statt aus den bereits bestehenden Bildern auszuwählen, kommen neue Ideen. Diese werden jedoch nur sprachlich geäußert und sofort wieder verändert. Es entsteht eine solche Dynamik, dass die simultane Übersetzung in die jeweils andere Sprache nicht mehr gelingt. Ich werde als Figur hin und her geschoben, ohne zu wissen, was als Idee dahintersteckt. Dies erlebe ich als verletzende Grenzüberschreitung. Ich fühle mich fremdbestimmt, als Objekt benutzt. Es kommt zu einem heftigen Streit in der Gruppe, der uns auseinander wirft. Die Gruppe zerstreut sich im Raum, eine Chance einen Blick aus der Distanz zu tun.

Was ist geschehen? Wir haben die Basis des gegenseitigen Verstehens verlassen, indem wir die bisher etablierten Bilder über den Haufen warfen und nach „besseren“ neuen Bildern suchten. Anstatt unseren Fundus zu nutzen, werden die Bilder jedes Einzelnen als ungenügend abgewertet. Während die zuvor erstellten Bilder eine körpersprachliche Brücke in der Kommunikation bildeten, waren wir nun in der Verständigung blockiert.

Bei der Vorführung vor der Gesamtgruppe wird dies deutlich. Über das Feedback der Zuschauenden erfahren wir, dass sie die Bilder nicht interpretieren können. Es gelingt ihnen nicht eine Beziehung der Figuren herzustellen. Über einen Zeitraum von anderthalb Tagen wird die Gruppenarbeit zu unserer persönlichen Odyssee. Immer wieder machen wir uns auf zu neuen Ufern, rudern jedoch in unterschiedliche Richtungen und wünschen uns die Auflösung der Gruppe. Diese Möglichkeit ist jedoch ausgeschlossen, da alle anderen Gruppen sich bereits auf den Weg gemacht haben. Wir kehren zu den ursprünglichen Plakatvorschlägen zurück und beginnen die Arbeit von vorn. Diesmal aber mit einer größeren Dialogbereitschaft, so dass wir schnell in einen kreativen Prozess gelangen.

In den nächsten Tagen wird in Abschnitten immer wieder an der Verfeinerung dieser Szenen gearbeitet, da sie Hauptbestandteil der Aufführung werden sollen. Sie werden bis auf fünf Standbilder ausgeweitet mit den dazwischen zu gestaltenden Übergängen. Auch in anderen Gruppen treten ähnliche Schwierigkeiten wie bei uns auf. Immer wieder stoßen die Grenzen zwischen Ich und Anderem aufeinander, die das Wir in Frage stellen. Die Auseinandersetzung mit dieser Grenze wird für die meisten zur größten Herausforderung innerhalb der Arbeitswoche. Die Arbeit an den Szenen wird zu einem Ringen um Distanz und Nähe, bei der es immer wieder darum geht, bei aller Abgrenzung nach Kompromissen zu suchen.

Schließlich soll am Ende eine Theateraufführung stehen. Die Chance dieser Auseinandersetzungen liegt in der Selbstentdeckung und der Entdeckung der Anderen, die Mario Fraschetti als wesentlichen Bestandteil seines Vorgehens beschreibt: „Zu erfahren, wie viele Möglichkeiten man hat. Ich habe immer etwas zu lernen von den Leuten. Es gibt keine zwei Steine von Millionen, die gleich sind. Also ist es auch schwer zwei Personen zu finden, die gleich sind. Es ist spannend zu erfahren, wer die anderen sind und wer ich bin.“

Am Ende der Woche steht ein ästhetisches Produkt, das alle Beteiligten mit Stolz erfüllt. Es ist uns allen gelungen, sich selbst mit seiner Individualität in einer Gruppe als schöpferisches Element zu erleben. In der Theateraufführung überschreiten wir die letzte Grenze innerhalb des Seminars. Was wir zuvor in einem geschützten Rahmen inszeniert haben, wird nun vor einem öffentlich Publikum präsentiert. Jeder steht nun als Teil des Ganzen im Scheinwerferlicht. Ein Teilnehmer äußert sich so: „Man ist ein Element im Ganzen und alle wundern sich, was am Ende bei der Aufführung herauskommt. Es ist ein wunderbares Gefühl zu erleben, das wir gemeinsam so etwas zustande bringen.“

Erfahrungen mit dem Fremden

Hier sollen nun einige französische und deutsche Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu Wort kommen. In Gesprächen haben sie ihre Erfahrungen im Ungang mit dem Fremden geschildert.

