"Straßenkinder" unserer Welt und in Deutschland

von Dieter Wolfer

Bereits Anfang der 90er Jahre wurde auch in Deutschland auf „Straßenkinder“ in Medien und Fachpublikationen aufmerksam gemacht. Damals wurde in den Medien und sonstigen Publikationen Zahlen von 2.000 bis 50.000 „Straßenkinder in Deutschland“ veröffentlicht.[1]Einer Erhebung des Kinderhilfswerks terre des hommes zufolge leben heute zwischen ca. 9000, in weiteren Zeitungsberichten bis zu 20000 Minderjährige in Deutschland ganz oder teilweise auf der Straße.[2]

Das Zahlenmaterial bezieht sich auf verschiedene Statistiken sowie auf unterschiedliche Definitionen des Begriffs „Straßenkinder in Deutschland“. Mitte der 90er Jahre engagierte sich das Gustav Stresemann Institut „Straßenkinder unserer Welt“ für das Thema und lud in Bonn zu unterschiedlichen Tagungen ein. Es wurde das Aktionsbündnis Lebensort Straße: Kinder und Jugendliche in besonderen Problemlagen durch das BMFSFJ für drei Jahre gegründet.

Bei diesem Programm waren vier Träger in verschiedenen Städten beteiligt. Für Dresden wurde der VSP beauftragt. Es entstanden in Dresden eigene Publikationen3[3]. Aus der Praxis heraus wurde der Begriff Junge Menschen in besonderen Problemlagen bzw. besser „Lebenslagen“ verwendet, weil Stigmatisierungen in der praktischen Arbeit vermieden werden sollten.

Junge Menschen werden mit ihren - gerade trotz einschneidender Lebenserfahrungen – besonderen Kompetenzen, Stärken und Fähigkeiten betrachtet und angenommen. Dies unterstreichen lösungs- und ressourcenfördernde Ansätze. Auch die Dringlichkeit beim Arbeiten mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen soll herausgestellt werden. Es wurde auf die Gefahren des Lebens- und Freizeitort „Straße“, aber auch auf Lernerfahrungen in Peer-Groups aufmerksam gemacht und diese reflektiert.

Unterschiedliche Begriffe und Definitionen

Unterschiedliche Begriffe ranken sich um den stigmatisierenden Begriff der „Straßenkinder“. So lässt sich auch das unterschiedliche Zahlenmaterial erklären, da jede Stadt, jeder Sozialraum, jede Einrichtung und jede/r Einzelne unterschiedliche Definitionen im Begriff sieht. Um dies zu verdeutlichen soll an dieser Stelle nochmals auf unterschiedliche Begriffe und Definitionen aufmerksam gemacht werden. Diese beziehen sich vor allem auf Erfahrungen in Deutschland und Lateinamerika.[4]

Nach Hannes Kiebel gibt es in der Bundesrepublik Deutschland: „Straßenkinder, bzw. -jugendliche; Ausreißer/innen; Wegläufer/innen; Trebegänger/innen; wohnungslose Jugendliche und junge Menschen; wandernde, vagabundierende und stromernde Jungen und Mädchen; HerumstreunerInnen.“[5]Ergänzt wird dies von Degen: „AussteigerInnen, HinläuferInnen, obdachlose Minderjährige“.[6] Außerdem werdengenannt:Gassenburschenund-mädchen, mobile Kinder, vergessene und allein gelassene Kinder und Jugendliche usw.

Auch im Englischen sind die Begriffe sehr ähnlich: „In the past, troublesome youths included such often-overlapping categories as vagrants, transients, vagabounds, ophans, truans, trampers, nomads, street children, and runaways.”[7]

Mittels dieser Begriffe wird zwar der Lebensraum, in dem sich die Kinder und Jugendlichen bewegen, deutlich - aber auch unterstellt, dass sie ihr Schicksal selbst gewählt hätten und „selbst Schuld“ an ihrer Situation seien und diese verursacht hätten. Denn schließlich sind sie die Ausreißer (runaways). „Als Straßenkinder gelten demnach diejenigen, die keiner „ernsthaften Arbeit“ nachgehen, sondern in den Straßen herumstreunen, -lungern, Drogen nehmen oder von ‘unsozialen’ oder illegalen Tätigkeiten leben.[8]

