Kunst

Die Ästhetik Paulo Feires ist sprachlicher Art, indem er die kulturelle Synthese der Wünsche des Volkes und der (Meinungs-)Führer anstrebt. Dabei soll der Widerspruch zwischen der "Weltschau der Leute" und der "Weltschau der Führer" aufgelöst werden. Die Befragung ist dabei das erste Moment der kulturellen Synthese. Diese ist ausgerichtet auf Kreativität und schöpferischen Enthusiasmus, die jedoch allzu häufig durch die kulturelle Invasion einiger Trendsetter zerstört wird, wenn diese als Eindringlinge den Menschen fremde Modelle aufzwingen.

Die Ästhetik Paulo Freires ist dialogischer Art. Sie baut gemeinsame Leitlinien in gegenseitiger Solidarität der politisch Verantwortlichen und des Volkes. Auf kommunikativer Weise findet ein Austausch von Informationen statt: Die aufgeklärte Kenntnis der Volksführer präzisiert das empirische Wissen des Volkes. Dabei soll der Widerspruch der Weltsichten, also der verschiedenen individuellen Wertvorstellungen und Ideologien aufgelöst werden. Oft treffen dabei naive Wünsche des Volkes auf eine kulturelle Invasion ideologischer Führer.

Nach Paulo Freire sollen diejenigen die Macht erhalten, welche die Volkswünsche zur Kenntnis nehmen, um eine kulturelle Invasion zu vermeiden. Diese würde unzweifelbar die Unterdrückung der Menschen bedeuten. Die individuelle Übereinkunft durch die Schaffung einer gemeinsamen Kultur ist folglich ein Entgegenkommen zweier Parteien. Die politisch Verantwortlichen stehen zwischen willkürlicher Machtdurchsetzung und Ermunterung zur Zügellosigkeit, die Menge des Volkes zwischen seiner totalen Befreiung oder seiner Unterdrückung.

Die Ästhetik Paulo Freires beinhaltet revolutionäre Aktionen. Es werden Aktionsformen gesucht, die reines Reden und unwirksames "Blabla" einerseits, mechanistischen Aktivismus andererseits vermeiden. Die geschlossene Wirklichkeit vieler unterdrückter Menschen kann durch schöpferische Arbeit zur Verändererung der Wirklichkeit werden. Aktivistische Methoden, die sich auf bloße Slogans stützen, schaffen lediglich eine Zusammenballung von Individuen mit mechanistischem Charakter. Angestrebt wird vielmehr eine echte Kooperation zwischen der Avantgarde und dem Volk.

Die politische Elite stellt sich dagegen oft als eine Unterdrückerelite dar, die alle Instrumente der Macht besitzt und die ihre Einheit durch den Kampf gegen das Volk erhält. Das Volk besteht aus Menschen, die sich selbst entdecken müssen, damit ihre alltäglichen Worte wie Welt, Mensch, Kultur, Baum, Arbeit oder Tier wieder ihre wahre Bedeutung erlangen. Die Vereinigung dieser verschiedenen Parteien, braucht eine menschliche, verständnisvolle, liebende, kommunikative und demütige Ebene, die das Leben neu erfüllen möchte: "Die Revolution liebt und schafft das Leben. Um Leben zu schaffen, kann man dazu verpflichtet sein, gewisse Leute abzuhalten, Leben zu behindern" (Freire, Pädagogik der Unterdrückten, S. 146)

Ein bedeutender Künstler im Sinne Paulo Freires war Joseph Beuys. Peter Heitkämper hat dazu einen einen wichtigen Aufsatz geschrieben:

Peter Heitkämper: Paulo Freire und Joseph Beuys

Paulo Freire: Der Lehrer ist Politiker und Künstler - Joseph Beuys: Jeder Mensch ist ein Künster

in: Dabisch/Schulze: Befreiung und Menschlichkeit - Texte zu Paulo Freire

Weitere Links:

Die zu Paulo Freire und einer "Musikpraxis der Unterdrückten" passenden Lernformen, sind in aktuellen musikpädagogischen Innovationsbestreben, besonders in der "elementaren" und "kreativen" Musikerziehung zu finden. Dies sind Methoden, die sich mit den Grundelementen der Musik beschäftigen oder die Transformation von Musik in andere Medien anstreben. Auch ein Pädagoge ohne professionelle musikalische Ausbildung kann diese erlernen und anwenden. Eine musikalische Volksbildung mit Hilfe der Musik-Institutionen hat es nicht gegeben. Die Weitergabe klassischer Kulturgüter war kunstwerkbezogen und vollzog sich meist in drei Schritten: Identifikation, Sachanspruch und wirkungsgeschichtliche Vergegenwärtigung "Die erzieherischen Maßnahmen der Musilpädagogen waren kulturelle Invasionen, eine Selbstbestimmung des Musikinteressierten hat es selbst in der Jugendbewegung nicht gegeben. Der Kunsttransfer verharrte in jugendbewegtem Denken" (Eckart Becker in: Holtmeyer 1983, S. 43).

Gesang, Klang und Krach - außerschulische Musikerziehung und die Konzeption Paulo Freires

