Impulse Paulo Freires für die Religionspädagogik - Erfahrungen aus der Praxis für die Praxis

Friedrich E. Dobberahn

Mit Paulo Freire in Brasilien

Gleich zu Anfang muss ich ein paar Worte zur Schwierigkeit meines Unternehmens sagen. Ich habe acht Jahre lang in Brasilien gelebt und gearbeitet [ 1 ] und habe natürlich nach meiner Rückkehr 1993 nach Deutschland versucht, vieles von dem umzusetzen, was mir in Brasilien wichtig geworden war. Abgesehen einmal von der Herzensbildung des einfachen Volkes, dem ich dort begegnet bin: Denken und Handeln der Befreiungstheologie, die Art der Bibellese, auch Grundgedanken der Freireschen Pädagogik [ 2 ]. Rasch habe ich da gemerkt, dass sich nur relativ wenig auf unseren Kontext übertragen lässt. Die Situation der Kinder und Jugendlichen, denen ich in Konfirmanden- und Religionsunterricht begegnet bin, hat mir aber doch an einer entscheidenden Stelle gezeigt, dass der Freiresche Grundansatz ein wichtiges Element auch unserer Religionspädagogik sein könnte. Mit diesem entscheidenden Punkt will ich beginnen, wenn ich zunächst die Freiresche Pädagogik - auf diesen Grundansatz hin verkürzt - schildere, bevor ich dann auf mögliche Anregungen daraus für unsere Religionspädagogik zu sprechen komme.

„Du bist häßlich,
du stinkst,
du bist krank,
faul und unproduktiv,
du bist dumm und trunksüchtig,
du bist der Abschaum!"
[ 3 ]

Sich solche Beschimpfungen anhören zu müssen (sie können ja auch non-verbal geäußert werden!), das war auch die tägliche Erfahrung der „Favelados" in der Millionenstadt Recife im Nordosten Brasiliens, in einer der ärmsten Regionen dieses riesigen Landes. Solche Erfahrungen sind eben - bis heute - das „tägliche Brot" von Gelegenheitsarbeitern, minderjährigen Prostituierten, unterbezahlten schwarzen Fabrikarbeitern, landlosen Kleinbauern, Arbeitslosen, Müllmännern (wir nannten sie „Athleten der öffentlichen Sauberkeit"), sexuell ausgebeuteten Hausangestellten. Paulo Freire, der in Recife ursprünglich einmal als Rechtsanwalt angefangen hatte, beobachtete nun, dass alle diese Unterdrückten irgendwo doch noch das Bewusstsein hatten, ein „Jemand" zu sein. Nur hatte dieses „Freiheitswissen", das in der Sehnsucht nach Befreiung zum Ausdruck kam [ 4 ], gegen die alltägliche Übermacht der gegenteiligen Erfahrungen keine Chance. Paulo Freire bemerkte, dass die Unterdrückten die menschenverachtende Ideologie ihrer Unterdrücker tief in ihrer Seele „verinnerlicht" hatten. D.h. sie übernahmen praktisch das Urteil ihrer Unterdrücker und entwerteten sich dadurch selbst. Weil sie kein „Selbst" mehr waren, das auf dem Zugang zu eigenen Gefühlen und Bedürfnissen gründet, waren sie natürlich auch unfähig, an ihrer eigenen Situation des Elends aktiv etwas zu ändern.

Daraus ergab sich nun die Aufgabe, die sich Paulo Freire stellte: In einem Prozess der „Bewusstseinsbildung" musste ihr verborgenes, zugemülltes, aber immer noch vorhandenes „Freiheitswissen" wieder an die Oberfläche gebracht werden, um sie, die Unterdrückten, reflektieren und erfahren zu lassen, dass sie in ihrer Lebensgeschichte kein bloßes „Objekt" bleiben mussten, sondern ein „Subjekt", ein „Neuschöpfer der Geschichte" sein konnten. Mit dieser Bewusstseinsbildung ließ sich ein Gegengewicht aufbauen zu der erdrückenden Übermacht der gegenteiligen, alltäglichen Erfahrung.

Der „befreiende" Prozess der Bewusstseinsbildung konnte sich natürlich nicht nur auf die rein intellektuelle Erkenntnis beschränken: es hieß hier auch - gerade auf einem so katholischen Kontinent wie Lateinamerika - den jahrhundertelangen Zynismus der traditionellen kirchlichen Verkündigung zu durchbrechen und den „unendlichen Wert der Menschenseele" gegen das konterkarierende gesellschaftliche Umfeld durchzusetzen. Das aufzubauende „Gegengewicht" - Selbstachtung und Selbstvertrauen - musste auch selbst ein realer Erfahrungswert werden, „Aktion" miteinschließen.

