Sozialarbeit

Riskante Kindheit – Eine Herausforderung

von Ronald Lutz

Das Phänomen

Kinder sind für Eltern einkommensschwächerer Familien mittlerweile ein erhöhtes Armutsrisiko. Besonders betroffen sind vor allem Familien mit mehreren Kindern, insbesondere Arbeitslosenfamilien und Familien im Sozialhilfebezug, sowie alleinerziehende Frauen. Das läßt sich auch anders ausdrücken: das Armutsrisiko Kind verbreitet sich immer stärker mit bisher kaum abschätzbaren Folgen. Die Fakten sind dabei eindeutig: Im Sozialhilfebezug sind Kinder deutlich überrepräsentiert, in Obdachlosenasylen und Familiennotunterkünften nehmen Kinder prozentual zu. Das Phänomen Jugendlicher, die auf der Straße leben, verbreitet sich in der BRD langsam aber stetig. Das Schlagwort der Straßenkarrieren hat auf Jugendhilfe-Tagungen Konjunktur.

Die Grundthese in den Diskursen zu diesem Phänomen lautet deshalb: Veränderte Sozialisationsbedingungen, veränderte Familienstrukturen, Subjektivierung und Enttradierung in der Risikogesellschaft, erhöhte soziale und ökonomische Risiken sowie der Abbau sozialstaatlicher Maßnahmen haben zu einer sprunghaften Zunahme sozialer Spannungsfelder geführt, in deren Folge zunehmend Verarmungsprozesse in Gang gesetzt werden, von denen insbesondere Kinder und Jugendliche als schwächste Mitglieder der Gesellschaft am stärksten betroffen sind.

Dabei wissen wir einiges über die realen Fakten, verstehen die Ursachen immer genauer, die zum einen in der unübersehbaren Arbeitslosigkeit zum anderen aber in einer Re-Ökonomisierung sozialer Ungleichheit liegen, die zur strukturellen Benachteiligung ganzer Bevölkerungsgruppen führt. Das zeigt sich in der Zunahme der sogenannten „working poor", Menschen, die trotz Erwerbstätigkeit nur eingeschränkt am durchschnittlichen Wohlfahrtsniveau partizipieren können; das zeigt sich auch in neuen Schließungs- und Segregationsprozessen im Wohn- und Freizeitbereich, die zu einer Quartiersaufteilung der Städte führen, in denen Armut und Reichtum deutlich voneinander getrennt leben.

Das alles schlägt auf die Lebenschancen insbesondere der Kinder und Jugendlichen durch. So wird unsere gesellschaftliche Realität mit zunehmend mehr Kindern und Jugendlichen konfrontiert, deren Lebenslage von sozialer Gefährdung und struktureller Benachteiligung geprägt sind. Über die Auswirkungen dieser Entwicklungen wissen wir, trotz einer regen Publikationstätigkeit, bisher nicht allzu viel. Dennoch sollen einige Thesen genannt werden, um schließlich die Herausforderung, vor der wir stehen, zu skizzieren. Die Auswirkungen zeigen sich dabei als ein allmählicher Prozeß, der mit Einschränkungsstrategien beginnt und schließlich die Kinder selber betrifft.

Einschränkungsstrategien

Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Benachteiligung führen vermehrt zu massiven Einschränkungen in vielerlei Lebensbereichen. Die Lage wird dann verschlimmert, wenn Kinder zu versorgen sind. Eltern versuchen dabei oft, ihre Kinder von den materiellen Folgen der Armut abzuschirmen. Ohne die Kinder könne man sich mit der Situation besser arrangieren. Man versuche deshalb die Kinder, so gut es geht, optimal zu versorgen; das bedeutet dann aber mitunter massive Reduktionen bei den Bedürfnissen der Erwachsenen.

So wird versucht, bei den Kindern nicht zu sparen; Schuhe und Sachen für die Schule sollten schon in einem guten Zustand sein. Man versucht die Kinder vor den Folgen einer prekären Lebenslage, die zum Spott anderer Kinder führen könnte, zu schützen. Dabei helfen dann auch Verwandte und Bekannte aus. Manche Frauen haben wieder angefangen zu stricken; Reparaturen von Bekleidungsstücken sind wieder Normalität geworden. Die Einschränkungen werden noch massiver, wenn die Kinder tatsächlich darunter zu leiden beginnen. Hier versucht man, wo es möglich ist, gegenzusteuern. Da schränkt sich dann die Mutter oder der Vater massiv ein, um dem Kind bspw. den Musikschulbesuch zu ermöglichen. In einem Interview wurde die Tragik desselben deutlich: die eine Tochter wollte gerne ein Musikinstrument erlernen und die andere am Englisch-Unterricht im Kindergarten teilnehmen, das war aber finanziell nicht drin. Die Kinder kennen die Situation und definieren sie: sie fragten daraufhin ihren Vater, ob sie pleite seien.