Die Auflistung lateinamerikanischer Bezeichnungen für „Kinder der Straße“ kennt sowohl verniedlichende, als auch herabsetzende Ausdrücke. Es wird bspw. durch den Schimpfnamen des gefräßigen piraña deutlich, „was sie von uns wollen“: Geld ­­– entweder durch Betteln oder Stehlen. Dies ist aber eher die Sicht der „reicheren Schichten“. Ausdrücke wie „Pferdchen“ zeigen vielmehr die mitfühlende, solidarische Sicht der Bevölkerungsschichten, die in Lateinamerika schon seit Generationen unter ärmsten Bedingungen um ihr eigenes Überleben kämpfen müssen.

Manfred Liebellistet die populärsten Bezeichnungen von 16 lateinamerikanischen Ländern auf. Einige davon sind: riesgo cien: Risiko Hundert; cabros: Ziegenböcke; pelones: Glatzköpfe; palomos/as: Tauben; chiquilines: Kinderlein, trobadinhas: kleine Straßendiebe; und im Andengebiet: gamines[9]; chinos (Kolumbien); petisos: Pferdchen; pirañas; pajaros fruteros: Obst essende Vögel (Perú) polillas: Motten (Bolivien); guambras (Ecuador).[10]

Auch durch diese Begrifflichkeiten wird nicht deutlich, dass Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene gute Gründe dafür haben, sich den Lebensraum Straße bzw. öffentliche Räume und Plätze zu erobern. Es kommt kaum zum Ausdruck, dass sie durch strukturelle, psychische und physische Gewalt die Straße ihrem Elternhaus, Wohngruppen oder Heimen vorziehen, obwohl sie auf der „Straße“ wiederum Gewalt und Willkür erwartet. Ebenso wenig wird einbezogen, dass die Straßen und Plätze seit Menschengedenken immer schon Versammlungsorte und Treffpunkte von (jungen) Menschen waren.

So sind „Irritationen“ beim Wort Straßenkinder vorgegeben. „Obwohl ich mich weigere, bei Menschen über Definitionsfragen zu reden, möchte ich doch den Versuch einer Beschreibung verschiedener Erscheinungsformen wagen, die ich unter dem Begriff der Straßenkinder ein-ordnen will. Ich habe auch nicht vor, mich in die bestehende Diskussion zwischen diversen Fachleuten einzumischen, was denn nun Straßenkinder eigentlich sind. Sicher gibt es hierüber mehr als zwei Meinungen, die ich gerne stehen lassen will.[11]Jedenfalls haben sie „Schwierigkeiten mit Wohnen, Alkohol und anderen Drogen, Behörden und Ämtern, mit dem Gesetz und dessen Vertretern.[12] Auf der Straße herrscht bereits die zweite Generation der „Asphaltkinder“ über die erste. Ganze Familien leben auf der Straße.[13]Während hier das Verhältnis zur Familie als Unterscheidungskriterium genommen wird, wird in zunehmendem Maße auch das Verhältnis zur ‘Arbeit’ als wesentlich angesehen.[14]

Kinder müssen in vielen Ländern bereits sehr früh arbeiten, um überleben zu können. Also leben sie, jedenfalls tagsüber, bereits auf der „Straße“ in ihrem Viertel und haben Kontakt zu Freunden, die vielleicht schon fest in der „Straße“ leben. Es kann in Bezug auf Lateinamerika und der sog. Dritten Welt allgemein von arbeitenden Kindern[15] gesprochen werden, die noch Kontakt zu ihren Familien haben können oder alleine auf und in der Straße leben. Während der Begriff der arbeitenden Kinder, Kinder aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit erfasst, versucht die Bezeichnung sog. Straßenkinder[16] den (sozialen) Lebensraum zu definieren. Wird das Verhältnis der Kinder und Jugendlichen zu ihrer Familie, also ihren Bezugssystemen, als Maßstab genommen, verwenden Autoren, die ihren Schwerpunkt in Lateinamerika sehen, Ausdrücke, die von UNICEF geprägt wurden:

a.) Die „Kinder auf der Straße“ mit Bezugssystemen zum Elternhaus, arbeiten und verbringen den größten Teil ihrer Zeit „auf der Straße“ und

b.) die Kinder (in) der Straße“.Sie haben kaum noch Kontakt zu ihren Eltern, leben, arbeiten und schlafen „in der Straße“.