Wer nun etwas von der „Pädagogik Paulo Freires" gehört hat, der verbindet diese mit seiner „Alphabetisierungskampagne". In der Tat hat die Alphabetisierung auch geradezu eine Spitzenfunktion in der praktischen Umsetzung seiner pädagogischen Ideen erlangt. Es ist klar, dass die Alphabetisierung nicht die einzige Maßnahme war und ist, die befreiende Bewusstseinsbildung in die praktische Umsetzung voranzutreiben. Aber sie ist eben eine sehr wichtige Maßnahme, an der man schön zeigen kann, wie sich eine solche befreiende Bewusstseinsbildung praktisch und reflektiert vollzieht. Um das einmal ganz simpel zu veranschaulichen: Unsere achtjährige Tochter fragte neulich meine Frau: „Mama, warum muss ich eigentlich lesen und schreiben lernen?" Meine Frau hat darauf geantwortet: „Stell' dir einmal vor, du willst dir ein Eis kaufen. Auf dem Preisschild steht 2,50 Mark. Wenn der Eisverkäufer nun weiß, dass du nicht lesen kannst, kann er auch fünf Mark verlangen. Und du bezahlst dann auch fünf Mark, obwohl das ungerecht ist. Wenn du aber lesen kannst, dann kannst du dich wehren!" Unsere Tochter kam darüber ins Nachdenken, was ihr (und anderen genauso) passieren könnte, wenn man nicht lesen und schreiben kann, und wie wichtig es ist, dass ein Staat allen die Möglichkeit gibt, eine gute Schule zu besuchen. Also fingen schon dadurch, dass sie lesen und schreiben konnten, die Unterdrückten an, ihr Freiheitswissen, ein „Jemand" zu sein, viel bewußter zu reflektieren und mutig in alltägliche Erfahrungen umzusetzen. Das eklatante Missverhältnis, das zwischen der Unterdrückungserfahrung und dem Freiheitsbewusstsein bestanden hatte, begann sich dadurch zu verschieben.

In diesem Sinn haben wir in São Leopoldo-RS (Brasilien), auf unsere Weise versucht, diesen Grundgedanken der Freireschen Pädagogik umzusetzen - Studenten und Professoren der Theologischen Hochschule in São Leopoldo, Mitglieder der Kirchengemeinde, Sozialarbeiterinnen, Gemeindehelferinnen. Innerhalb eines Straßenkinderprojektes ging es uns in vorderster Linie nicht um eine christliche (d.h. „konfessionelle") Umsetzung der Ideen Paulo Freires; aber wir haben, wo es sich ergab (weil auch jeder wußte, woher wir kamen), unser Bekenntnis eingebracht. Einschließlich eines Alphabetisierungsprogramms (dazu kam eine regelmäßige Hausaufgabenhilfe), haben wir folgende „Aktionen" - vor allen Dingen in den Favelas São Jorge und Feitoria - durchgeführt:

  • Durch das Tanzen (bzw. Tanzen lernen) der traditionellen Tänze Dança Afro und Capoeira erfuhren die Kinder und Jugendlichen zugleich etwas über ihre Herkunft, ihre kulturelle Identität, ihre Traditionen, sogar etwas über die Geschichte der Sklaverei und ihre Gleichberechtigung heute.
  • In Theaterworkshops wurden die Probleme des täglichen Lebens durchgespielt, durchdacht und Lösungswege aus ihnen gesucht. Das Ausprobieren von Überlebensstrategien und emanzipativen Handlungsmodellen schafft das nötige Selbstvertrauen, um sich zur Wehr zu setzen und für seine Grundrechte auch eintreten zu können.
  • Durch Mal- und Bastelgruppen entdeckten Kinder und Jugendliche ihre Kreativität. Das Bewusstsein, kreativ zu sein, etwas Schönes schaffen zu können, stärkt das Selbstwertgefühl und auch das Selbstvertrauen diese Kreativität auch in anderen Lebensbereichen anzuwenden.
  • Die Bewohner von São Jorge und Feitoria lernten bei Seminaren zur Gesundheitserziehung sich bei den am häufigsten auftretenden Krankheiten selbst weiterhelfen zu können. Gemüsegärten wurden angelegt, in denen Produkte zur Herstellung einer Multimischung zur Bekämpfung der Unterernährung angebaut werden.
  • Weitere Aktionen: Ein Gemeinschaftsofen zum Brotbacken wurde in Betrieb genommen. Gruppen zur Aufbesserung des Einkommens stellten Briefkarten, Briefpapier und Wandbehänge aus Makramee her. Kinder und Jugendliche wurden bei Verhandlungen auf Behörden beteiligt, damit sie lernen, sich für ihre Rechte einzusetzen.

Alles dient dazu die Erfahrung der Befreiung in der Praxis zu erleben, oder besser, das mit Füßen getretene Bewusstsein, dennoch ein „Jemand" zu sein, erfahrbar zu machen und - das ist ganz wichtig - diese Erfahrungen in ein Gegengewicht gegen die andere Erfahrung zu bringen, bloß ein „Nichts" und ein „Niemand" zu sein. In diesem Reflektionsprozess knüpften wir z.B. an das Psalmwort „Ich danke dir, Herr, dass ich so wunderbar gemacht bin" an (Ps. 139, 14), oder stellten einen Bezug zu der biblischen Heilsgeschichte oder den sozialen Anklagen der Propheten her, wo ja gerade die Anliegen der unterprivilegierten Bevölkerungsschicht verteidigt werden. Das ganze Projekt besteht noch. [ 5 ].

Warum auch in Deutschland mit Paulo Freire lernen?

Warum sollte die Erinnerung an Paulo Freire, nun auch hier in Europa, in Deutschland, für die Religionspädagogik, im Religions- und Konfirmandenunterricht, von Interesse sein? Geht es inzwischen auch bei uns wieder darum, ein „Gegengewicht" bilden zu müssen zu einem in unserer Gesellschaft ablaufenden pervertierten Lernprozeß, der unseren Kindern und Jugendlichen sagt, ein „Niemand" und ein „Nichts" zu sein?