von Torge Braemer

„Da waren die Gesangsvereine, angesichts der herausragenden Bedeutung der Musik und des lyrischen Worts für die massenhafte Verbreitung sinnstiftender Parolen und Begriffe, für die Nationalisierung der Öffentlichkeit in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzen". Daß gerade „der ungebildete Stand" nicht mit irgendwelchen Liedern seine „Gefühle feyert", sondern nur „ächte deutsche Lieder" singen sollte, dafür trat im 19. Jahrhundert die militant-nationalistische „Deutsche Gesellschaft" mit ihren Statuten ein. Schließlich sorgte die Polizei dafür, daß die Gewalt verbreitenden nationalistischen Ideologien dieser Gruppe nicht weiter vertreten werden konnten (Schulze 1994, S. 203f). Hagen Schulze hebt die Bedeutung der Musikvereine und der Musik als Kommunikationsträger im Zuge der Nationenbildung in der Bücherreihe „Europa bauen" besonders hervor. „Das Vereinswesen transportierte die Idee der Nation in die Bevölkerung" (ebd., S. 203). Die Musik als Transportmittel für „nationale Gesinnung" spielt besonders heute in der sich schnell verändernden europäischen Kultur eine wichtige Rolle. Die menschenverbindende Kraft des Gesangs und der Musik im 19. Jahrhundert ist mit der Bedeutung der Musik im 20. Jahrhundert im musikalischen Sinne gleichgeblieben. Elemente der Musik, wie Rhythmus, Melodie und Harmonie wirken ebenso wie einfache Liedtexte als ein „vereinendes Wesens" auf die Gedanken und Gefühle der Menschen. Mit der fort-schreitenden Industrialisierung und dem Vordringen der Massenmedien treten in unserem Jahrhundert aber auch immer mehr umweltakustische Aspekte in den Vordergrund. Heute mehr als damals sind alle Europäer einer ähnlichen für Industrienationen typischen akustischen Umwelt und deren Gefahrenspotentialen ausgesetzt. Durch kollektive akustische Berieselung der Menschen in den hochindustrialisierten europäischen Ländern, scheinen Hörvermögen und Hörerwartungen mit ihren physiologischen und psychologischen Konsequenzen die Bevölkerung gleichermaßen zu beeinflussen. Schallökologen wie R. Murray Schafer betrachten soziale, gesundheitliche, ökologische, volkswirtschaftliche, psychologische, anthropologische und nicht zuletzt politische Aspekte in bezug auf die akustische Umwelt und werfen dabei Problemfelder wie soziale Segregation, Stress, Krankheiten, etc. auf. So bekommen Klang und Krach durch ihre raumübergreifende Beschaffenheit für die Europäer eine sozial verbindende Dimension. Den Medien, den Natur- und Maschinengeräuschen kann niemand ausweichen, indem er "einfach nicht hinschaut". Der Umgang mit akustischen Phänomenen ist interdisziplinär. Musikpädagogen, Sozialpädagogen, Schallökologen, Psychologen und Politiker sowie alle anderen Menschen sind gleichermaßen gefordert, Schall in ihr Denken miteinzubeziehen.

Im Gegensatz zu passiven akustischen Einwirkungen von Außen, wird aktives Musizieren sowie inneres musikalisches Gestalten im Musikunterricht durch eine erzieherische und dialogische Qualität im Sinne Freires zu einem "kulturellen Handeln". Eine musikalische Aktion kann deshalb zu einer kulturellen Revolution, zu einer Veränderung der Wirklichkeit und zu einer Vermenschlichung beitragen. Das "kulturelle Aktionen" besonders von den Menschen ausgehen, die selbst aktiv Musik machen und weniger von denen, die Musik als Gebrauchsmusik konsumieren, hebt den gesellschaftlichen Aspekt der außerschulischen Musikerziehung besonders hervor. Denn im Instrumental- und Gesangsunterricht wird Musik nicht nur intensiv musisch erlebt, sondern es wird unter anderem auch das nötige Handwerkzeug vermittelt, um selbständig Musik zu machen und um später eventuell zum Beispiel im Konzertwesen auf Menschen professionell musikalisch einzuwirken. Musikpädagogen werden also neben künstlerischen und methodischen auch mit sozialpädagogischen und politischen Problemen konfrontiert, für die Freire sozialpädagogische Herangehensweisen mit einer gut durchdachten Theorie sowie in der Praxis erprobte Methoden anbietet.

Wilfried Gruhn formulierte Fragen zur Standortbestimmung der Musikerziehung der Gegenwart bezüglich bildungspolitischer Gedanken. Deren Inhalte kreisen zwischen den Polen des "Sittlichen" und des "Bedenklichen": Es gehe um "die Bewahrung oder Findung kultureller Identität in einer multikulturellen Welt" und um "die Verwirklichung kooperativen, sozialen Lernens in einer lei-stungsorientierten Gesellschaft" (Gruhn 1993, S. 12f) - klare Schnittstellen mit der pädagogischen Konzeption Freires. Eine wissenschaftliche Befruchtung der "Außerschulischen Musikerziehung" durch eine Auseinandersetzung mit der "Konzeption der Pädagogik Freires" drängt sich hier quasi auf. In Anlehnung an die Fragen zur Standortbestimmung von Wilfried Gruhn und den von Paulo Freire propagierten Leitlinien, scheinen mir folgende Themen für eine pädagogisch-wissenschaftliche Synthese wesentlich zu sein:

  • Methodik (schulischer Aspekt)
  • Wahrnehmung und Verstehen eines Menschen- und Weltbildes (Ästhetik und künstlerischer Aspekt)
  • Bildungstheoretische Grundsätze (gesellschaftlicher und politischer Aspekt)

Methodik (schulischer Aspekt)

Welche methodischen Elemente eine „Musikpraktische Pädagogik der Unterdrückten" im Einzelnen beinhalten könnte, müssen sich aus Experimente mit Arbeitsgruppen ergeben, deren Teilnehmer mit Hilfe eines Musikpädagogen „eine Musikwelt" zu gestalten versuchen. Da von den Teilnehmern nicht erwartet werden kann, daß diese schon ein professionelles musikalisches Handwerkzeug besitzen, sollte versucht werden, ein musikalisches „generatives Thema" zu finden, wie es zum Beispiel eine besonders störende oder auch angenehme akustische Erfahrung, wie eine laute Autobahn oder das Rauschen eines Meeres sein kann. Mit einer kritischen Reflexion kann dann mittels dieses Themas versucht werden, die Beziehungen zwischen den Menschen und der Musik zu erhellen. Vielleicht entsteht das Bedürfnis, sich mit Hilfe von Instrumenten eine eigene Meeresakustik zu kreieren, die dann, von den Musikern praktiziert, jederzeit auf künstlichem Wege zu der angenehmen akusti-schen Erfahrung führen kann. Oder es wird versucht, die Akustik einer störende Autobahn mit musikalischen Mitteln zu imitieren. Die musikalische Arbeit, kann dann zu einer Deutung des Straßenlärms als Krach und Gefahr führen. Musikarbeit macht so akustische Phänomene erlebbar und kann alltägliche Erscheinungen zu problemorientierten Themen leiten und Lösungsstrategien entwickeln. Schließlich können die Teilnehmer ihr eigenes musikalisches Bewußtsein entdecken und die Motivation und Selbstdisziplin entwickeln, dieses zu schulen. Musikalische Phänomene, wie Tonhöhe und Tonlänge, Harmonien und Formen können so in einem natürlichen Lernprozeß ohne Fremddisziplinierung von Grund auf entfaltet und erlernt werden.