Ressourcenorientierung

In Deutschland wird die Bezeichnung der sog. Straßenkinder oder streetkids verwendet, meist bezieht sich dies jedoch auf Jugendliche,[17] schließt sie jedenfalls mit ein. Kinder in Lateinamerika hingegen weisen daraufhin, dass sie bereits Jugendliche[18]seien und wollen als solche bezeichnet werden. Sie begründen diese Forderung nach Anerkennung mit der Verantwortung, die sie durch Arbeit für sich, für ihre Familie oder für ihre Gruppe übernehmen. Nach Liebel ist der Begriff der Straßenkinder (niños/as callejeros) ein den Kindern „übergestülpter Fremdbegriff“. Er hat stigmatisierende Wirkungen und löst „negative Assoziationen“ aus. In Deutschland begegnet mir der Begriff in der jeweiligen „Szene“, am Bahnhof, von Jugendlichen, die in der Straße bzw. in Abbruchhäusern, bei Freunden wohnen; aber auch in Cliquen, die lediglich ihren Treff- und Freizeitmittelpunkt auf die Straße verlegen. Bereits dieses „Treffverhalten“ der Kids bzw. großer Cliquen löst in Deutschland Konflikte mit Anwohnern, Passanten oder Betreibern und somit die Intervention von Polizei bzw. Jugendsozialhilfe aus.

Kinder und Jugendliche, die sich für eine alternative Lebensform wie eine Straßenkarriere entscheiden, sind zu akzeptieren. Sie sind ein Bestandteil unserer Gesellschaft. Ihnen müssen mehr Rechte eingeräumt, es müssen Stigmatisierungen entgegengewirkt, Minderwertigkeitsgefühle abgebaut, die jeweiligen vorhandenen Kapazitäten entdeckt und auf eigenen Erfahrungen aufgebaut werden. Hinzu kommt die Forderung, Demokratisierungsprozesse zu stärken und Mitspracherechte bzw. eigene Organisationsformen aufzubauen und zu fördern. Gleichzeitig soll aus sozialpädagogischer Sicht präventiv dazu beigetragen werden, dass Mädchen und Jungen sich nicht unbedingt den Lebensraum der Straße erschließen müssen. Dies impliziert politische, pädagogische und ideologische Forderungen, aber auch finanzielle Mittel und Stellen müssen bereitgestellt werden.

Der Verarmung von Bevölkerungsschichten und dem damit verbundenen Phänomen der „Kinder der Straße“ kann nur vorgebeugt werden, indem wir ernsthafte lokale und regionale Ursachenforschung betreiben. Dabei sind globale Zusammenhänge mit einzubeziehen, die Chancenungleichheit bedingen, Perspektivlosigkeit, Wegzug und Armut befördern. Indem wir Mädchen und Jungen in (außer-) gewöhnlichen Situationen, in besonderen Problem-, Lebens- und Mehrfachbedarfslagen, allein gelassene Kinder und Jugendliche, also die „Sozial-Waisen“ der Gesellschaft, subjektorientiert begleiten und akzeptierend unterstützen. Hierbei sind systematisierte, programmatische, zielorientierte Hilfeplanung und Hilfeplanungsgespräche hilfreich.[19]

Eine qualitativ hochwertige und professionelle „Hilfe“ setzt am Willen und an den situativen Bedürfnissen des (jungen) Menschen an. Sie zeigt Grenzen im gemeinsamen Erleben auf. Sie ist eine fördernde, unterstützende, wertschätzende, also resourcen- und lösungsorientierte Beratung und Begleitung von (jungen) Menschen. Die Straßensozialarbeit/ Mobile Jugendarbeit arbeitet in diesem niederschwelligen Arbeitsfeld und bietet Beratung, Unterstützung und Begleitung an. Um hier Ansätze zur Unterstützung von Praktikerinnen und Praktikern zu bieten, hat der Landesarbeitskreis Mobile Jugendarbeit Sachsen e.V. die Standards für Mobile Jugendarbeit/ Streetwork überarbeitet und bietet Weiterbildungen an.[20]