Nach meiner Rückkehr aus Brasilien habe ich von 1993-1994 ehrenamtlich an der Realschule im „Schulzentrum Süd" in Wuppertal Religionsunterricht erteilt. Dort habe ich eklatante Lernhemmungen beobachtet, Arbeitsverweigerungen, unentschuldigtes Fernbleiben, massive Unterrichtsstörungen, Sachbeschädigungen, vulgäre Beschimpfungen, gewalttätige Handlungen gegen Mitschüler und Lehrer. Selbst Vater von vier schulpflichtigen Kindern, glaube ich nicht, dass das alles bloß Dinge sind, die sich unsere Kinder und Jugendlichen „am grünen Tisch" ausdenken. Ich glaube, dass sich hier etwas zeigt, was Paulo Freire als „horizontale Aggressivität" auch unter den Unterdrückten beobachtet hat: Das Freiheitswissen kann gegen den Systemzwang nichts ausrichten und sucht sich daher ein Ventil in seiner unmittelbaren Umgebung [ 6 ].

Nun zur Frage nach dem pervertierten Lernprozess, der hier möglicherweise in unserer Gesellschaft abläuft. Was sind das für Probleme? A. Ernst und S. Stampfel berichten in ihrem „Kinder-Report" [ 7 ]: Familiäre Schwierigkeiten nehmen zu. Jährlich sind etwa bis zu 100.000 Kinder von der Trennung oder Scheidung ihrer Eltern betroffen, womit sehr oft der Umzug an einen anderen Ort verbunden ist. Genauso erschreckend ist die zunehmende Bindungs- und Orientierungslosigkeit: Bis 1991 liefen etwa 40.000 Kinder und Jugendliche jährlich von Zuhause fort. Ein weiteres Stichwort ist dort Wohlstandsverwahrlosung: Einzelkinder werden mit Spielzeug überhäuft; sie sehen 30 bis 40 Stunden pro Woche fern. Aggressivität und Depression: bis 1991 wurden bei uns ca. 30.000 Kinder schwer misshandelt, ca. 300.000 sexuell missbraucht. Hinzukommen gravierende Minderwertigkeitsgefühle, da die Kinder erfahren, dass ihre Eltern große Probleme haben (am Arbeitsplatz oder im Finanziellen).

Die Kinder spüren, dass sie ihre Eltern an ihrer Selbstverwirklichung hindern. In den Medien begegnen ihnen die Erwachsenen als gewalttätig, Kriege führend, umweltzerstörend. Daher verrohen auch die Kinder. Durch überreichlichen Medienkonsum lässt ihre Konzentration nach. Die Eltern erwarten von ihnen Leistung; die Kinder müssen sich durch Leistung legitimieren, damit ihre Eltern zufrieden sind. Wenn sie spielen wollen, müssen sie zum Nachhilfeunterricht. Zu Eigeninitiativen sind sie dann viel zu ausgelaugt; ihr Medienkonsum wird dadurch noch exzessiver; ihre Anfälligkeit für reizstarke Eindrücke, Psychopharmaka, okkulte Praktiken steigt. Eine Konsequenz aus all diesem ist der ange-griffene gesundheitliche Zustand der Kinder und Jugendlichen: der „Kinder-Report" gibt an, dass über 40% der 12-l7jährigen unter Kopf- und Rückenschmerzen, Nervosität und Unruhe leiden, etwa 30% derselben Altersgruppe unter Schwindelgefühl, Magenbeschwerden und Schlafstörungen. Ich denke, das sind alles klare Anzeichen eines kollektiv anwachsenden Ohnmachtsgefühls: Das, was man ist und sein möchte, wird „zugemüllt"; und dagegen kommt man nicht mehr an. Es wäre also dringend geraten, im schulischen Religionsunterricht eben an dem auch für Paulo Freire alles entscheidenden Punkt einzusetzen: nämlich das Erfahrungsdefizit ein „Jemand" zu sein aufzuholen.

Die vergleichbaren Hindernisse: Internalisierung und Zynismus

Warum kommt aber der Religionsunterricht - trotz seiner Inhalte, die ihn zum „Renner" machen müssten - nicht recht zum Zuge? Unsere Schulen repräsentieren eine Kultur des Leistungsdrucks, der Gefühlskälte, der Vertragserfüllung. Die oben angeführten gesundheitlichen Probleme, sowie die Gewaltbereitschaft der Kinder und Jugendlichen deuten darauf hin, wie sehr dieses ganze System von Leistungsdruck und Vertragserfüllung dann internalisiert wird: und zwar als Selbstentwertung. Das Bewusstsein für die Wichtigkeit einer Freiheit zur Verantwortung gegen gesellschaftliche Zwänge, was allein die Person zum „Subjekt" macht und was gerade Religion und Glaube vermitteln wollen, ist in unserem Bildungsklima jedoch nicht sehr gefragt. Was „weiter" bringt, ist das, was später Geld „einbringt". Dazu gehören nicht nur die exakten Wissenschaften, sondern immerhin auch der Sport. Ein Fach wie „Religion", das in unserer Ellenbogengesellschaft wenig oder so gut wie gar nichts einbringt, rückt dabei ganz an den Rand. In diesem Klima steht auch niemand - weder in Eltern- noch Lehrerschaft - so „richtig" hinter diesem Fach. Also auch auf Eltern- und Lehrerseite findet sozusagen eine „Internalisierung" von „Unterdrückung" statt.