Frage: Was war das Besondere an diesem Seminar?
  • „Ich fühle mich mehr in Harmonie mit meinem Körper. Z.B. wenn wir fertig sind mit den Übungen, machen wir Musik an und tanzen einfach. Das würde ich zuhause nie machen. Ich kann mir besser zuhören und auch den anderen. Ich traue mich, dass zu machen, was ich einfach in dem Moment fühle. Dann habe ich viele Leute wirklich entdeckt, das ist eine besondere menschliche Erfahrung.“
  • „Es ist dieses Gefühl der Freiheit. Ich fühle mich nach dem Seminar viel freier, weil ich die Chance hatte mich zu entwickeln. Ich konnte viel über mich selbst und die anderen lernen.“
  • „Ich habe ganz, ganz viele schöne Menschen gesehen.“
  • „Ich habe mich amüsiert wie ein kleiner Verrückter, un petit fou.“
  • Es ist die Gruppe. Es ist ein wahnsinniger Gruppenzusammenhalt am Ende des Seminars. Es werden Pläne geschmiedet werden, wo man sich wieder sieht und was dann auch wirklich in die Tat umgesetzt wird. Weil man miteinander auf Ebenen gewandelt ist, was man im Alltag einfach nicht machen kann. Sich in der Gruppe etwas zu trauen. Z.B. vor allen zu zweit etwas vorzutanzen, und dabei Fehler zu machen oder auch nicht, dabei rot zu werden oder auch nicht und so was.“

Frage: Was war das Besondere an der Entstehung der Aufführung?
  • „Wir haben das Stück alleine gemacht, in dem wir einige Szenen gespielt haben und Mario macht Verbesserungen. Wir machen alles zusammen, zusammen leben, zusammen arbeiten und zusammen feiern.“
  • „Wir haben ja mit einer Geschichte angefangen. Das war der Kern und dann haben wir Schritte gemacht und es kamen immer mehr Elemente zusammen. Es ist ein bisschen wie beim Tango. Da kommen meine Schritte, dann die des Partners und dann tanzen wir zusammen. Ich komme mit, nicht nur der Fuß, sondern der ganze Körper entwickelt sich mit der Geschichte.“

Frage: Was bietet dieses Projekt an Lernmöglichkeiten, die es im normalen Universitätsalltag nicht gibt?

  • „Es ist die Chance sich selbst auszuprobieren, darzustellen, anstatt nur nachzumachen. Die ersten Male als Teilnehmerin habe ich immer probiert, das was Mario gezeigt hat nachzumachen. Jetzt ist das anders. Zu spüren, das ich mit meiner Stimme, mit meinem Körper, meiner Sprache etwas präsentieren kann, gibt unheimlich viel Selbstvertrauen. Man wird sensibel für den Ausdruck der anderen, aber eben nicht nur über die Verbalsprache. Hier ist der binationale/ trinationale Austausch besonders wichtig, da man gezwungen ist auf andere Signale zu achten. Was versteh ich jenseits der Wörter, an Gestik und Mimik?“

Schlusswort von Dietlinde Gipser:

„Das Projekt Grenzüberschreitungen ist ein ganz besonderes: wir haben damit immerhin eine kreative Nische gefunden, von denen es an der verknöcherten Universität zu wenig gibt – oder werden sie zu wenig genutzt? Ich freue mich, dass ich das Projekt nun schon 20 Jahre mit engagierten Kolleginnen und Kollegen durchgeführt habe – trotz vieler Widrigkeiten und Anfeindungen auf verschiedenen Ebenen. Macht es Sinn, so fragen wir uns ab und an, auch heute noch für Lehrinhalte und Lernformen zu plädieren, in denen nicht nur nach Wissensaneignung gefragt wird, sondern der Spaß an der kreativen Gestaltung von Lernprozessen und der interkulturelle Austausch im Vordergrund stehen. Aber immer wieder haben wir erlebt, dass diese Arbeit nachhaltige Wirkungen auf das Lernverhalten und die Motivation der beteiligten Studierenden hat. Die eigene Kreativität wird entfaltet und der eigene Horizont wird erweitert: die Begegnung mit dem Fremden.“

Abhärtung

Kann der Kulturschock

bei derBegegnung
mitfremden
Kulturen
den Schock verringern
den mir

meine eigene bringt?

Erich Fried

Literatur

  • Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater – Die Selbstdarstellung im Alltag, München 2003
  • Jaspers, Karl: Einführung in die Philosophie. München 1998, 21.Auflage
  • Koch; Naumann; Vaßen (Hrsg.): Ohne Körper geht nichts. Berlin 1999