Theaterarbeit

Augusto Boal: Adaption des ‘Theater der Unterdrückten’ in Europa

von Birgit Nee

Vorbemerkung

Die von Augusto Boal entwickelten Methoden des ‘Theaters der Unterdrückten’ sind inzwischen weltweit bekannt, allerdings liegt bislang nur sein gleichnamiges Werk als Primärliteratur in deutscher Sprache vor, welches 1989 durch die „Übungen für Schauspieler und Nicht-Schauspieler" erweitert wurde (Boal 1979/1989).

Seine neuen, die sogenannten ‘introspektiven Methoden’, sind bislang nur in Englisch, Französisch und Portugiesisch erschienen, während sie in deutscher Sprache bislang nur bruchstückhaft in Sekundärliteratur dargestellt wurden. Deshalb soll hier eine kurze Zusammenfassung der neuen Methoden erfolgen, eine Vertiefung erfolgt an anderer Stelle (Nee 1998).

Das Menschenbild von Augusto Boal

Um seinen methodischen Ansatz zu verstehen, ist es unerläßlich auf Boals Menschenbild einzugehen. Meines Erachtens treffen die Bezeichnungen systemisch und dialogisch am ehesten.

Systemisch, weil er betont, daß jeder Mensch seine eigene Wahrnehmung und damit auch seine eigene Realität aufbaut. Das beinhaltet sogleich, daß seine Wahrheit nur eine Wahrheit von vielen sei: "Many people see many Images, 25 people see 25 images. Who can say which image is the real one." Diese individuellen und subjektiven Wahrnehmungen gilt es wiederum im gesellschaftlichen Kontext zu sehen und zu versuchen, sie als diese zu verstehen.

Das Prinzip des dialogischen Lernens, hat Augusto Boal in Anlehnung an seinen Freund Paulo Freire für seine Zwecke weiter entwickelt (Freire 1973). Dabei berief er sich auf die Verbindungen zwischen Freire und ihm.

Das dialogische Lernen betrifft explizit das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden, wobei beide, Boal und Freire, davon ausgehen, daß Lernen als ein wechselseitiger Prozeß erkannt werden sollte (Freire ebd.).

Daß sich im "Theater spielen" / "Theater sein" Menschen mitteilen und austauschen, ist für ihn die Basis des gemeinsamen Lernens. Durch dialogischen Austausch, Rollenwechsel und Erprobung neuer Handlungsmöglichkeiten lernen für ihn alle Beteiligten immer irgend etwas voneinander: "Gemeinsam lernen - das ist immer beides: wir lehren und lernen zugleich" (Boal ebd., S. 8).

Ziel der Methoden

Als ich Augusto Boal fragte, welches Ziel er mit seinen Methoden anstrebe, lachte er und sagte: "To be happy in THIS life!"

Dafür, so erörterte er im folgenden, sei es notwendig, das zu erkennen, was in uns steckt, die verborgenen Seiten zu erkennen und zu fördern und im geschützten Rahmen neue Handlungsmöglichkeiten zu erproben.

Er versuchte die Teilnehmenden zu ermutigen, Situationen und Umstände nicht als gegeben hinzunehmen, sondern den eigenen Bedürfnissen und Möglichkeiten zu vertrauen und sich aus unterdückerischen Strukturen zu befreien.

Die Adaption der Methoden

Augusto Boal entwickelte die "alten" Methoden (Statuen-, Zeitungs-, Forumtheater, etc.), um den Menschen in Lateinamerika ihre eigene politische Situation bewußt zu machen und vorallem um ihnen zu verdeutlichen, daß sie verschiedene Möglichkeiten haben diese Realität zu beeinflussen und zu verändern. Ziel seiner Theaterarbeit war und ist die Bewußtmachung und Abschaffung von Unterdrückung.

„Widerstand gegen Unterdrückung ist eine Technik, die den Teilnehmern bewußt machen soll, daß Unterdrückung nur dann zum Zuge kommen kann, wenn man sich unterdrücken läßt, mehr noch, wenn man dem Unterdrücker hilfreich ist gegen sich selbst, und daß Widerstand gegen Unterdrückung immer möglich ist, ja, daß man Widerstand leisten muß" (Boal ebd., S. 39 f.).