Hinzukommt ein zweiter Aspekt, er betrifft die in den Schulen übliche Art der Inhaltsvermittlung. Die den Menschen in seinem Menschsein betreffenden Erkenntnisse, die ihn zu seiner Be-freiung führen sollen, können nicht in einem System vermittelt werden, das sich vielleicht noch für kognitive Lernziele eignet, aber den befreienden Inhalten atmosphärisch und strukturell widerspricht. Inhalte wie „die unendliche Würde des Menschen", „Gnade", „Barmherzigkeit", „Gerechtigkeit, die jedem Menschen das gibt, was er braucht", usw., sind Inhalte, die man nicht wie Inputs im 45-Minuten-Rhythmus einfüttern kann. Man muss sich in sie „hineinfinden", „hineinerfahren" können. Hinzukommt, dass man solche Inhalte in einem Lernsystem zu vermitteln versucht, das auf Konkurrenz und Auslese hin konstruiert worden ist.

D.h.: die 45-minütige Vermittlung von religiösem Freiheitswissen - ein- oder zweimal pro Woche wirkt auf die Schüler wie Zynismus in einer Gesamtsituation, wo die Beherrschung oder Nichtbeherrschung von mathematischen Formeln oder grammatischen Grundregeln darüber entscheidet, ob man schulisch „überlebt" oder nicht [ 8 ]. Dieser Zynismus zwischen verbaler Botschaft und die diese Botschaft hintertreibende Realität ist im kleineren Maßstab vergleichbar mit dem Zynismus, mit dem in Lateinamerika der „unendliche Wert" der Menschenseele gepredigt wurde. Alles das bedeutet eigentlich,dass man das Schwergewicht der religiösen Erziehung nicht in die Schule verlegen kann - wenigstens nicht in die Schule, deren System und Klima wir gerade beschrieben haben. Die EKD-Denkschrift Identität und Verständigung von 1994 spricht eine solche Ansicht zwar nicht deutlich aus, aber sie kommt ihr doch sehr nahe, wenn sie an einer Stelle sagt: „Der (schulische) Religionsunterricht ist angewiesen auf Orte gelebter Religion, praktizierten Glaubens und sichtbar gewordener christlicher Überlieferung." [ 9 ] Das ist genau die „Befreiungsrichtung", die dem schulischen Religionsunterricht gut tun würde: Er müsste - wenigstens teilweise - herausgelöst werden können aus seiner unmittelbaren Umgebung, die - wie oben gezeigt - die Vermittlung seiner Inhalte stört und behindert. Und hierfür gibt es tatsächlich auch „Spielräume", die diese teilweise „Befreiung" aus Internalisierung und zynischer Gesamtsituation gestatten.

Inzwischen gibt es an vielen Realschulen und Gymnasien die Möglichkeit, Projekte als Arbeitsgemeinschaften durchzuführen. Das sind Projekte, die sich über das ganze Jahr hin erstrecken: regelmäßige „Fachtage", an denen projektorientiert gearbeitet werden kann, sowie Projektwochen, bei denen auch der Religionsunterricht federführend sein kann. Zudem verfügen viele Schulen inzwischen auch über ein „Lernorte-Netz", über ein „regionales Konzept", das auf die Unterstützung von Verbän-den, Institutionen, Betrieben und engagierten Einzelpersonen rechnen kann. Ein moderner, praxisorientierter Biologieunterricht wird beispielsweise heute gar nicht mehr anders als auf solcher Basis arbeiten können. Im Folgenden möchte ich ein solches „Lernorte-Netz" für den Religionsunterricht vorstellen. Innerhalb dieses „Lernorte-Netzes" denke ich mir die praktische Realisie-rung einiger weiterer, ganz praktischer Impulse der Freireschen Pädagogik.

Drei Impulse der Freireschen Pädagogik zum Umsetzen

1. Impuls: Das religiöse „Freiheitswissen" an die Oberfläche bringen und erfahrbar machen

Mit dem Bekenntnis oder der Forderung, dass der schulische Religionsun-terricht angewiesen ist auf „Orte gelebter Religion, praktizierten Glaubens", besinnt sich die schon oben genannte EKD-Denkschrift auf das Kardinalprin-zip religiöser Erziehung. Religiöse Erziehung ist von jeher die Sache einer praktizierenden religiösen Gemeinschaft gewesen. Das Vermitteln von fertigen religiösen Begriffen, anstatt die ihnen zugrundeliegenden „Handlungen" erfahrbar zu machen und das religiöse Wissen handelnd aufzubauen, ist eine Erfindung der Neuzeit. Eine kurze Bemerkung darüber, wie es dazu kam:

M. Horkheimer und H. Marcuse haben überzeugend dargelegt, dass in der bürgerlichen Epoche eine geistig-seelische Welt von den tatsächlichen Verhältnissen abgekoppelt wurde [ 10 ]. Das war nicht aus Zufall so geschehen. Der christliche Glaube war in den Sog einer bürgerlichen Ideologie geraten, die an gesellschaftlichen Veränderungen nicht interessiert war. Und das steckt uns bis heute noch „in den Knochen", wenn wir Religion nur als „Wissen" wie irgendeine „Literaturkenntnis" vermitteln, nicht aber als aktionsfähiges und wirksames „Freiheitswissen". In der bürgerlichen Epoche war die Epiphanie Gottes von ihren geschichtlichen Orten abgelöst worden; und daher triumphiert in unseren Köpfen noch immer eine Heilsvorstellung, in der das Heil unbehelligter Seelen- oder Jenseitsfrieden ist und keinen geschichtlichen Wirkungsort oder irdischen Haftpunkt zu haben braucht. Im Hinblick auf den schulischen Religionsunterricht (und auch kirchlichen Unterricht) heißt das, dass unter dem Auswendiglernen von Bibelstellen, biblischen Geschichtsdaten und -ereignissen die Analogiefähigkeit der biblischen Botschaft zum gegenwärtigen Erleben verschwand.