Auszug aus:

Dieter Wolfer, Ein Leben mit Kindern der Straße. Vermittelnde Pädagogik“ 2. unver-änd. Aufl. , Paulo Freire Verlag, Oldenburg 2005, ISBN 3-86585-214-9

Dieter Wolfer, Dipl. Sozialpädagoge (FH) Coach & Supervisor  (MA)

Gesamtkoordination & Streetwork

bei der Treberhilfe Dresden e.V.

www.treberhilfe-dresden.de

Pressesprecher des LAK Mobile Jugendarbeit Sachsen e.V.

www.mja-sachsen.de

E-Mail: dwtito@gmx.net


[1]vgl. „Menschenrechte aktuell“ Hannover, EKD, Sept. 1994 oder „Ich war nur lästig“ (Heins Rüdiger) in: das Sonntagsblatt, Nr. 49, Dez. 1995

[2]vgl. „Bessere Hilfe für Straßenkinder. Terre des hommes gründet ein bundesweites Netzwerk“ Berliner Zeitung, 12.03.2008

[3]vgl. Arbeitsgemeinschaft „Junge Menschen in besonderen Problemlagen - Leben auf der Straße“ (1999): Praxisbericht 1997–1999, Dresden; Aktionsprogramm des BMFSFJ: „Kinder und Jugendliche in besonderen Problemlagen“, VSP e.V. Dresden Dr. Berith Möller/ Bernd Radloff (Hrsg.): Mädchen und Jungen mit dem Lebensmittelpunkt Straße in Dresden (1998) und „Junge Menschen in besonderen Problemlagen: Lebensort Straße in Dresden (1999)

[4]vgl. Wolfer 2005², S. 126 ff.

[5]Kiebel 1996, S. 7

[6]Degen 1995, S. 27 ff.

[7]Stills 1972, S. 513

[8]Liebel 1994, S. 15

[9]Gamin:  kolumbianische  Bezeichnung  für  ein „Kind der Straße“. Dieser Begriff hat sich weitgehend in Lateinamerika etabliert. Es ist ein negativ besetzter Begriff und bezeichnet Kinder, die nicht „brav“ sind und als „unerzogen“ gelten (vgl. Conto de Knoll, S. 129).

[10]Liebel 1994, S. 14. Die nicht übersetzten Bezeichnungen bezeichnen Kinder der Straße in der jeweiligen Landes-(Gassen-)sprache.

[11]Zöller in Simon/ Becker 1995, S. 244

[12]  Genreith in Steffan 1989, S. 108

[13]vgl.Prangein:ChristlicheInitiativeRomero 1993, S. 31

[14]  Liebel 1994, S. 15

[15]  Arbeitende Kinder oder Kinder auf der Straße, sp.: los/las niños/as trabajadores ó los/las niños/as en la calle

[16]  Streetkids, Kinder der Straße; sp.: los/las niños/ as de la calle

[17]Auch in Deutschland werden verstärkt Kinder und Jugendliche ab neun bis 14 Jahren wahrgenommen, die eine sog. Straßenkarriere beginnen, der Schule fern bleiben oder den größten Teil ihrer freien Zeit (nach der Schule) bis in den späten Abendstunden auf den Straßen und öffentlichen Plätzen zubringen (Mobile Kids, „Schlüsselkinder“).

[18]vgl. Große-Oetringhaus/ Strack, S. 185

[19]Schwabe (2005), Mathias: Methoden der Hilfeplanung: Zielentwicklung, Moderation und Aushandlung. IGFH, Frankfurt a.M.

[20]vgl. www.mja-sachsen.de Zudem finden sich hier Links zu weiteren internationalen Initativen, zur Bundesarbeitsgemeinschaft Streetwork sowie zu Landesarbeitsgemeinschaften und Projekten im Bereich Mobile Jugendarbeit/ Streetwork.