Die kurz geschilderten Einschränkungsstrategien beleuchten, wie prekäre Lebenslagen sich auswirken können. Sie haben insbesondere bisher kaum bekannte Auswirkungen auf kindliches Empfinden und kindliche Lebenswege. Kinder spüren die Sorgen ihrer Eltern deutlich und machen sie zu ihren eigenen bzw. sie beginnen darunter zu leiden, daß es anderen offensichtlich besser geht. Kinder spüren sehr genau, wenn ihre Eltern Sorgen haben! Sie können sich dies kaum erklären und führen es mitunter auf ihre „Minderwertigkeit" zurück.

Kinder bewältigen aber auch diese Situation desto besser je intakter ihre Familie und ihr soziales Umfeld sind. Doch mit der Dauer der Benachteiligung ist diese intakte Struktur zunehmendem Druck ausgesetzt und Kinder fliehen schließlich aus konfliktbelasteten Elternhäusern auf die Straße und damit in andere prekäre Situationen, die zu neuen Belastungen führen. Die geschilderten Einschränkungsstrategien verlieren spätestens dann ihre Wirksamkeit, wenn sie nicht mehr vollzogen werden können. Das beginnt mit einem weiteren Abstieg auf der ökonomischen Leiter: vom Arbeitslosengeld zur Arbeitslosenhilfe und schließlich zur Sozialhilfe. Irgendwann wird die Wohnung zu teuer, die Familie muß umziehen – und mit ihr die Kinder. Dieser Umzug ist zumeist mit einem veränderten, überwiegend schlechterem Wohngebiet verbunden. Der Abstiegsprozeß kann schließlich noch weiter gehen: Alkoholismus der Eltern, Gewalt in der Familie, Wohnungsverluste, Trennungen.

Auswirkungen

Die dargestellten Einschränkungsstrategien und Abstiegsprozesse haben Auswirkungen, die thesenhaft skizziert werden sollen:

  1. Die schulische Ausbildung ärmerer Jugendlicher eröffnet diesen weniger Chancen für ihre Zukunft. So sind ärmere Kinder deutlich eher in der Hauptschule zu finden. In letzter Zeit berichten vermehrt Schulen davon, daß Kinder nicht mehr an Ausflügen teilnehmen können und die Ausreden der Eltern hierzu immer verworrener werden.
  2. Ärmere Kinder und Jugendliche fühlen sich stärker seelisch belastet und erleben ihre Situation auch mitunter direkter und bedrängender als ihre Eltern dies wahrhaben.
  3. Es läßt sich eine Zunahme an Gewalt und Kriminalität, auch Rechtsradikalismus, feststellen, der zwar nicht direkt auf Verarmungstendenzen rückführbar ist aber dennoch in diesem Zusammenhang gesehen werden muß.
  4. Eine Zunahme an Kinderarbeit ist beobachtbar!
  5. Die Gefahr der „Sozialhilfe-Dynastien", der Tradierung von Unterstützungs-Abhängigkeit über mehrere Generationen, wächst wieder.
  6. Ein notwendiger Wohnungswechsel geht oft zu Lasten der Kinder:
    • Er ist mit einem Wechsel in ein schlechteres Wohnumfeld verbunden und zieht
    • Einen Kindergarten-, Schul- und Freundeskreiswechsel nach sich.
  7. Es bilden sich wieder verstärkt „Soziale Brennpunkte"; Kinder- und Jugendarmut ist vermehrt auch ein Aspekt räumlicher Folgen und Ursachen sozialer Benachteiligung - insbesondere in Städten.
  8. Zwangsräumungen sind oft traumatische Erlebnisse für Kinder.
  9. Armutslagen haben auch Auswirkungen auf die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen:
    • Einsparungen beim Essen und Verzicht auf hochwertiges Essen,
    • weniger warme Mahlzeiten,
    • Schwächung des Immunsystems, mehr Infektions-Krankheiten,
    • länger dauernde Heilungsprozesse;
    • frühzeitige Gesundheitsschäden sind so durchaus wahrscheinlicher.
  10. Der soziale Rückzug der Eltern hat Auswirkungen auf die Kinder: auch sie ziehen sich zurück, ihre Freudeskreise sind verstärkt Gruppen ähnlich Betroffener. Es bilden sich Armutssubkulturen, in denen Armut sich schließlich verfestigt und tradiert.