Als er in Europa, vor allem in Frankreich und Schweden, mit seinen Methoden arbeitete, stieß er auf Grenzen des ‘Theaters der Unterdrückten’, da die Unterdrückungsmechanismen anders als in Brasilien hierzulande auf einer subtileren Ebene, der von struktureller Gewalt, stattfinden. Die klassischen Methoden dienen zur Aufdeckung und Bearbeitung offensichtlicher Gewalt, stoßen aber im psychosozialen Bereich an ihre Grenzen, da sie diese Art der inneren Unterdrückung nicht adäquat aufarbeiten können.

Hinwendung zum therapeutischen Theater

„Für mich ist Unterdrückung der Polizist mit dem Maschinengewehr im Anschlag. In Schweden sind aber sämtliche materiellen Bedürfnisse mehr oder weniger gedeckt, die Menschen haben das Recht zu leben, sie haben Geld, Lebensmittel, Erziehung, Pressefreiheit - Dinge, die in Brasilien alles andere als selbstverständlich sind. In Brasilien sterben die Menschen an Hunger, in Schweden töten sie sich selbst" (Boal nach Ruping 1991, S. 61).

Es steht für Boal außer Frage, daß es in Europa Unterdrückung gibt. Die Ursachen und Strukturen von Unterdrückung liegen allerdings vielmehr im Inneren der Menschen. Seine Zielsetzung, die Befreiung von Unterdrückung, ist jedoch gleich geblieben.

Um diese subtilere Art der Unterdrückung aufzuschlüsseln und neue Handlungskonzepte zu entwerfen, erkannte er die Notwendigkeit, die klassischen Methoden des Boal-Theaters durch die ‘introspektiven Methoden’ zu erweitern (Feldhendler 1992).

Somit kann von einer Adaption des ‘Theaters der Unterdrückten’ auf die europäischen Verhältnisse gesprochen werden. Adaption impliziert hierbei die Erweiterung der politischen Theatermethoden um den psychosozialen Bereich. Die ‘introspektiven Methoden’ können als Methoden des therapeutischen Theaters verstanden werden, da sie vor allem der Bewußtmachung internalisierter Unterdrückungsstrukturen dienen. Dabei ist die Hinwendung zum therapeutischen Theater nicht als Abgrenzung zum politischen Theater zu bewerten, sondern vielmehr als Bestandteile sich ergänzender und ineinander übergehender Teilbereiche des Boal-Theaters zu verstehen:

"Während sich Boal in früheren Jahren vehement gegen die Anwendung des Begriffs ‘Therapie’ auf sein Theaterkonzept aussprach, bezeichnet er heute seine Arbeit der letzten Jahre als die Untersuchung der Überlagerung der beiden Gebiete, des Theaters selbst und der Therapie. (...) Im boalschen Verständnis heißt Therapie ‘Lernen über sich selbst’, nicht aber Heilung psychischer Krankheiten" (Neuroth 1994, S. 69).

Bei der Entwicklung der ‘introspektiven Methoden’ waren für ihn seine eigenen Erfahrungen mit dem ‘Psychodrama’ (Moreno 1959) hilfreich, dessen Verbindungen mittlerweile unbestritten sind (Feldhendler ebd., S. 58 ff.), obwohl sich Boal seinerseits massiv dagegen aussprach. Inzwischen arbeitet er allerdings intensiv mit dem Moreno-Institut zusammen.

Abgrenzung zum therapeutischen Theater

Es stellt sich nun die Frage, wie Augusto Boal therapeutische Methoden anwendet, ohne dabei explizit therapeutisch zu arbeiten. Um die Unterschiede zu verdeutlichen, sollen - in Anlehnung an Feldhendler - Augusto Boals 'introspektive Methoden' in Vergleich zu den therapeutischen Methoden von Moreno gesetzt werden. Die Methoden haben durchaus viele Gemeinsamkeiten, gleichzeitig zeigen jedoch ihre Differenzen die Grenze zwischen Boal-Theater und Therapie auf.

Inhalt und Ziel beider Theaterformen sind die Bewußtmachung innerer Blockaden und deren Freisetzung, so wie Erprobung neuer Handlungsstrategien:

„Zielsetzung des Theaters der Unterdrückten ist die Veränderung der Gesellschaft, dagegen ist die Zielsetzung des Psychodramas die Veränderung in der Gesellschaft durch Förderung der Integration des Individuums und der Gruppe" (Feldhendler ebd., S. 53).

Somit arbeiten beide mit ähnlichen Methoden und Zielsetzungen, wobei allerding die Fokussierungen auf der Metaebene unterschiedlich ausgerichtet sind. Moreno sieht, im Gegensatz zu Boal, seinen Schwerpunkt eindeutig in der Therapie, d.h. in der Behandlung von Krankheiten.

Augusto Boal nimmt seinerseits zwar eine konkrete individuelle Geschichte als Ausgangspunkt, setzt diese allerdings sogleich in den gesellschaftlichen Kontext, so daß die ursprüngliche Geschichte emotionale Betroffenheit bei möglichst allen Teilnehmenden hervorrufen sollte. Demnach legt Boal seinen Schwerpunkt - ebenso wie Paulo Freire - auf die gesellschaftlichen und damit auch politischen Probleme.

Boal schreibt der individuellen Geschichte lediglich eine Auslöserfunktion zu, die es dann wiederum zu dynamisieren gilt. Durch die Dynamisierung des Konfliktpotentials, wird der Leidensdruck auf Zuschauer und Schauspieler so erhöht, daß akuter Handlungsbedarf entsteht. Für Augusto Boal stellt das Ziel erst eine gesellschaftliche Veränderung dar, die einhergeht mit der Abschaffung der gesellschaftlichen Unterdrückungsstrukturen.

„Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die beiden Ansätze durch eine grundsätzlich unterschiedliche ‘Weltanschauung’ gekennzeichnet sind. Die Praxis des Psychodramas sucht durch emotionale Erfahrung, rationale Einsicht und Integration, Konflikte zu lösen. Sie schafft Wege aus der individuellen und sozialen Krise. Dagegen besteht das Theater der Unterdrückten auf einer Kultivierung der Krise. (...) Die Konfliktlösung vollzieht sich in Boals Methode durch Aktivierung und Dynamisierung: In seiner dialektischen Dramaturgie geht es letztenendes darum, den ‘aufrührerischen, revolutionären, verändernden Impetus’ in jedem Teilnehmer / Zuschauer zu stärken und zum Ausdruck zu bringen. Der entscheidende Gegensatz liegt somit in dem Antagonismus von idealistischer und materialistischer Philosophie" (Feldhendler ebd., S. 56 f.).

Abschlußbemerkung

Nach der politischen Bewegung der 68er folgte in Europa eine Welle von Selbsterfahrungsangeboten, die sich speziell mit individuellen Problemen beschäftigten (Körpererfahrung, Meditation, Kommunikationsstrukturen, etc.). Beide Bewegungen beinhalten das existentielle Bedürfnis des Menschen, sich selbst im Kontext der Gesellschaft besser verstehen zu lernen und Realitäten zu verändern. Der jeweilige Blickwinkel ist allerdings unterschiedlich gesetzt.

Andererseits sind beide Bewegungen für das Selbstverständnis des Menschen und das Verständnis der Gesellschaft notwendig, da nur durch eine Synthese von gesellschaftlichen und individuellen Strukturen die Komplexität unterdrückerischer Mechanismen entschlüsselt werden kann. Die politischen Maßnahmen - vor allem zu Zeiten des Sozialabbaus und der Rekordarbeitslosenzahlen - beeinflussen das psychosoziale Befinden der Menschen immens.

Die Methoden des ‘Theaters der Unterdrückten’ verbinden beides gleichermaßen miteinander und bieten somit eine umfassendere Sichtweise der Situation und bieten zudem die Möglichkeit, neue Handlungsmöglichkeiten zu erproben.

Das ‘Theater der Unterdrückten’ will allerdings nicht nur Bewußtwerdung ermöglichen, sondern vielmehr aufrütteln und dazu ermutigen, neue Wege zu gehen.

"Auch wenn Theater selbst nicht revolutionär ist, diese Theaterformen sind ohne Zweifel eine Probe zur Revolution. Gehandelt wird in der Fiktion, aber die Erfahrung ist konkret" (Boal ebd., S. 58).

Literatur

  • A. Boal: Theater der Unterdrückten - Übungen für Schauspieler und Nicht-Schauspieler, Frankfurt/M. 1979 u. 1989
  • D. Feldhendler: Psychodrama und das Theater der Unterdrückten, Frankfurt/M. 1992
  • P. Freire: Pädagogik der Unterdrückten, Reinbek 1973
  • J.J. Moreno: Gruppenpsychologie und Psychodrama, Stuttgart 1959
  • B. Nee: Boal in Europa: Die introspektiven Methoden, 1998
  • S. Neuroth: Augusto Boals "Theater der Unterdrückten" in der pädagogischen Praxis, Weinheim 1994
  • B. Ruping: Gebraucht das Theater, Lingen u. Remscheid 1991

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