Paulo Freire hat seine Arbeit damit begonnen, dass er und seine Mitarbeiter an die Brennpunkte der Gesellschaft gegangen sind. An Ort und Stelle haben sie dort die Art und Weise studiert, wie die Unterdrückten ihren Konflikt formulierten, ein „Niemand" zu sein und es doch anders zu wissen [ 11 ]. Ein solches Vorgehen müsste auch am Anfang aller Religionspädagogik stehen. Die EKD-Denkschrift nennt ganz richtig einen Katalog von religiösen „Grundfragen", die auch heute noch jeden Jugendlichen umtreiben. Dieser Katalog lässt sich erweitern; ich reichere ihn noch um Fragen an, die in der letzten Zeit von Studienanfängern der Theologie genannt wurden, die aus Familien ohne jeden traditionellen kirchlichen Hintergrund stammen:

  • Was ist der Anfang von allem Sein?
  • Wozu werde ich auf der Welt gebraucht?
  • Gibt es ein Weiterleben nach dem Tod?
  • Warum ist das Leben so voller Leid und Krieg?
  • Ist Gott nur eine Sage, eine Fiktion?
  • Wie kann der Mensch mit Gott reden?
  • Gibt es Gerechtigkeit auf dieser Welt?
  • Was geschieht mit mir, wenn ich scheitere?
  • Was ist am Glauben „dran"?
  • Wo und auf wessen Seite steht die Kirche? [ 12 ]

Alle diese Grundfragen setzen ja an sich schon ein „Freiheitswissen" - so würde Paulo Freire sagen - voraus. Sie hinterfragen den „Ist-Zustand" unserer Welt und leugnen auf diese Weise nicht, dass es eine Alternative, eine "Heilsgeschichte" geben kann:

  • einen guten Anfang von allem Sein, der nur vernichtet wurde;
  • einen Sinn, den mein Leben hier auf dieser Welt hat;
  • ein Weiterleben nach dem Tod;
  • ein Leben für alle ohne Leid und Krieg:
  • einen lebendigen statt eines „toten" Gottes;
  • einen Gott, mit dem ich sprechen kann;
  • Gerechtigkeit für alle auf dieser Welt;
  • die Möglichkeit, dass mich jemand in meinem Scheitern auffängt;
  • ein Glaube, an dem etwas "dran" ist;
  • eine "Kirche", die auf der Seite aller Leidenden und Rechtlosen steht.

Das Interessante oder Faszinierende dieses religiösen Grundwissens ist nun, dass es gar nicht spezifisch „christlich" ist. Und daraus ist die Lehre zu ziehen, dass das Angebot biblischer und traditionell „christlicher Inhalte" nicht gemacht werden sollte, bevor nicht erst dieses ganz elementare religiöse Grundwissen irgendwie „freigemüllt" worden ist. Und um das zu unterstützen oder zu fördern, müsste man an die Orte einer solchen - „unterhalb" der Christlichkeit - gelebten Religion gehen.

Bei dem folgenden Vorschlag einer praktischen Umsetzung denke ich an eine höhere Religionsklasse. Fragen wir doch einmal die Jugendlichen: Was macht ihr eigentlich in der Nacht von Freitag auf Samstag? - also in der kritischsten Zeitspanne der gesamten Woche. Das könnte man zwar auch in einem Klassenraum „durchbuchstabieren". Besser wäre hier aber ein Projekttag in Verbindung mit der „Kirche in der City", wie es ihn im Kirchenkreis Wuppertal-Elberfeld gibt.

„Was macht ihr eigentlich in der Nacht von Freitag auf Samstag?" Wir mieten zu diesem Thema über eine Jugendorganisation oder eine Kirchengemeinde eine Polizeisporthalle, einen Vereinssaal oder den Turnsaal einer Schule an. Sportzeug ist mitzubringen. Ein entsprechendes Inserat setzen wir in die Zeitung. Im Vorfeld dieser Aktion tauschen wir schon unsere eigenen Erfahrungen aus. Wir treffen uns dann auch tatsäch-lich in einer Nacht von Freitag auf Samstag in einer Polizeisporthalle, einem Vereinssaal oder einem Turnsaal.

„Cool", wird da mancher Jugendliche in der Stadt sagen, „dann bin ich nicht allein in meinem Kanalrausch, dann muss ich mich auch nicht volllaufen lassen, sondern mache dann zusammen mit anderen Sport." Dazu gibt es meditative Musik, Gespräche, überhaupt Gemeinschaft, etwas zum Essen. Wir eröffnen ein „Café für verletzte Seelen", für das Aussprechen von Sehnsüchten und Wünschen, Geborgenheit und Ganzheit. Wir zünden Kerzen an und breiten Decken auf dem Boden aus. Wir machen einmal das alltäglich, was sonst nur auf einem Kirchentag passiert.

Wenn man zusammen sitzt und gemeinsam über die Nacht von Freitag auf Samstag spricht - vielleicht sogar mit ein paar Arbeitslosen, Obdachlosen, Ausreißern und Trebegängern, in einer Zeit-spanne mit der höchsten Selbstmordrate und der höchsten Anruferfrequenz bei der Telefonseelsorge, geht es los mit dem Fragen:

  • „Wie werde ich meine Angst los?",
  • „Wie soll ich durch das Leben kommen?",
  • „Woran kann ich mich noch festhalten?"