Hintergründe

Wir sind sozialstrukturell mit einer zunehmenden Schließung sozialer Schichten konfrontiert: die Debatte über eine neue „underclass", die wissenschaftsintern stark geführt wird, zeigt dabei, daß wir es offensichtlich mit einer neuen Unterschichtung der BRD-Gesellschaft zu tun haben, die entlang stärker wachsender Einkommensdifferenzen, einem größer werdenden Gefälle zwischen arm und reich, schließlich zu einer dauerhaften Verfestigung sozialer Ausgrenzung führt. In diesen Prozessen werden immer mehr Menschen dauerhaft von Arbeit, eigenen Einkommen und Partizipationschancen ausgeschlossen. Die „Entbehrlichen" der Arbeitsgesellschaft nehmen zu und formieren sich als erkennbare soziale Gruppierung, eine neue „Unterklasse" formt sich.

Diese Re-Ökonomisierung sozialer Ungleichheit verläuft dabei vor allem entlang ungleich verteilter Lebenschancen: noch immer oder wieder sind die Chancen ungleich verteilt, Angehörige unterer sozialer Schichten haben dabei strukturell schlechtere Bildungschancen. Sie sind von vornherein benachteiligt und der sich konzentrierende Reichtum sorgt zugleich für eine verstärkte Konzentration von Lebenschancen in den Händen einer schmaler werdenden sozialen Mittel- und Oberschicht – wie anders sind bspw. die Debatten über Studiengebühren und der ganze Elitediskurs zu werten? Für eine größer werdende Gruppe von Menschen, für eine sich konstituierende „underclass" eben, verfestigen sich schlechtere „Startbedingungen", es gibt so aber erkennbare Tendenzen zu einer Tradierung von Armut über die Generationen hinweg.

Herausforderungen

Dies hat zweifellos brisante politische Bedeutung, die der neuen rot-grünen Regierung eine schwere Hypothek und eine immense Erwartungshaltung in die Wege legt. Allerdings gehe ich kaum davon aus, daß diese Regierung hier wirklich grundlegende Korrekturen vornehmen will oder kann – der sozialdemokratische Reformismus und die Angst vor echten Reformen auf beiden Seiten werden dies zu verhindern wissen. Es zeigt sich aber auch eine pädagogische und sozialpolitische Herausforderung, die in der sozialpädagogischen Profession verstärkt diskutiert werden sollte und einen neuen Blick auf eine Pädagogik der Unterdrückten und deren Notwendigkeit wirft. Dies will ich thesenhaft andeuten.

In der Sozialpolitik und in der Pädagogik wird ein neues Kindheitsmodell erforderlich; bisher

  • haben Kinder lediglich einen abgeleiteten Status
  • und verschwinden weitgehend in der Familie bzw. sind von deren Ressourcenausstattung abhängig.

Ein neues Kindheitsmodell muß hingegen verstärkt das Kind als eigenständiges Subjekt begreifen und somit auch eine eigenständige Kinderpolitik begründen. Pädagogik und Sozialpolitik müssen sich in ihren Konzepten und Theorien von der Idee eines „Schonraums Kindheit„ befreien; Kinder sind stattdessen als eigenständig handelnde Wesen zu begreifen. Dabei können wir von Paulo Freire lernen: Es geht darum mit den benachteiligten Kindern und Jugendlichen in einen Dialog zu treten, sie in ihrer Benachteiligung verstehen zu lernen, ihre Situation zu begreifen um hieraus eine Pädagogik zu entwickeln, die sie nicht als unmündig begreift, sie nicht auf einen Schonraum Kindheit festschreibt, den die bürgerliche Gesellschaft und die ihr hörige bürgerliche Pädagogik entworfen hat, und ihnen dabei Vorstellungen bürgerlicher Normalität oktroyiert, die sie nicht erreichen können, an denen sie bereits in frühester Kindheit gescheitert sind.