Daß es schon jetzt methodische Tendenzen zur "Selbstbestimmung" des Musikinteressierten gibt, zeigen zum Beispiel Innovationen in Hamburg. Dorothee Barth (Barth 1998) berichtete über Neuerungen in außerschulischen interkulturellen musikbezogenen Einrichtungen:

  • Eine internationale Begegnungsstätte "Schulkaffee", hat sich zu einem einzigartigen kulturpolitischen Zentrum entwickelt. (Da es im Lernfeld "Globales Lernen" arbeitet, erhält es sogar Gelder von der EU.) Das Schulkaffee arbeitet mit allgemeinbildenden Schulen zusammen und stellt den Schülern und Schülerinnen Handlungsspielräume und Erfahrungsmöglichkeiten zur Verfügung, die in allgemeinbildenden Schulen nicht gewährt werden können. (Erkundungen, z.B. im Hamburger Hafen, Werkstattprojekte, z.B. Bau von Musikinstrumenten aus Zivilisationsmüll).
  • Multikulturelle Einrichtungen, könnten unter dem Begriff „Freie Aktionen" gesammelt werden: Meist ältere Menschen treffen sich und betätigen sich „nach der Mode des Frei-Atmens und Frei-Töpferns, der Mode des Frei-Trommelns und Frei-Schwingens (...)". Auffällig ist hier die Nachfrage nach Möglichkeiten, das Element Rhythmus in Bewegung umzusetzen.

Exkursionen könnten auch in kulturellen Feldern ausgedehnt werden. Zum Beispiel mit der Erkundung von Musiktheatern, Musikgruppen, Orchestern und Chören, so daß Neugierde nicht durch verschlossene Türen erstickt wird. Die Diskussion über Schulkritik im Allgemeinen und über Musikschulkritik im Speziellen (Vogt 1998) hat im Sinne Freires eine neue Sammlung durchaus guter Vorschläge für außerschulische Lernformen gebracht, die alle folgende Merkmale haben:

  • selbstbestimmte Formen des Lernens
  • durchlässige, freiwillig aufsuchbare Institutionen
  • spezifische Lernformen, die den subjektiven Wirklichkeiten oder auch den Wünschen der Schüler nahe kommen

Konkret werden genannt:

  • Börsen für Fertigkeiten, die Adressen mit Menschen, die ihre besonderen Fertigkeiten, an Interessierte weitergeben können, verwalten.
  • Nachweisdienste für Bildungsgegenstände, die in öffentlichen Gebäuden, Fabriken etc., zu finden sind.
  • Partnervermittlung, da es sich kommunikativ am besten lernt (Vgl. auch Illich 1972, S.112ff.)

Angemerkt sei, daß diese Beispiele wohl nicht unbedingt wirklich neu sind, sondern daß sie eher altbewährte natürliche gemeinschaftstypische Lernformen darstellen. Sie könnten auch als Wurzeln von Institutionen erkannt und beschrieben werden. Mittlerweile gibt es eine Fülle von Musikarbeit, die wesensgleich mit einer "Musikpraxis der Unterdrückten" ist. Dazu gehören zum Beispiel Methoden, die Musik mit Malerei oder Schriftstellerei in Verbindung bringen oder es ermöglichen, daß sich Musikinteressierte auf eine selbstbestimmte Art mit einem Musikinstrument beschäftigen. Diese stellen eine Art kreative, ästhetische Musikpraxis dar, die darauf abzielt, das bewußte Hören, und das innere Gestalten von Klängen zu sensibilisieren und zu trainieren. Schaeffer (Schaeffer 1973, S. 15) wünscht sich in diesem Sinne mehr Innovationen: „Möge der erfinderische Musiker kommen (...). Natürlich keiner, der ein vorfabriziertes Objekt haben möchte. Sondern einer, der das Material liebt und die unvorhergesehene Art, auf einem Instrument zu spielen (...). Es geht nicht so sehr darum, uns vor einer Zuhörerschaft auszudrücken, sondern sie zur Prüfung des Objekts zu veranlassen. Vielleicht hat dieses Objekt etwas zu sagen."

Wahrnehmung und Verstehen eines Menschen- und Weltbildes (Ästhetik und künstlerischer Aspekt)

Mit Freires Worten lassen sich drei Ebenen bezüglich einer Kunstästhetik formulieren, die es Musikpädagogen ermöglichen, das Unterrichtsgeschehen aus einer bildungspolitischen und sozial-pädagogischen Perspektive zu betrachten (vgl. Freire 1970, S.153 ff.). Die Ästhetik Freires ist eine sprachliche, die die kulturelle Synthese von Wünschen des Volkes (in diesem Falle Musikinteressierte) und denen der Leader (in diesem Falle Musikpädagogen) anstrebt. Dabei soll sich mit Kommunikation der Widerspruch zwischen der Weltschau der Leute und der Weltschau der Leader auflösen. Die Befragung ist das erste Moment der kulturellen Synthese. Diese ist für Kreativität und ist nicht gegen schöpferischen Enthusiasmus, die allzu häufig durch eine sprachlich-kulturelle Invasion einiger Leader zerstört wird, wenn diese als verbale Eindringlinge den Menschen fremde Modelle aufzwingen.

Die Ästhetik Freires ist dialogisch. Sie baut gemeinsame Leitlinien in gegenseitiger Solidarität der Leader und des Volkes. Dabei findet mit Dialog ein Austausch von Informationen statt: Die aufgeklärte Kenntnis der Leader, also die weniger Menschen, präzisiert das empirische Wissen (zum Beispiel die Musikalität) des Volkes, also vieler Menschen. Dabei soll der Widerspruch beider Weltanschauungen, also der verschiedenen individuellen Wertvorstellungen und Ideologien aufgelöst werden. Oft treffen dabei naive Wünsche des Volkes auf eine Invasion weniger Leader. Dabei sollten diejenigen, die Macht haben, die Volkswünsche zur Kenntnis nehmen, um eine kulturelle Invasion zu vermeiden, da diese Unterdrückung der Menschen bedeutet und deren Lust und Energie für die Arbeit (zum Beispiel mit ihrem Musikinstrument) früher oder später nimmt. Die individuelle Übereinkunft durch die Schaffung einer gemeinsamen Kultur ist folglich ein Entgegenkommen zweier Parteien. Die Partei der wenigen Leader steht zwischen willkürlicher Machtdurchsetzung und Ermunterung zur Zügellosigkeit, die Menge der Menschen, das Volk, zwischen ihrer totalen Befreiung oder ihrer Beherrschung.

Die Ästhetik Freires ist aktiv-revolutionär. Es werden Formen der Aktion gesucht, die „reines Reden und unwirksames `Blabla´ einerseits, mechanistischen Aktivismus andererseits vermeiden". Menschen mit geschlossenen Wirklichkeiten können durch schöpferische Arbeit zu Veränderern einer Wirklichkeit werden. Aktivistische Methoden, die sich auf bloße "Slogans" stützen, schaffen lediglich eine Zusammenballung von Individuen mit "mechanistischem Charakter". Angestrebt wird allerdings eine "echte Kooperation" zwischen der Elite und dem Volk. Die Elite wird aufgrund Freires Erfahrungen mit den politischen Problemen in Südamerika als eine Unterdrückerelite beschrieben, die "Instrumente der Macht" besitzt und die ihre Einheit durch den "Kampf gegen das Volk" erhält. Das Volk sind Menschen, die "sich selbst entdecken lernen" müssen, damit Worte wie "Welt, Mensch, Kultur, Baum, Arbeit, Tier" (oder auch die Grundelemente der Musik) wieder "ihre wahre Bedeutung" erlangen. Die Vereinigung dieser verschiedenen Parteien, braucht eine "menschliche, verständnisvolle, liebende, kommunikative und demütige" Ebene, die das Leben neu erfüllen möchte.

Schon nach kurzem Studium der Theorie Freires wurde mir klar, daß die "Neue Musik" zum Beispiel der 20er Jahre auf die Kunstästhetik einer Musikpraxis der Unterdrückten hinweist. Carl Dahl-haus faßte diese mit fünf Antithesen zusammen: "Der romantischen Kunstreligion setzte man eine ernüchternde Sachlichkeit, der ästhetischen Autonomie eine Bemühung um Funktionalität, dem kontemplativen Verhalten ein aktives, der Genieästhetik eine Handwerksideologie und der Bil-dungsidee ein Plädoyer für Praxis - bis hin zur politischen - entgegen" (Dahlhaus 1978, S.58). Die bei Wagner im Orchestergraben versteckten Instrumentalisten werden in dieser neuen Musik für den Hörer ins Licht gestellt, um jeglichen Zauber durch die sichtbare Aktivität der Musiker zu erhellen. Der Hörer darf wieder aktiv werden. Er sollte das Sichtbare reflektieren, die von Wagner als trivial abgetane Musizierpraxis erkennen. Die lebendige Form erhielt neuen Wert. Die Musik der 20er Jah-re entwickelte durch diese neue Durchsichtigkeit einen großen künstlerischen Schub. Auch heute sollte außerschulische Musikarbeit auf aktivem, sachlichem, handwerklichem und kreativem musikalischen Funktionalismus aufbauen, da diese Art der Herangehensweise, den methodischen Regeln Freires folgend, den Musikinteressierten den Sinn für ihre Beschäftigung erkennen läßt.

Musiker waren für Wagner bloße Werkzeuge zur Schaffung zweckfreier und selbstgesetzlicher Musik, die den Hörern eine phantastische klangliche religiöse Freiheit, eine sphärische übersinnliche Kraft suggerieren sollte. Hörer waren begeistert, aber gegen so eine Übermacht wehrlos. Anders die mit Strawinsky anbrechende "Neue Sachlichkeit", die als ernüchternde Handwerksideologie be-zeichnet werden könnte. So wurde nun ganz im Sinne Paulo Freires das Offensichtliche bedacht. Hätte Freire sich von Wagners mystifizierten Themen wie Liebe, Glaube und Hoffnung zum Beispiel des mythischen Parsifals verzaubern lassen? Oder hätte er sich von den aufgeklärten lebendi-gen Formen, des von Strawinsky komponierten Tanzspiels "das Frühlingsopfer" mit "Bildern aus dem heidnischen Rußland" zu einer geistigen Beschäftigung motivieren lassen?

Als Ana Maria Araújo Freire (Freire 1997, S.52 ff.) in Oldenburg für ihren verstorbenen Mann die Urkunde der Doktorehre entgegennahm, sprach sie vom Lebenswerk Paulo Freires. Mit seiner schöpferischen Tätigkeit entwickelte er "eine Theorie und Praxis des Erkennens". Auch Freire verfolgte die Ästhetik der neuen Sachlichkeit. Er "bedachte das Offensichtliche", "konkrete Lebenszusammenhänge und Sehnsüchte der ausgeplünderten Leute, die nur Wissen repro-duzieren konnten, das von natürlicher Einfachheit und mythischen und mysthischen Elementen durchdrungen ist" .

Bildungstheoretische Grundsätze (gesellschaftlicher und politischer Aspekt)

Am Anfang dieses Abschnitts steht ein kurzer historischer Exkurs über bildungspolitische Tendenzen in der Musikerziehung in Deutschland und danach werden reformpädagogische Einschnitte in der Geschichte der Musikerziehung einigen Punkten der Theorie Freires gegenübergestellt. Dabei wird deutlich, daß die musikpädagogischen Bestrebungen von Beginn des 19. Jahrhunderts bis zu den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts eine von einer Elite initierten Bewegung war, die darauf abzielte, durch Institutionalisierung eine nationale, religiöse sowie moralische Volkskultur zu schaffen. In der Geschichte der Musikerziehung wurde bisher immer das hohe Ideal angestrebt, die Erscheinungsformen abendländischer Musik, das "Kulturgut großer Meister" zu verinnerlichen. Eine musikpraktische "Revolution vom Volke aus", ausgehend von den akustischen und musikalischen Erfahrungen, die Menschen in ihrer eigenen Lebenswelt machen, wurde im Zuge der Institutionalisierung immer mehr unterdrückt. Es besteht allerdings seit den 70er Jahren die Hoffnung, daß im Zuge aktueller innovativer methodischer und bildungspoltischer Bemühungen neben der musikalischen Ausbildung in Musikschulen, der Erwachsenenbildung und der Schulmusik, eine von allen Menschen selbstbestimmte kreative Musikarbeit entstehen kann, die zu einem erweiterten akustischen Erleben und zu mehr Selbstbewußtsein und zu kultureller Aktionsfähigkeit im Sinne Freires führen kann. Darüber hinaus wird durch die individuelle Beschäftigung mit den natürlichen Grundelementen der Musik ein selbstbestimmter Einstieg in das künstlerische Musizieren ermöglicht

.

"Mit innerer Unbefriedigtheit und ohne viel freudebringenden Erfolg arbeitet der Musikerzieher an den höheren Schulen. Der Drang zum Vorwärtskommen wird trotz bestem Wollen unter Einsatz aller Kraft gehemmt durch die Passivität der heutigen höheren Schule, die weder Zeit, Raum noch Neigung hat, dem Kunsterziehungsproblem ernstlich näher zu treten. Behörden, Leiter, Lehrer und der im stumpfsinnigen Beharrungsvermögen aufwachsende Teil der Jugend schaffen Widerstände, die selbst ernstestes Streben der Fleißigsten auf die Dauer lahmlegen" (Martens 1920, zitiert nach Gruhn 1993, S. 234). Heinrich Martens (1876-1964) sprach damals und auch heute noch vielen Mu-sikpädagogen aus der Seele. Das Kunsterziehungsproblem begrenzt sich heute allerdings nicht nur auf die höheren Schulen, sondern es hat sich auch auf außerschulische Musikarbeit in den Musikschulinstitutionen ausgedehnt. Und auch dort, so könnte man vermuten, liegen die Hindernisse in der "Passivität der Schule". Es scheinen schulische Bestrebungen zu fehlen, die den Lehrern und Schülern den Sinn von Musikarbeit bewußt machen könnten. Bei den Musikpädagogen herrscht immer noch große Ratlosigkeit bezüglich eines politischen und gesellschaftlichen Sinns ihrer Arbeit. Fragen nach "musikalischem Bildungsauftrag" lösen bei MusiklehrerInnen häufig eine "Verlegenheit" aus, weil im allgemeinen über den Begriff "Bildung", aber auch speziell über den Begriff "musikalische Bildung" keine Klarheit besteht (Mahlert 1992, S.11-18). Dies ist ein Defizit im außerschulischen musikalischen Bildungswesen, das zu einer Beschäftigung mit bildungstheoretischen Grundsätzen herausfordert.

Musikalische Volksbildung und ein europäischer Gemeinsinn durch kulturelle Invasionen?

Der uns durch Freire gegebene Kenntnisstand über die Theorie der revolutionären Aktion läßt die Musikerziehung bis zu den 70er Jahren dieses Jahrhunderts im Licht bildungspolitischer "unterdrückerischer Aktionen" erscheinen, die auch als "kulturelle Invasionen" beschrieben werden könnten. Diese Bemühungen um gesellschaftliche Belange der Musik waren wie im oben angesprochenen Fall im 19. Jahrhundert allerdings nicht nur restriktiv. Es gab schon ernsthafte bildungspolitische und kulturelle Vorstöße, die eine Verbesserung des allgemeinen Kunsterziehungsproblems anstrebten. Einfluß auf die Bildungspolitik nahm zum Beispiel Carl Friedrich Zelter, als er 1800 die Direktion der 1789 zur Pflege des Chorgesanges gegründeten Berliner Singakademie übernahm. Im Zuge des Reformbestrebens von Hardenberg sah Zelter die Chance, etwas zur Hebung des Musikle-bens für die breiten Bevölkerungsschichten bewirken zu können. In seiner 1. Denkschrift, die er zur Eingabe an die preußischen Kultusbehörden verfaßte, hob er den Einfluß der Tonkunst auf Sittlich-keit und Moral und insbesondere auf "die Ausbildung der deutschen Nation" hervor. Die durch militante Singbewegungen hervorgerufenen Ängste der Staatshüter wiegelt er ab: "Die Mißbräuche der Chöre lassen sich abstellen, und dass vorzüglich die öffentliche Erziehung der Musik nicht entbeh-ren kann, ist unleugbar" (W. v. Humboldt 1809, S. 38., zitiert nach Gruhn 1993, S. 36). Dabei wurde die Musik trotz der Säkularisierungsbestrebungen wegen der "herzerhebenden Wirkung" der Kirchenmusik und der schon traditionellen kirchlichen Musikinstitutionen durch Kantoren und Organi-sten mit Forderungen nach Institutionalisierung wieder an die Kirche gebunden. Mit der Errichtung des "Königlich Akademischen Instituts für Kirchenmusik, das 100 Jahre später von Leo Kestenberg zur "Akademie für Kirchen- und Schulmusik" ausgebaut wurde, kam die enge Verbindung von Kirche und Schule besonders zum Ausdruck. Der schulische Gesangbildungsunterricht sei nicht nur für die Verschönerung des schulischen und häuslichen Lebens von großer Wichtigkeit, sondern auch für die "Veredelung der Volksfeste und vornehmlich für die Belebung der häuslichen und kirchlichen Andachten". Der Gesangunterricht wurde so mit Hilfe der traditionellen Kirchenmusik funktionali-siert für eine "moralische Nationalerziehung" und zur "religiösen Erbauung" (Gruhn 1993, S. 36).

Freire hätte vermutlich diese Bemühungen für die Musik einzelner "Leader" bewundert. Auch Schiller und Goethe hätten sich darüber gefreut, daß endlich der "Kunstpfuscherey" der "Krieg angekündigt" wurde (zitiert nach Gruhn 1993, S. 35). Allerdings hätte Freire das Kernproblem der Mobilisierung der musikalischen Potentiale des Volkes anders beschrieben: Zelters und Humboldts Vorgehen hätte Freire als eine "Praxis der herrschenden Eliten" erkannt. Die angestrebten Ziele konnten gar nicht erreicht werden, denn eine wirkliche Volksbildung lasse sich auch in der Kultur nur durch eine "Revolution" von den Menschen aus erreichen und nicht durch eine Institutionalisierung zur Verwirklichung der Ideen einer Elite, in diesem Fall die Idee, "Kulturgut alter Meister" zu vermitteln. Die revolutionäre Praxis kann nicht nur darin bestehen, den Entscheidungen und Ideen der "Leader" zu folgen. "Es ist absolut entscheidend, daß die Unterdrückten am revolutionären Prozeß mit einer zunehmend kritischen Wahrnehmung ihre Rolle als Subjekte der Veränderung teilnehmen (Freire 1970, S. 105ff)". Als Musikpädagoge sollte man zumindest in Betracht ziehen, daß nicht nur organisatorische, finanzielle und eingeschränkte (nur auf den Schulgesang bezogene) Bildungspolitik für den "kläglichen Zustand der deutschen Schulmusik" (Gruhn 1993, S.146) im 19. Jahrhundert und auch im 20. Jahrhundert verantwortlich ist. Ebenfalls könnte die Überlegung angestellt werden, daß eine natürliche kritische Wahrnehmung der Menschen dazu geführt hat, daß die Mehrheit der Menschen sich den künstlerischen und praktischen Forderungen der "Leader" nicht unterordnen wollte.

In den 20er Jahren wurde unter der Mitwirkung von Leo Kestenberg und Fritz Jöde ein Leistungsprinzip entwickelt, das bildungsökonomisch vom Standpunkt des größten Nutzens für die SchülerInnen und die Gesellschaft ausgeht. Es wurde - wie im modernen Sinne - Individualität und Rentabilität bedacht. 1924 errichtete Fritz Jöde die Musikschule für Jugend und Volk und startete einen Aufruf an "alle verantwortlichen Stellen", "auf jeden Fall zu verhindern, daß vorhandene Kräfte brach liegen bleiben". Er führte den Weg der Institutionalisierung weiter, obwohl er zum Beispiel im Zuge der Jugendbewegung eigentlich gegen eine Institutionalisierung war. (Vgl.: Jöde 1924, S. 10.) Seine Überzeugung war es, daß gar nichts gemacht werden könne. "Es wird alles aus eigener Kraft. Das einzige was man tun kann, ist den Boden bereiten, auf dem alles wachsen kann" (ebd., S.10). Trotz dieses Dilemmas des "eigentlich nichts tun könnens" initiierte er schließlich mit Erfolg die ersten Jugend- und Volksmusikschulen, die Vorläufer unserer privaten und städtischen sowie staatlich geförderten Musikschulinstitutionen. Jödes Anliegen war es, "volkserzieherisch zu wirken und der ganzen Jugend Zugang zum Kulturgut der alten Meister zu ermöglichen" (Gruhn 1993, S. 224ff). Ein Bildungstransfer von einer Elite ausgehend, die den Dialog mit dem Volk zwar nicht scheute, aber doch ihre musikalischen Entwicklungswünsche falsch einschätzte. Die musikalische Volksbildung der 20er Jahre mit ihren vielfältigen Arbeitsgemeinschaften "verharrte in jugendbe-wegtem Denken", das diesen Transfer unterbrach. "Von einem wirklichen Beitrag zu einer musikalischen Volksbildung kann nicht gesprochen werden" (Eckart-Bäcker, in Holtmeyer 1989, S. 43).

Die von Freire durch die Alphabetisierungsprogramme erreichte breite kulturelle Volksbildung gibt allerdings Hoffnung auf eine umfassende musikalische Volksbildung, der die Prinzipien der befreienden Pädagogik Freires zugrundeliegen. Freires volkserzieherische Bemühungen bauen auf eine problemformulierende Bildung, die den Menschen als Wesen im Prozeß des Werdens bestätigt (Freire 1970, S. 68). Probleme, die vielleicht im Bereich der Umweltakustik aufgedeckt werden könnten und mit kreativer Musikpraxis als Konzepte "generativer Themen" begriffen und behandelt werden könnten.

Die sich neu konstituierende parlamentarisch-demokratische Staatsform der Weimarer Republik machte eine Neugestaltung auch des Bildungssystems notwendig. Das häufig formulierte Kunsterziehungsproblem sollte mit der Kestenberg-Reform neu angegangen werden (Gruhn 1993, S. 244). Kestenberg stellte die bildungspolitische Forderung, den Musikunterricht über den bloßen Gesangsunterricht hinaus zum Verstehen und zum Eindringen in die Musiktheorie zu führen. Seine Hauptthese verfolgte ebenfalls einen Gemeinsinn, der vom "Prinzip des Erlebens" ausgeht: "Das Künstlerische zu wecken und die Idee des Gemeinsamen, der harmonischen Ausbildung [...] durchzusetzen, das wird die Aufgabe sein, die sich eine Schulmusikreform zu stellen hat (Kestenberg 1920, S.6)." SchülerInnen sollten nun "in Geist und Kraft der musikalischen Kunst, in ein Erleben, Mitempfinden und Verstehen der Musik, in ein produktives Mitarbeiten beim Singen, Spielen oder Hören von Musikstücken" eingeführt werden. Eine traditionsreiche Forderung, denn "Musikpflege" ist ja auch heute noch ein geltender Gemeinsinn der Musikerziehung.

Daß Musikpädagogen und Politiker insbesondere in Deutschland hinsichtlich einer gesellschaftlichen Funktion der Musikerziehung nicht unbedingt Leitlinien setzen konnten, wird schnell deutlich, wenn man sich die bildungspolitischen Ziele vor Augen führt, die zur Zeit des Nationalsozialismus aufgestellt wurden. Meinungen zu angestrebten Leistungen und Zielen des Musikunterrichts hin-sichtlich eines geäußerten "Gemeinwohls" waren zum Beispiel diese: "So sind die Werke der Kultur Waffen des Krieges, der nicht zuletzt um den Bestand der europäischen Kultur geführt wird" (Frotscher 1942, in Hemming 1977, S. 164). "Sie [Jugendmusikschulen, Anmerkung d. Verf.] sind selbständige Schulformen, (...). Sie stehen (ebenso wie die Musikschulen und Musikkurse des Deut-schen Volksbildungswerkes) im Bereich der Menschenführungsaufgaben der Partei und ihrer Jugend" (Stumme 1939, in Hemming, S.157). Die hier bezüglich eines politischen Gemeinsinns formulierten Ziele folgten den absolutistischen, undemokratischen und menschenrechtszerstörerischen Formen der Führung der NSDAP und unterwerfen Musikerziehung dem Ausbildungsziel politischer Führungskompetenzen und Obrigkeitsgehorsam: "1933 gerät die musikalische Erwachsenenbildung in den Strudel der politischen Ereignisse. Gleichgeschaltet, zum Instrument faschistischer Propaganda und staatlicher Machtpolitik degradiert, fällt sie schließlich mit dem Scherbenhaufen zusammen (...)." Heute herrscht die allgemeine Übereinstimmung, "daß musikalische Betätigung nicht in einem politischen Schonraum stattfinden kann, Musikarbeit mit Laien auch immer ein Stück Politik beinhaltet, wenn auch oft nicht bewußt und unreflektiert (...)" (Gert Holtmeyer 1998, S.12). Aber es läßt sich hierbei ebensowenig die Tatsache verkennen, "daß uns unsere jüngere Vergangenheit immer wieder einholt und auf alles ihre Schatten wirft" (ebd., S.12). In der Musik erscheint für Laien der Orchesterdirigent oder der Chorleiter irritierenderweise oft als Verkörperung einer notwendigen "Führungskraft", die "Obrigkeitsgehorsam" ausstrahlen soll. Der Dirigent oder Chorleiter sollte aber immer nur ein Musikleiter sein, der die Erfordernisse der Musik vertritt und im philosophischen Sinne Sänger, Organisator oder Redner ist und durch seine guten Erfahrungen zur Musikautorität wird. Dabei verfolgt er ebenso wie Freire das Ziel der Bewußtmachung, allerdings der Bewußtma-chung eines in Notenschrift und mit der Erfahrungen einiger "Leader" überlieferten Werkes. Freire bezieht sich auf die Bewußtmachung der eigenen sozialen Wirklichkeit: Wenn "Welt" und "Mensch" miteinander kommunizieren, können Menschen aus der Welt auftauchen (Freire 1970, S. 105). Analog könnte es heißen, wenn "Musik" und "Mensch" miteinander kommunizieren, können Menschen aus der Musik auftauchen. Sie können dann, auch mit der Hilfe des Musikpädagogen, eine eigene Musikwelt gestalten. Bei diesem Prozeß bauen die stattfindenden Auseinandersetzungen zwischen Welt oder Musik und den einzelnen Menschen auf Reflexion, Dialog und Veränderung. Bewußtmachung tritt dabei als alles übergreifender "Gemeinsinn" hervor, der im praktischen Musikunterricht, wie in der Sozialpädagogik gleichermaßen gelten kann. Im innovativen bildungspoliti-schen Bestreben erscheint vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen bildungspolitischen Vereinnahmung der Musikerziehung ein Blick auf die von Freire entwickelte Theorie der kulturellen Synthese als eine von Obrigkeitsgehorsam und Führungsdikatur befreiende Sichtweise. Die Vereini-gung von Musik und Mensch braucht eine "menschliche, verständnisvolle, liebende, kommunikative und demütige" Ebene, die das Leben neu erfüllen möchte. (Vgl. Freire 1970, S.146.)

Bei diesem kurzen historischen Exkurs mit einem Blick auf das reformpädagogische Bestreben der deutschen Musikerziehung dieses Jahrhunderts, sollten die Entwicklungen der Nachkriegsjahre, der siebziger Jahre und auch aktuelle Bemühungen nicht übersehen werden. Der Verband Deutscher Tonkünstler und Musiklehrer beschloß im Oktober 1949 Grundsätze für die Neuregelungen des Musikunterrichts mit dem Blick zurück auf die durch die Kestenbergreform geprägte Vorkriegszeit (Holtschneider 1948, in: Hemming 1977, S. 171). Die Vorschläge für die Regierungen mit der Bitte, gesetzliche Regelungen zur Neuordnung des Musikunterrichtswesens zu ergreifen, bauen nur auf existentielle Bedürfnisse: Es wurde eine "gewissenshafte Überprüfung der fachlichen und sittlichen Eignung der Musiklehrer" und eine Förderung der "in schwerste Not geratenen konzertierenden Künstler und Musikerzieher" durch Gelder aus öffentlichen Mitteln angestrebt (ebd., S. 171). Es gab in jenen Krisenzeiten wenig Möglichkeiten der kreativen und neuen Formulierung gerechter Bildungstheorien.

Seit der Diskussion um einen Gemeinsinn als Ziel außerschulischer Musikausbildung wurden in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts also u.a. gewaltsame Ziele, wie "Menschenführung" und "Waffen des Krieges", bildungsökonomische Ziele, wie "Musikpflege" und fachliche Ziele, wie "musische Erziehung" genannt. Erst in den 70er Jahren dieses Jahrhunderts sind allerdings bildungspolitische Formulierungen für die außerschulische Musikerziehung zu finden, die solidarisch und sozial gerecht sind und in unser global-europäisches Zukunftsprojekt passen. Obwohl wegen der Verquickung politischer und künstlerischer Interessen der gesellschaftliche Auftrag der Musikschule bewußt, auch in dieser Zeit, in der Präambel zum Lehrplanwerk des VdM nicht explizit geäußert wird, scheint es seit den 70er Jahren jedoch ein Einverständnis zu geben, daß heutige Grundleitlinien außerschulischer Musikerziehung abseits der Forderung nach einer "Orientierung am Kunstwerk", auf dem Boden der "Kommunikation" und "Ästhetik" aufbauen (Hopf 1976, S.26 in: Hemming 1977, S. 343):

"Die allgemeinbildende Schule hat sich in ihrer curricula-ideologischen Anfälligkeit in den letzten Jahrzehnten von Mode zu Mode bewegt, die Musikschule hingegen hat sich immer daran orientiert, daß der Kunst ein Können zugrunde zu liegen hat, ganz schlicht ein Arbeitenkönnen - wie es Brecht formuliert hat. Dabei ist der Musikschule - dieser zukunftsträchtigen jungen Institution - zu wünschen, daß sie über engere musikalische Sachverhalte hinaus zu einem polyästhetischen Kommunikationszentrum werden möchte."

Der in der außerschulischen Musikerziehung jetzt auch immer mehr international anerkannte, auf "Kommunikation" und "Ästhetik" aufbauende Gemeinsinn, kann durch die Pädagogik Paulo Freires bereichert und interessant werden. Er selbst und viele seiner pädagogischen Mitstreiter konnten, aufbauend auf einer "Bildung als Praxis der Freiheit", Methoden und Erziehungsziele entwickeln, mit denen viele Menschen zu einem erweiterten Bewußtsein, zu mehr Kommunikationsfähigkeit und zu mehr Bürgerrechten verholfen werden konnten. Auch Musikpädagogen sollten diese bildungspolitischen Ansprüche, in ihre Methodenüberlegungen miteinbeziehen, gerade dann, wenn es nicht um Talentförderung, sondern um die egalitäre Forderung Kodálys (Maróti, in: Sandor 1975, S. 287) geht, daß Musikerziehung alle Menschen erreichen möge und nicht nur zu einer Elitenbildung beiträgt. Die Konzeption der Pädagogik Freires enthält die für die außerschulische Musikerziehung notwendigen sozialpädagogischen, menschenrechtlichen und europäischen Dimensionen. Darauf aufbauend könnten Fragen zu einer Standortbestimmung zu bildungspolitischen Zielen der europäischen außerschulischen Musikerziehung im Sinne Freires formuliert werden:

  • die Förderung der Bewußtseinsbildung unabhängig von Fragen musikalischer Begabung und Bewertung durch neue kreative Musikarbeit
  • die Ermöglichung und Hilfe zu kultureller Synthese der Menschen in dem sich entwickelnden Europa durch außerschulische musikalische Aktionen
  • die Forderung nach Selbstbestimmung des Musikinteressierten.

Dieser neue bildungspolitische "Gemeinsinn" kann zu einem Motivationsschub in der Musikpädagogik, zu neuen musikalischen Vorgehensweisen sowie zu einer europäischen Solidarität in der außerschulischen Musikausbildung beitragen.

Literatur

  • Araújo Freire, Ana Maria: Ansprache zur Entgegennahme der Urkunde der Ehrenpromotion für Paulo Freire, in: Oldenburger Universitätsreden, bis, Oldenburg 1997
  • Barth, Dorothee : Thesenpapier für die WSMP-Tagung 1998 "Außerschulische interkulturelle und musikbezogene Ein-richtungen in Hamburg - eine exemplarische Bestandsaufnahme"
  • Goethe, Johann Wolfgang: Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799 bis 1832, hg. von K. Richter, München 1991, zitiert nach Gruhn 1993, S. 35
  • Dahlhaus, Carl: "Musikalischer Funktionalismus". In: Schönberg und andere, Schott´s Söhne, Mainz 1978, S. 57-71
  • Die deutsche Jugendmusikbewegung in Dokumenten ihrer Zeit von den Anfängen bis 1933, hg. vom Archiv der JMB e.V. Hamburg von W. Scholz und W. Jonas- Corrieri Wolfenbüttel 1980. Zitiert nach Gruhn 1993, S. 225
  • Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten, Kreuz Verlag Stuttgart, Berlin 1970, Rohwolt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Oktober 1973, Januar 1996
  • Frotscher, Gottholb: Die Musikarbeit im Kriegsjahr 1942, Musik in Jugend und Volk, 6. Jg. 1943, Heft 1, S.2ff. In: Hemming 1977, S. 164-167
  • Jöde, Fritz: Musik und Erziehung, Julius Zwisslers Verlag, Wolfenbüttel 1924
  • Gruhn, Wilfried: Geschichte der Musikerziehung, Wolke Verlag, Hofheim 1993
  • Hemming, Dorothea (Hrsg.): Dokumente zur Geschichte der Musikschule (1902-1967), Gustav Bosse Verlag, Regensburg 1977
  • Hopf, Helmuth: Musikalisches Kommunikationszentrum. Zum gesellschaftlichen Auftrag der Musikschule, Neue Musikzeitung, Mai/ Juni 1976, S. 26. In Hemming 1977, S. 343
  • Humboldt, Wilhelm v. : Schriften zur Politik und zum Bildungswesen, "Über geistliche Musik," 1809, hg. von A. Flitner und K.Girl, Band 4, Darmstadt 1964, S. 38, zitiert nach Gruhn 1993, S.36
  • Illich, Ivan: Entschulung der Gesellschaft, Kösel-Verlag GmbH & Co., München 1972
  • Kestenberg, Leo: Musikerziehung und Musikpflege, Verlag Quelle & Meyer, Leipzig 1921.
  • Mahlert, Ulrich: Einige Gedanken über Bildung und Instrumentalunterricht, in: Üben und Musizieren (1992), H.1, S.11-S.18
  • Maróti, Gyula: Educacion musical extraescolar. In: Educacion Musical en Hungria, Real Musical, Imprenta Franklin, Budapest 1981, S. 287-310
  • Martens, H.: Neue Bahnen, in MfS 14, 1920, S. 216f, zitiert nach Gruhn 1993, S. 234
  • Schafer, R. Murray: Die Schallwelt in der wir leben, Universal Edition A. G., rote reihe Wien 1969
  • Schulze, Hagen: "Staat und Nation in der europäischen Geschichte", C.H. Beck, München 1994
  • Stumme, Wolfgang: Die Jugendmusikschule 1939, in: Wolfgang Stumme (Hrsg.), Schriften zur Musikerziehung, Band 1, Berlin Lichterfelde1939, S.53 ff. In Hemming 1977, S.156-163
  • Verband Deutscher Tonkünstler und Musiklehrer VDTM (Holtschneider, Carl, Archiv des VdM): "Grundsätze für die Neuregelung des Musikunterrichts" Oktober 1949. In Hemming 1977, S. 171
  • Vogt, Jürgen: "Außerschulische Musikpädagogik", aus schulkritischer Perspektive gesehen. Oder: Ivan Illichs "Entschulung der Gesellschaft" - wiedergelesen nach 20 Jahren, Beitrag zur WSMP - Tagung 1998