Und es stellt sich dann - eben nicht nur auf offiziellen Kirchentagen - heraus, wie virulent und zugleich unterdrückt unser religiöses „Freiheitswissen" ist. Es wird Rat gesucht, nach Gründen gefragt, Erfahrungen werden ausgetauscht, Be-wältigungsmuster weitergereicht, Rat-schläge erteilt [ 13 ]. Dieses „Freiheitswissen" - nicht nur spezifisch christlich - ist echt: Es ist da. Es wird an anderen, die in gleicher Situation stehen, „erlebbar" erfahrbar. Alternativen wären z.B. Gespräche mit Zeitzeugen aus ehemaligen KZs, Besuche in Seniorenheimen, in Krankenhäusern, Gespräche mit Hospiz-Gruppen, Teilnahme am Berufsethik-Unterricht bei Polizeianwärterinnen und -anwärtern, Besuche in Asylantenheimen. Auch hier können überall die elementaren religiösen Grundfragen laut werden, die man selbst auch hat, bisher aber unterdrückte.

Ein Vorschlag für die Jüngeren, der sich auf der gleichen inhaltlichen Ebene bewegt: Warum beschaffen wir uns nicht ein paar Photoapparate und knipsen einmal alles das, was uns „kaputt" macht? So etwas kann man als Hausaufgabe stellen. Besser wäre aber auch hier eine Aktion, ein Projekt, das seine Bil-der nicht nur in der Schule, auf dem Schulhof oder Schulweg findet, sondern weiter hinausgeht und z.B. Erfahrungen aufnimmt, die Kinder machen, die ohne eine Übermittagbetreuung auskommen müssen und daher Gefahr laufen zu verwahrlosen oder belästigt zu werden. Diesen Aktionen müssen natürlich Auswertungsphasen im Unterricht in der Schule folgen. Das, was ein jeder glaubt, kommt an die Oberfläche. Das „Freiheitswissen" formuliert sich im Konflikt mit der alltäglichen Welterfahrung.

2. Impuls: Die „Alphabetisierung" des religiösen Freiheitswissens anhand biblischer Geschichten

An zweiter Stelle erfolgt dann bei Paulo Freire die thematische Ordnung des an die Oberfläche gekommenen „Freiheitswissens", zugleich die Alphabetisierung. Die thematische Ordnung erfaßt die prinzipiellen kritisch-sozialen Forderungen, die sogenannten „generativen Themen" wie Nahrung, Kleidung, menschenwürdiges Wohnen, medizinische Grundversorgung, usw. Die erworbene Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, verschafft den Unterdrückten das nötige Selbstbewusstsein, sich über ihre Rechte zu informieren und mit ihren Forderungen an die Öffentlichkeit zu treten. In einem von Paulo Freire abgeleiteten religionspädagogischen Konzept begänne hier ebenfalls eine Etappe der „Alphabetisation", das Angebot der biblischen Heilsgeschichten. Der religiös begründete Konflikt zur alltäglichen Lebenserfahrung erhält Konturen.

Auch die EKD-Denkschrift rekurriert auf die biblische Heilsgeschichte, allerdings nicht ganz in dieser Zuspitzung wie wir. Diese spricht von den biblischen Geschichten als von einem „identifikatorischen Angebot": D.h.. eindrucksvolle Vorbilder helfen den individuellen Lebensweg mitzugestalten [ 14 ]. Das ist an sich schon ein ganz wichtiger Hinweis. Die Denkschrift fügt auch hinzu, dass sich die genannten religiösen Grundfragen „sämtlich nicht lebensabgehoben in einem religiösen Sonderbereich, sondern gesellschafts- und lebensbezogen" stellen [ 15 ]. Auch ich meine, wir dürften es bei dem bloßen Bekanntwerden mit den biblischen Heilsgeschichten nicht bewenden lassen. Wir müssten sie danach auch in unserer Realgeschichte „lokalisieren" lernen, in der Realgeschichte auch außerhalb unserer Schulen.

Ich versuche es, mit einem praktischen Beispiel zuerst wieder für die älteren Schülerinnen und Schüler zu sagen. Auch die folgende Aktion müsste im Rahmen eines Projekttags oder einer Projektwoche im „Lernorte-Netz" eines Kirchenkreises möglich sein: Warum setzen wir uns eigentlich nicht einmal nachts in ein paar Pkws und sehen nach, was nachts in unserer Stadt passiert - bei der Feuerwehr, bei der Polizei, in einer Müllverbrennungsanlage, bei der Drogenberatung, bei der Bahnhofsmission, in der städtischen Übernachtungsstelle? Da treffen wir sie alle wieder: den Abraham (für so alte Tippelbrüder haben wir hier keinen Platz), den Jakob (mit solch einer verkrachten Existenz haben anständige Bürgerinnen und Bürger nichts am Hut), den Joseph (jetzt gerade mal aus dem Knast und schon will er an die Macht), den Mose (Schlägertypen wollen wir hier nicht), die Ruth (ja, sind wir denn das Armenhaus der Welt?), den Daniel (Ausländer müssen sich anpassen), die Maria (keinen Pfennig in der Tasche, aber Kinder in die Welt setzen).

P

aulo Freire würde hier von einer konkreten „Provokation" unseres „Freiheitswissens" sprechen. Abraham: Auch ein Nichtsesshafter muss es wieder zu Ansehen und Wohlstand bringen können! Joseph: Auch jemand, der aus dem Knast kommt, muss wieder seine Chance haben dürfen! Mose: Auch gequälte Menschen haben das Recht, sich zu wehren! Daniel: Auch ein Ausländer muss das Anrecht haben, seine Religion und kulturelle Identität zu leben! Maria: Auch in Armut muss es möglich sein, neues Leben hervorzubringen!

Eine thematische Ordnung und Systematisierung von Glaubensinhalten ergibt sich also auf der Basis der biblischen Heilsgeschichten ganz von selbst. Kinder und Jugendliche sehen an diesen Beispielen auch, dass die biblische Botschaft - ob man diese nun für sich akzeptieren mag oder nicht - einen Gott verkündigt, der für die Welt und auch für jeden Einzelnen das Heil will. An solch eine Aktion, die man gut zusammen mit der „Kirche in der City" durchführen könnte, würden sich dann Unterrichtseinheiten z.B. über Rassismus und Ausländerfeindlichkeit auf biblischer Grundlage anschließen können, aber auch Unterrichtseinheiten dazu, wie wir selbst mit unserem Umgetriebensein, Fremdsein, Verletztsein umgehen können.

Ein praktisches Beispiel für die Jüngeren: Ich komme noch einmal auf die schon erwähnte Photoaktion zurück. Das, was uns „kaputt" macht, haben wir geknipst und kommentieren es nun mit Geschichten aus der Bibel, z.B. dem Daniel in der Löwengrube, den Kindern Israels in Ägypten oder im Exil unter der Fremdherrschaft Babylons.

3. Impuls: Aus dem Ghetto ausbrechen und auf die Veränderung des Umfeldes hinwirken

Bei Paulo Freire schließt sich dann die politische Aktion, das soziale Engagement an, was er als die Überwindung der Kultur des Schweigens bezeichnet [ 16 ]. Das gewonnene Selbstwertgefühl soll nun nach außen gerichtet und zur Humanisierung der schlechten gesellschaftlichen Form des Daseins eingesetzt werden. Der Ausdruck „Kultur des Schweigens" besagt bei Paulo Freire, dass die Unterdrückten und Entrechteten Lateinamerikas zur Mitsprache an den Interessenkonflikten und Entscheidungsprozessen der Gesellschaft unfähig gemacht wurden.

Hier zeigt sich nicht nur ein gravierender, in Lateinamerika von der Oberschicht bewusst herbeigeführter Bildungsrückstand, sondern meldet sich auch ein Kommunikationsproblem zwischen zwei unterschiedlichen Kulturen an. Die Ausdrucksweise der Unterdrückten, die gesättigt ist von wertvollsten Erfahrungen für die Humanisierung der Gesellschaft, wurde in die „Kneipen, Küchen und Toiletten" verbannt, wie E. Lange sagt [ 17 ] und im öffentlichen Leben durch die Kunstsprache der Gebildeten verdrängt.

Die Armen und Entrechteten, durch den Bildungsrückstand und die gesellschaftliche Disqualifizierung ihrer Sprache entmutigt, hörten auf sich zu artikulieren; sie schwiegen und mussten daher „sprachfähig" gemacht werden. Ich habe oben etwas dazu gesagt, wie eine solche „Sprachbefähigung" gelingen kann: durch die Alphabetisierung, durch Informationen über die eigenen Grundrechte, durch Theaterworkshops usw., womit der Anschluss an das zu verändernde Umfeld erreicht wird.

Dieses „Anschlussproblem" ist nun auch exakt das, was die Religionspädagogik zu bewältigen hat: Wie kann der schulische (oder auch kirchliche) Religionsunterricht Kinder und Jugendliche in unserer Gesellschaft religiös „mit-sprachefähig" machen? M. Veit erwähnt in ihrem schon oben zitierten Buch „Theologie muss von unten kommen" die hochsensible und innige Ausdrucksweise der Christiane F., mit der sie die Liebe zu ihrem gleichfalls drogenabhängigen Freund beschreibt [ 18 ]. Jedenfalls ist das eine Sprache, ich weiß das auch aus Äußerungen meiner eigenen Kinder, die „auf den Grund kommt". Von unserer „Kirchensprache" kann man das nicht sagen.

Was wir als Kirchen-, Lied- und Predigtsprache vorliegen haben, ist bis in die neuesten liturgischen Entwürfe, Gesangbuchrevisionen, auch Predigtmeditationen hinein weithin eine von dogmatischer sowie konfessioneller Provinzialisierung überfrachtete Sprache, die offenbar für notwendig erachtet wird, die es aber heutigen Kindern und Jugendlichen kaum erlaubt, auf ihre eigenen Probleme, sowie auf die Interessenkonflikte und Entscheidungsprozesse der heutigen Gesellschaft religiös zu reagieren. Ich glaube da, dass die oben beschriebenen Erfahrungen im „Lernorte-Netz" (s. 2 Impuls) eher dazu geeignet sind, in religiöser Hinsicht sprach- und handlungsfähig zu machen - auch im Hinblick auf die eigenen Lebensprobleme -, und zwar deshalb, weil sich hier die religiöse Bewältigung (wie immer sie aussehen mag) in ihren Darstellungsformen und Ausdrucksweisen von religiösen „Grundfragen" her entwickelt, die praktisch allen gemeinsam sind (s. l. Impuls).

Hierzu nur noch ein praktischer Vorschlag: Warum stellen wir z.B. nicht ein Verbotsschild auf, das einem normalen Verbotsschild des Straßenverkehrs täuschend ähnlich ist. Im typischen Design von Verkehrsschildern sieht man da in der Mitte eine gekreuzigte Person. Bedeutung dieses „Verkehrsschildes": Kreuzige keinen Menschen! [ 19 ]. Mit diesem Schild, dessen Bedeutung zu erraten ist, läßt sich gut ein Schulgottesdienst gestalten, wo normalerweise noch viele Schülerinnen und Schüler sowie einige Lehrerinnen und Lehrer zusammenkommen.

Dort können die an der Durchführung des Gottesdienstes beteiligten Schülerinnen und Schüler ausprobieren, ob sie für Schulkameradinnen und -kameraden sowie Lehrerinnen und Lehrer religiöse Grundfragen ansprechen und sich verständlich, ohne einer Ghettosprache verhaftet zu bleiben, für Veränderungen einzusetzen in der Lage sind. Das Ganze müsste natürlich ein „Gesprächsgottesdienst" sein: Was nagelt uns fest? Was kreuzigt uns? Wo kreuzigen wir andere? Was bedeutet das Kreuz in der christlichen Tradition? - ein für den Schulalltag (für Schülerinnen und Schüler wie für Lehrerinnen und Lehrer) sicher sehr weiterführendes Thema.

Ich bin damit am Schluss. Ich denke, dass ein solcher, an Impulsen von Paulo Freire orientierter Religionsunterricht durchaus dazu geeignet ist, den auch in unserer Gesellschaft ablaufenden pervertierten Lernprozessen entgegenzuwirken. Die an den Projekttagen oder in den Projektwochen gemachten „Basiserfahrungen" reichen als „Zündstoff" für viele andere Religionsstunden mit traditionellen Themen des schulischen Religionsunterrichts. Ein solcher Religionsunterricht könnte aber auch einiges gerade zu dem leisten, wozu er ja eigentlich auch erteilt wird: Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir. Eher als der traditionelle kann diese Art von Religionsunterricht aktiv zur Veränderung, zur Humanisierung seines Umfelds - der Schule, des Elternhauses, des späteren Berufslebens, der Gesellschaft - beitragen.

Anmerkungen

Überarbeitete Fassung des am 27. März 1995 an der Evangelischen Fachhochschule für Sozialwesen, Diakonie und Religion-spädagogik in Freiburg gehaltenen Vortrags. Der Vortragsstil wurde bei der Veröffentlichung beibehalten.

  • [ 1 ]
    Hauptamtlich habe ich von 1985-1993 an der Escola Superior de Teologia in São Leopoldo-RS (Brasilien) als Professor für das Alte Testament gearbeitet.
  • [ 2 ]
    Vgl. P. Freire, Pädagogik der Unterdrückten, Reinbek 1985
  • [ 3 ]
    Vgl. ebenda, S. 49 f.
  • [ 4 ]
    Ebenda, S. 31, 49 u.ö.; Freire spricht daher, S. 42, 48 u.ö. von den Unterdrückten als „gespaltenen Wesen" („seres duais") oder auch „kolonisierten Menschen" („colonizados").
  • [ 5 ]
    Vgl. „Vale dos Sinos", São Leopoldo-RS, und „Jornal Evangelico", São Leopoldo-RS, vom November 1995
  • [ 6 ]
    P. Freire ebenda, S. 48.
  • [ 7 ]
    „Kinderreport" - Wie Kinder in Deutschland leben, Köln 1991. Die Ergebnisse dieser Untersuchung sind inzwischen angezweifelt worden. Unsere Erfahrungen in Wuppertal (Jugendreferat, Kirchengemeinde, Kontakt mit Schulen, Arbeit mit Kindergruppen, Übermittagbetreuung, etc.) bestätigen allerdings eher die Angaben des „Kinderreports". Vgl. auch das Editorial der braunschweiger beiträge, Heft 67/1994 [1], ARP (Hrsg.), S. 1.
  • [ 8 ]
    M. Veit, Theologie muss von unten kommen, Wuppertal 1994, S. 62 f.; vgl. S. 24
  • [ 9 ]
    EKD (Hrsg.), Identität und Verständigung - Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität - Eine Denkschrift, Gütersloh 1994, S. 48; vgl. S. 27
  • [ 10 ]
    M. Horkheimer, Egoismus und Freiheitsbewegung, in: Zeitschrift für Sozialforschung (= ZfS) 5/1936 (Felix Alcan, Paris), S. 161 ff.; H. Marcuse, Über den affirmativen Charakter der Kultur, in: ZfS 6/1937 (Felix Alcan, Paris), S. 54 ff.
  • [ 11 ]
    P. Freire, ebenda, S. 92 ff.
  • [ 12 ]
    EKD (Hrsg.) ebenda, S. 18
  • [ 13 ]
    M Veit, ebenda, S. 37
  • [ 14 ]
    EKD (Hrsg.) ebenda, S. 56
  • [ 15 ]
    EKD (Hrsg.) ebenda, S. 19
  • [ 16 ]
    Der Begriff findet sich nicht in der mir vorliegenden deutschen Übersetzung, weder auf S. 46 noch auf S. 58; vgl. den Originaltext: P. Freire, Pedagogia do Oprimido, Rio de Janeiro 1985, S. 51, 67 („cultura do silencio")
  • [ 17 ]
    E. Lange, in: ders., Sprachschule für die Freiheit [Lese-Zeichen], Burckhardthaus-Lätare, München 1980, S. 86
  • [ 18 ]
    M. Veit, ebenda, S. 36
  • [ 19 ]
    Vgl. W. Hoffsümmer, 133 Kinderpre-digten mit Gegenständen aus dem Alltag, Mainz 1983, S. 16.
  • Dr. theol. Dr. phil. Friedrich Erich Dobberahn