Mit ihnen zu arbeiten heißt von ihnen zu lernen; mit ihnen zu arbeiten heißt Wege gegen Benachteiligung zu finden, die nicht neue Benachteiligungen konstruieren, indem Ziele aufgebaut werden, die unerreichbar bleiben. Beeindruckt hat mich vor kurzem die Aussage eines Jungen, der auf der Straße lebt: es sei normal zu klauen; wer nicht klaue, der sei arm. Er lebt von und mit den Zielen einer Gesellschaft, die Armut als individuelle Schuld verkauft. Um diesem Teufelskreis zu entgehen sucht er nach eigenen und individuellen Lösungen, die aber eigentlich keine sind, aber durchaus gesellschaftlichen Wertvorstellungen entsprechen: jeder muß sehen wo er bleibt und wer gut und stark ist, der schafft es – nur leider hat dieser Junge dabei einiges durcheinander geworfen. Doch das ist nicht seine Schuld; wie soll er begreifen, daß das Klauen eines Autos grundsätzlich anders zu bewerten ist als die Steuerhinterziehung von Reichen, die bewußt Verluste machen um so Steuern zu sparen bzw. Investitionen langfristig abschreiben zu können.

Wir müssen uns noch stärker als bisher von dem Denken lösen, daß der Einzelne viel an seiner Lage zu verändern vermag, indem er sich anständig verhält bzw. den Zielen und den Maßnahmen seiner Pädagogen brav Gehör schenkt. Wir müssen vielmehr Armut und Benachteiligung wieder als ein strukturelles Problem kapitalistischer Gesellschaften begreifen, das nur strukturell gelöst werden kann. Das heißt dann aber auch, daß wir neu darüber nachdenken müssen, wie wir pädagogisch der verstärkten ökonomischen Schließung der Gesellschaft, die es ganzen Menschengruppen verwehrt am Wohlstand zu partizipieren, begegnen können.

Das hat seine Auswirkungen auf die Arbeit mit Kindern, die bereits benachteiligt sind. Darin nun wird die Pädagogik notwendig erneut politisch und schafft Raum für eine befreiende Pädagogik, die über das Bewußtsein der eigenen Lage zu deren Veränderung kommen will. Nur hierin sehe ich die Chance, die uns Paulo Freire eröffnen kann – alles andere wäre eine Einführung seiner Theorie und Ethik in affirmative Konzepte bürgerlicher Pädagogik, die am Schonraum Kindheit festhält und in der irrigen Annahme verweilt, über „gescheite" und pädagogisierende Erziehung strukturelle Benachteiligungen zu kompensieren.

Eine befreiende Pädagogik in der Kinder- und Jugendarbeit steht angesichts der skizzierten Entwicklungen vor einer großen Herausforderung: sie muß Kinder und Jugendliche jenseits des familiären Kontextes als eigenständige Wesen wahrnehmen. Sie muß die Rechte von Kindern und Jugendlichen auch gegen die bürgerliche Heiligkeit der Familie und staatlicher Willkür wahren und auch verteidigen. Und über Kinder und Jugendliche wird sie gleichsam zu einer Pädagogik der unterdrückten Familie und damit zu einer Pädagogik der Unterdrückten in modernen Gesellschaften, die sich erneut sozial schließen.

Die Pädagogik ist dabei aufgefordert, von jenen Kulturen zu lernen, die ohnehin nur in ihren elitären Oberschichten jenen Schonraum Kindheit entwarfen ansonsten aber sich einen Dreck um die Kinder der Armen scherten – in Lateinamerika und anderswo. Von den Bewältigungsstrategien dieser Ausgegrenzten und der darauf reagierenden Pädagogik (eben der Pädagogik der Unterdrückten) kann die Pädagogik in Zeiten einer verstärkter Klassenbildung in der BRD nur lernen. Eine befreiende Pädagogik war nämlich immer auch eine Pädagogik der Unterdrückten, der ausgebeuteten und ausgegrenzten Klassen. Angesichts der Kinder- und Jugendamut bei uns, die eine Armut der Ausgegrenzten ist, gewinnt diese Pädagogik neue Relevanz. Wir sollten die Chance nutzen sie zu entwickeln.

Ein weiterer Artikel liegt vor: