Die "natürliche Methode" und der "Bildungskreis"

von Jos Schnurer

Ein Versuch, sich unter dem Blickpunkt des Interkulturellen Lernens dem pädagogischen Denken von Célestin Freinet (1896-1966) und Paulo Freire (1921-1997) zu nähern.

Die schöne Geschichte von Célestin Freinet über das Treppensteigen, als Metapher für methodisches Planen und Vorgehen (M 1), machen das Anliegen der „Freinet-Pädagogik" deutlich, dass es nämlich zur Initiierung eines Lernprozesses viele unterschiedliche methodische Wege gebe. Sie gipfelt bei Freinet in der Frage, ob es nicht eine Pädagogik für Adler gäbe, die gar keine Treppe benötigten, um nach oben zu kommen?

Paulo Freie sagt vollkommen richtig, dass Erkenntnis nicht darin beruht, „daß ein zum Objekt gemachtes Subjekt gelehrig und passiv die Inhalte übernimmt, die ein anderer ihm aufzwingt. Im Gegenteil, Erkenntnis setzt eine wißbegierige Haltung des Subjektes der Welt gegenüber voraus. Sie verlangt die Veränderung der Wirklichkeit durch das Subjekt. Sie fordert ein ständiges Suchen. Sie beinhaltet eigene Schöpfung und immer wieder neue eigene Schöpfung„ (M 2).

Nimmt man die beiden Einleitungstexte, dann bietet sich in der Tat für einen Vergleich der beiden Bildungskonzeptionen die „Treppe„ an, weil Treppen in vielen Fällen notwendig sind, um einen anderen, höhergelegenen Ort zu erreichen, hinauf- oder herunterzukommen, aber auch, weil Treppen nicht zwangsläufig dafür erforderlich sind. Auch mit einem Seil läßt sich eine andere Ebene erklimmen, oder mit einer Sprungstange... Treppen nach unserer Metapher sind demnach sinnvoll, weil sie Wege weisen, aber auch einengend und begrenzend, weil sie nur vorgezeichnete Wege ermöglichen.

Freinet ist ein Reformpädagoge. Er hat seine Ideen und Grundsätze in der Zeit der europäischen Reformpädagogik entwickelt, sich insbesondere anregen lassen von den Denk- und Handlungsentwürfen der führenden Reformpädagoginnen und –pädagogen, wie: Ferrière, Décroly, Dewey, Kerschensteiner, Montessori, Parkhurst, Lietz, Petersen, u.a. Seine „pédagogie populaire", die „Pädagogik des Volkes" (Roycourt) ist getragen von dem Bewußtsein, dass sich die damaligen Zustände in Erziehung und Schule verändern müßten und die Geistlosigkeit und Lebensferne der Stoff- und Methodenvermittlung zugunsten einer Mitbestimmung der Lernenden und Lehrenden im Sinne eines „natürlichen Denkens„ und von „natürlichen Methoden„ umgebildet werden müsse. Die Neuordnung der Gesellschaft ist für ihn oberstes Ziel, und sie ist eng verbunden mit der Aufklärung und Befreiung der Arbeiterklasse von der Fremdbestimmung. Deshalb ist die Freinet-Pädagogik politisch jedoch nicht als dogmatisches, fundamentalistisches und ideologisches Denken, sondern getragen von dem Bewusstsein auf das Angewiesensein von pragmatischer Entscheidung und dem demokratischen Kompromiss. Mit seinen „pädagogischen Techniken", die er aus den Kontakten mit anderen Reformpädagogen gewinnt – Druckerei, Klassenkorrespondenz und Klassenrat – will er die „andere Wirklichkeit„ des Lernens schaffen, in der solidarisches Miteinander statt Konkurrenzlernen, phantasievolles, spontanes Tun statt Vermittlung von „totem Buchwissen„, kreatives, handwerkliches Schaffen statt Künstlichkeit und Lebensferne herrschen. Mit seiner Forderung „Plus de manuels!" – „Weg mit den Schulbüchern!" – setzt er sich ein für kritisches, ganzheitliches Lernen und gegen vorgegebene und portionierte Stoffvermittlung.

In den Grundsätzen der Freinet-Pädagogik , wird deutlich, dass die Ziele, wie freie Entfaltung der Persönlichkeit, Initiierung von Phantasie und Neugier und Entwicklung des Lernwillens auch hier und heute ihre Berechtigung haben:

  • Schülerinnen und Schüler haben das Recht, ihren eigenen Lernprozess auf der Grundlage der individuellen Entwicklung zu gestalten
  • Dies gilt für alle Kinder, sowohl der eigenen als auch einer anderen Muttersprache. Deshalb ist die Vielfalt der Persönlichkeiten eine Bereicherung bei der Findung der eigenen Identität.
  • Schülerinnen und Schüler haben das Recht auf den je eigenen Lernrhythmus.
  • Lernen soll Freude vermitteln und Erfolgserlebnisse ermöglichen.
  • Selektion als Ergebnis von Konkurrenzdenken und -lernen soll es nicht geben.
  • Die Ziele des Lernprozesses werden bestimmt vom experimentierenden und forschendem Lernen; eigene Lernversuche stehen vor „fertigen„ Ergebnissen.
  • Kritisches Lernen und Auseinandersetzungen mit der Wirklichkeit bestimmen das Denken der Schülerinnen und Schüler, nicht vorgegebenes „Buchwissen„.
  • Die Schülerinnen und Schüler initiieren und organisieren ihre eigenen, individuellen Lernprozesse.
  • Gemeinsame Lernprozesse sind bestimmt von der Verantwortung aller Lernenden.
  • Konflikte werden von der Lerngemeinschaft selbst reguliert. Der Klassenrat hat hier eine vermittelnde Funktion.

Mit der „Charta der Modernen Schule", 1968 als „Charta von Pau" von der französischen Freinet-Bewegung entwickelt, stellen die Vertreter der Freinet-Pädagogik ihr eigenes Bildungs- und Erziehungsmanifest dar, mit Grundsätzen wie: „Erziehung ist Entfaltung und Bildung und nicht Ansammlung von Wissen, Dressur oder Manipulation", „Wir sind gegen jede Indoktrination", „Die Schule von morgen wird die Schule der Arbeit sein", „Im Mittelpunkt der Schule wird das Kind stehen" und „Die Pädagogik Freinets ist in ihrem Wesen nach international". Interkulturelles Lernen, mit den Prinzipien – Akzeptieren von Verschiedenheit, Konfliktfähigkeit, internationale Sensibilität und Solidarität, Aufbrechen der eurozentrierten Sichtweise – beruht auf dem Bewusstsein der Gleichwertigkeit der Kulturen. Es ist deshalb konsequent, wenn die Freinet-Pädagoginnen und Pädagogen, getreu dem spezifischen Ansatz der Freinet-Pädagogik – „den Kindern das Wort geben" – im Bereich des Interkulturellen Lernens der „interkulturellen Erziehung„ als Integrationselement einen besonderen Wert beimessen. In hier zusammengefassten Thesen „zur Veränderung von Schule und Unterricht aus interkultureller Perspektive" wird der Anspruch deutlich, Empathie als ein persönlichkeitsbildendes Lernziel in einer multikulturellen Schulatmosphäre zu etablieren:

  • Die Schulen in unserem Land müssen sich aus ihren monolingualen und monokulturellen, ethno- und eurozentrierten Prägungen lösen und sich zu interkulturellen, mehrsprachigen Bildungseinrichtungen entwickeln.
  • Die Entwicklung eines interkulturellen Curriculums und einer „Didaktik für Eine Welt" für schulisches und außerschulisches, lebenslanges Lernen ist dringend geboten.
  • Lehrerinnen und Lehrer anderskultureller Herkunft, sowie Schülerinnen und Schüler aus anderen Ländern, die unsere Schulen besuchen, sind „Kulturzeugen". Die Fähigkeit, sie in das Schulleben gleichberechtigt zu integrieren und sie zu Wort kommen zu lassen, kann als Maßstab für eine interkulturelle Schule gelten.
  • Die Pflege und Erhaltung der Herkunftssprachen der Einwandererkinder in unseren Schulen sollte als ein hoher kultureller Wert betrachtet werden. Zwei- und Mehrsprachigkeit, nicht nur in den traditionell dominanten Schulsprachen Englisch und Französisch, bereichern die Lern- und Persönlichkeitsentwicklung der Schülerinnen und Schüler.
  • Die vielfach praktizierte Einstellung gegenüber Schülerinnen und Schülern aus anderen Herkunftsländern, sie als „Problemkinder" wahrzunehmen und ihre (deutsch)sprachlichen Defizite in den Vordergrund zu stellen, führt zu Schulversagen und produzierten Ungerechtigkeiten bei den Bildungschancen. Es gilt in der Verschiedenheit und im kulturellen Anderssein eine Weiterentwicklung unserer eigenen kulturellen Identität zu erkennen.
  • Zu einem Schlüssel für die interkulturelle schulische Bildungsarbeit müssen sich vielfältige Formen der inneren Differenzierung und der Methodenvielfalt gestalten.
  • Bei den Formen und Maßstäben der Leistungsbewertung in der Schule gilt es, lerndiagnostische Verfahren zu praktizieren, bei denen der individuelle Lernfortschritt im Vordergrund steht.
  • Eine interkulturelle Schule muss eine internationale Erziehung praktizieren und in ihrem Schulprofil die Werte „Globale Verantwortungsethik", „Globale Empathie" und „Globale Solidarität" ausweisen.

Im Manifest von Aix haben die Vertreterinnen und Vertreter der Freinet-Pädagogik im April 1973 ihren Anspruch auf die Mitwirkung bei der Umgestaltung der Schule, hin zu einer „Ecole Moderne", präzisiert mit folgender Programmaussage: „Die Freinet-Pädagogik will nicht ein einfaches Aufbessern der pädagogischen Techniken, sondern eine tiefgreifende Umgestaltung der Erziehung, verbunden mit einer Infragestellung des kapitalistischen Systems selbst". Damit wird die bei vielen Reformpädagoginnen und -pädagogen geforderte „Pädagogik vom Kinde aus" eingebunden in eine Gesellschaftskritik, die wir heute mit dem Begriff der „Nachhaltigkeit" zu fassen versuchen: Gegenwartskritische und zukunftsorientierte, nachhaltige Entwicklung auf allen Gebieten des Lebens. Um an der Stelle das Bild von der „Treppe" wieder aufzunehmen: Die „Treppen", die bisher von den menschlichen Gesellschaften und Mächten konstruiert wurden – Treppen als Grenzen, Treppen als Maßstab für wirtschaftliche Entwicklung, Treppen als Höherwertigkeitsmaßstab, Treppen als Chancenungleichheit... – tragen für die Zukunft der Menschheit nicht mehr: „Die Zukunft der Menschheit ist von realen Gefahren bedroht. In zu vielen Weltgegenden wird die menschliche Würde heute durch Krieg und Ausgrenzung der Verletzlichsten und Bedürftigsten mit Füßen getreten. Ungleichheit und Armut nehmen zu. Die Mauern der städtischen Abkapselung werden höher. Die Ausbildung der Frauen gerät in Vergessenheit. Und zu den zwischenmenschlichen Aggressionen kommt die Gewalt gegen die Natur hinzu, wodurch neue Hypotheken für die Zukunft entstehen... Unser Zukunft darf nicht blinden und zynischen Kräften überlassen werden" . Célestin Freinet würde diese Analyse mit ganzer Konsequenz zum Anlass nehmen, eine „andere Wirklichkeit" mit zu schaffen, durch politisches und pädagogisches Engagement. Die Gruppe der deutschen Freinet-Pädagoginnen und Pädagogen, die sich in der „Pädagogik-Kooperative" zusammengeschlossen haben, betonen bei ihren Aktivitäten besonders das politische Selbstverständnis ihres Gründervaters hervor, „als einer sich durch die konkreten Bedingungen und durch die konkret mitarbeitenden Lehrer und Lehrerinnen fortentwickelnden (also lebenden) Pädagogik".

Paulo Freire ist ein Reformpädagoge. Der in Recife/Pernambuco, in Nordost-Brasilien 1921 geborene engagierte Volksbildner gilt als einer der bedeutendsten Pädagogen aus der sogenannten Dritten Welt. In den 50er Jahren schuf er an der Universität Recife mit Studierenden im Rahmen des „Projeto de educação de adultos" (Projekt für Erwachsenenbildung) zwei Einrichtungen, die seine weitere Arbeit bestimmen sollten; das „Kulturzentrum" für Studenten und den „Kulturkreis" für andere Erwachsene. Sie entwickelten Methoden und Materialien zur Erwachsenenalphabetisierung. Die Veröffentlichungen darüber führten dazu, dass Freire von der damaligen Regierung João Goulart den Auftrag erhielt, die Erwachsenenalphabetisierung für Brasilien zu planen und Kulturkreise im ganzen Land einzurichten. Die Arbeiten mussten durch die Machtübernahme der Militärregierung am 31.3.1964 abgebrochen werden; Freire wurde wegen seiner „subversiven Pädagogik" verhaftet und nach Chile ins Exil abgeschoben. Unter Eduardo Frei übernahm die chilenische Regierung das Programm der „Revolution in Freiheit"; Freire lehrte an verschiedenen Universitäten und wirkte als Berater des Agrar-Reforminstituts ICIRA, von 1968 an auch als Berater der UNESCO. 1969 hielt er sich als Gastprofessor am „Center for Studies in Education and Development" an der Harvard University in den USA auf, und ab 1970 arbeitete er in der Erziehungsabteilung des Ökumenischen Weltrats der Kirchen in Genf. Erst 1980 kehrte er mit seiner Familie nach Brasilien zurück, war Mitbegründer der stärksten brasilianischen Oppositionspartei, der Partei der Arbeiter (PT) und war von 1989 bis 1991 als Staatssekretär für Erziehung in Sao Paulo tätig. Leider viel zu früh, am 2.5.1997, starb er.

Sein Werk kennzeichnet die folgenden Schlüsselbegriffe, die zur Reflexion und Weiterentwicklung der pädagogischen und erzieherischen Situation hier und heute dienen können: „Das Wort zu sagen" – ist ein Grundrecht der Menschen. Nach der anthropologischen Grundeinstellung Paulo Freires geht es darum zu berücksichtigen, dass der Mensch „in und mit der Welt in Beziehung steht„. Dadurch muss Bildung als solidarische Erkenntnis und Aufklärung wirken. Diese Erkenntnissituation „lässt sich in fünf Ebenen menschlichen Lernens auffinden; auf der Ebene des gesellschaftlichen „Praxisfeldes"; der individuellen Ebene durch die Objekt – Subjekt-Ersetzung; der Gruppenebene durch die Erfahrung der praktischen Solidarität, der macrosozialen Ebene durch die Orientierung des Erziehungshandelns an den Bedürfnissen der Lernenden, schließlich auf der Ebene des „Wissenschaftsverständnisses„ zur Aufdeckung von Ideologien und Machtverhältnissen.

Auch Freire, wie Freinet, hatte ein „Mißtrauen gegenüber Elementarfibeln", also gegen die von anonymen Mächten vorgegebenen Begriffe und Lernziele. Lernen ist in diesem Sinne Befreiung von Abhängigkeit und Unterdrückung. Er entwickelte dazu das „generative Wort", ein „nach bestimmten Kriterien ausgewähltes Wort, dessen einzelne Silben dank ihrer Zusammensetzung die Bildung anderer Wörter erlauben". In „Briefe an eine junge Nation", die er anlässlich der Unabhängigkeit der Demokratischen Republik von Santo Tomé und Príncipe, zwei Inseln im Golf von Guinea, 1975 an Lehrerinnen und Lehrer („kulturelle Animatoren") des neuen Staates zur Alphabetisierung der Bevölkerung richtete, nennt er als Beispiel das Wort MATABALA, ein in Santo Tomé angebautes essbares Knollengemüse; „zerlegen wir es in seine Silben, dann erhalten wir:

 ma, me, mi, mo, mu ta, te, ti, to, tu ba, be, bi, bo, bu la, le, li, lo, lu 

Daraus bildet er nun neue konkrete Wörter, wie: mata (Busch), mate (Tee), meta (Ziel), mimo (Liebkosung), lata (Blechbüchse, tela (Stoff, tomo (ich nehme), cola (Schwanz), libelo (Schmähschrift), batuta (Taktstock, bebo (ich trinke), batata (Süßkartoffel, usw.

Die„generativen Wörter" werden nach der Alphabetisierungsmethode in fünf Phasen eingeführt:

  • Phase 1: In der Lerngruppe wird der gemeinsame Wortschatz untersucht. Dabei wird mit Begriffen umgegangen, die für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer existentielle und emotionale Bedeutung haben, aber auch mit typischen Redewendungen und Sprichwörtern.
  • Phase 2: Auflistung und Auswahl der generativen Wörter nach den Kriterien: Reichtum an Phonemen, phonetische Schwierigkeiten und Einbettung in die sozial-kulturell-politische Wirklichkeit der Gruppenmitglieder.
  • Phase 3: Durch „Kodierung„ werden typische existentielle Situationen dargestellt und diskutiert.
  • Phase 4: Gemeinsam werden Arbeitspläne und -schritte festgelegt.
  • Phase 5: Mit Hilfe von Symbolkarten, die zu phonemischen Themen zusammengefasst sind, beginnt das „Lesen der Wirklichkeit„ durch das „Worte machen", z.B.: „tijolo" (portugiesisch: Ziegelstein), als generatives Wort für „Bauarbeit". Die Silbenstückelung erfolgt in: ti – jo – lo (ta-te-ti-to-tu) (ja-je-ji-jo-ju) la-le-li-lo-lu). Die einzelnen phonetischen Gruppen werden gelernt. Durch die gemeinsame Darstellung der einzelnen Gruppen entwickeln sich die „Entdeckungskarten„ und die Bildung von Wörtern, wie: tatu (Gürteltier), luta (Kampf) loja (Lager), jato (Strahl), tela (Schutz), usw.

Für Freire bleibt der Dialog im Zentrum, „um die Welt zu benennen, um sie zu verändern" Auch hier steht seine anthropologische Überzeugung Pate, dass im Dialog grundgelegt ist „einen intensiven Glauben an den Menschen, einen Glauben an seine Macht, zu schaffen und neu zu schaffen, zu machen und neu zu machen, Glauben an seine Berufung, voller Mensch zu sein" . Dabei geht es nicht darum, Begriffe im Sinne einer „educação bancaria („Bankiers-Konzept") wie Geldbündel in einer Bank in die Köpfe der Menschen zu deponieren, sondern „in einem dialogischen Austauschprozeß zwischen Lehrer und Schüler als Codes des Lebensprozesses in seinen verschiedenen Aspekten und Dimensionen". Der Mensch in seiner Existenz bedarf des unaufhörlichen Dialogs „des Menschen mit dem Menschen„, dem Schöpfer, der Umwelt. Und er wird so zu einem historischen Wesen.

„Erziehung kann niemals neutral sein", behauptet Freire. Dabei ist er ein politischer Pädagoge, aber kein Ideologe. „Meine Sache, das ist die Sache der Armen auf dieser Erde", so schreibt er bei der Übernahme seines Amtes beim Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf. Mit seinem Bekenntnis, er habe sich nun für die Revolution entschieden, heizt für ihn, nicht zu agitieren, sondern „cultural action for freedom" entwickeln. Dies aber ist nur durch die Befreiung der Menschen von ihrer Unterdrückung und Abhängigkeit möglich: „Befreiung kann nur mit dem Volk gelingen, nicht für das Volk". Mit seinem Modell „educação problematizadora" will er Bewußtmachen (consientização): Lernen ist für ihn nicht das ‘Fressen’ fremden Wissens, sondern die Wahrnehmung der eigenen Lebenssituation als Problem und die Lösung dieses Problems in Reflexion und Aktion. Lehren ist entsprechend nicht Programmieren, sondern Problematisieren, nicht das Abkündigen von Antworten, sondern das Aufwerfen von Fragen, nicht Einnistung des Erziehers im Zögling, sondern Provokation des Zöglings zur Selbstbestimmung".

Solidarität ist für Paulo Freire „dialogische Aktion", die Unterdrückung aufhebt. In einer kritischen Auseinandersetzung mit Freires Begrifflichkeiten entwickelt Mergner Perspektiven zur Weiterentwicklung des Freireschen Pädagogikkonzepts, indem er vorschlägt, die Kollektivbegriffe bei Freire, wie „Volk", „Unterdrückte" durch den Begriff der „Lebenswelt" zu differenzieren. Er setzt sich dafür ein, den Freireschen Begriff „Menschenliebe" durch „Menschenrechte" zu ersetzen, weil das Recht dazu diene, Grenzen zu ziehen, durchzusetzen und sie anzuerkennen: „Das Recht soll die Person schützen. Das Kollektiv soll seiner Durchsetzung dienen". Gesellschaftliches Unrecht heute und in der Einen Welt lässt sich, so argumentiert Mergner, nur durch das gemeinsame Interesse am Überleben der Menschheit, überwinden. Dabei sei die Frage erneut zu stellen, bei welchen Gruppen, Kollektiven und Gemeinschaften eine „Pädagogik der Befreiung" heute ansetzen müsse. Und mit Hannah Arendt stellt Mergner fest, dass es beim Nachdenken über eine zeitgemäße, interkulturelle Pädagogik im Sinne von Paulo Freire einer „Moral des guten Lebens" bedürfe, denn: „Lernen ist ... nur dort möglich, wo sich das Nachdenken über das eigene Handeln mit der Erkenntnis der eigenen geschichtlichen/sozialen Existenz und dem Willen zu einer guten Zukunft verbindet".

Wenn Freinet und Freire in übereinstimmender Weise dafür eintreten, dass menschliche Entwicklung mehr ist als Konsumteilnahme, dass Freiheit wichtiger ist als Kontrolle, dann greift interessanterweise diesen Gedanken heute Aung San Suu Kyi, die militante Vorkämpferin der Menschenrechte und Friedensnobelpreisträgerin von 1991, auf. Wenn sie auf der Weltkonferenz für Kultur und Entwicklung in Manila/Philippinen, u.a. die folgenden Sätze aufgrund ihrer durch Hausarrest in ihrem Lande erzwungenen Abwesenheit vortragen ließ, dann könnten diese Worte auch von Freinet oder Freire gesprochen worden sein: „Sobald man ... in der Wirtschaft den Schlüssel zur Lösung aller Probleme sieht, wird der Wert des Menschen hauptsächlich – wenn nicht gar ausschließlich – anhand seiner Leistungskraft als Wirtschaftsinstrument gemessen. Dies ist jedoch unvereinbar mit unserer Vorstellung von einer Welt, in der wirtschaftliche, politische und soziale Einrichtungen dazu da sind, dem Menschen zu dienen und nicht umgekehrt. ... Die Wertesysteme der Mächtigen und derjenigen, die keinerlei Macht ausüben, müssen zwangsläufig verschieden sein. Die Sichtweise der Privilegierten kann nicht die der Unterprivilegierten sein. Wenn es um Macht und Privilegien geht, ist der Unterschied zwischen arm und reich nicht nur quantitativer Art; er hat auch gravierende psychologische und ideologische Folgen" . Diese aktuelle Sichtweise macht deutlich, dass die erfreulicherweise zahlreichen internationalen Diskussionen um die Frage der Durchsetzung der Menschenrechte und die um einen Perspektivwechsel – „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden" – ihren Anker finden in den Gedanken unserer beiden Pädagogen.

Ich hoffe, es ist deutlich geworden, welche gemeinsamen und unterschiedlichen Denkauffassungen in den Konzeptionen der beiden Reformpädagogen Célestin Freinet und Paulo Freire vorfindbar sind. Betrachtet man die Summe des engagierten Streitens um eine neue und bessere Schule und Bildung, dann stimmt sicherlich die optimistische Einschätzung: „Solange es lernfähige und lernwillige Menschen gibt, sind die negativen Globalanalysen der zunehmenden Verelendung der Welt unvollständig. Solange sozial engagierte Pädagogen selbst verschuldete, selbst verursachte Lernverhinderungen identifizieren können und müssen, ist philosophischer Pessimismus und politische Resignation ein Ausdruck von Bequemlichkeit und Denkfaulheit". Diese Prognose gilt für beide Pädagogen, die von ihrem Namen her ähnlich lauten, zu sich überlappenden Zeiten lebten und angetrieben wurden von der festen Überzeugung, dass die Schule verändert werden muss, und zwar von denjenigen, die in der Schule und für sie tätig sind, die Lehrerinnen und Lehrer sowie die in Schulaufsicht, Schulverwaltung und Wissenschaft Tätigen. Im Sinne einer praktischen Greifung könnte hier auch der Spruch motivierend und hilfreich sein, den ein Gesellschaftsreformer als „Poesie-Album-Spruch" formuliert hat: „Wo kämen wir hin, wenn alle sagten, wo kämen wir hin und niemand ginge, um einmal zu schauen, wohin man käme, wenn man ginge".

M 1: Adler steigen keine Treppen (nach C. Freinet)

Der Lehrer hatte seinen Unterricht sorgfältig vorbereitet; er hat, so sagt er, nach den wissenschaftlichen Methoden die Treppe gebaut, die zu den verschiedenen Etagen des Wissens führen. In einer didaktischen Reflexion hat er die Höhen der Stufen ermittelt, um sie der normalen Leistungsfähigkeit seiner Schülerinnen und Schüler anzupassen. Da und dort hatte er einen Treppenabsatz zum Atemholen eingebaut, und an einem bequemen Geländer konnten sie sich festhalten. Wie erstaunt und irritiert war er, der Lehrer! Nicht wegen der Treppe, die er didaktisch und methodisch gut gebaut hatte, sondern wegen seiner Schüler, die dies alles so gar nicht zu schätzen und zu nutzen schienen. Solange er nämlich dabei stand, um die methodische Nutzung der Treppe zu beobachten, wie sie Stufe um Stufe emporstiegen, sich auf den vorgesehenen Absätzen ausruhten und sich am Geländer festhielten, lief alles wie geplant. Aber kaum war er einen Augenblick nicht da, sofort herrschten Chaos und Geschrei! Denn nur die Schülerinnen und Schüler, die auch sonst im Unterricht all das taten, was er ihnen sagte, stiegen brav Stufe um Stufe hoch, hielten sich am Geländer fest, verschnauften an den Absätzen – wie Schäferhunde, die ihr Leben lang drauf dressiert wurden, passiv ihrem Herrn zu gehorchen, und die es aufgegeben hatten, ihrem Instinkt folgend, durch Dickichte zu brechen und schwierige Wege zu laufen.

Das „Chaos" sah so aus: Die Kinder folgten ihren Instinkten und Bedürfnissen: Eines bezwang die Treppe gekonnt auf allen Vieren; ein anderes nahm mit Schwung zwei Stufen auf einmal und ignorierte die Absätze; es gab sogar welche, die versuchten, rückwärts die Treppe hinaufzusteigen, und die es auch schafften. Die meisten aber fanden, das war das besonders Erstaunliche, dass die Treppe ihnen zu wenig Abenteuer und Anreize bot. Sie rasten um das Haus, kletterten die Regenrinne hoch, stiegen über die Balustraden und erreichten das Dach schneller als auf dem vorgesehenen Weg. Dann aber, als sie oben waren, rutschten sie das Treppengeländer herunter und wagten probierten erneut den Aufstieg auf eine noch abenteuerliche Weise. Der Lehrer schimpfte mit denen, die sich weigerten, die von ihm gezeigten Wege zu benutzen.

Hat er sich wohl einmal gefragt, ob nicht zufällig seine Wissenschaft von der Treppe eine falsche sein könnte, und ob es nicht schnellere und zuträglichere Wege gäbe, auf denen auch gehüpft und gesprungen werden könnte, ob es nicht auch eine Pädagogik für Adler geben könnte, die keine Treppe brauchen, um nach oben zu kommen?

M 2: Übermittlungskrankheit - oder: das Bankiers-Konzept

Der Lehrer redet von der Wirklichkeit, als wäre sie bewegungslos, statisch, abgezirkelt und voraussagbar. Oder aber er läßt sich über einen Gegenstand aus, der der existentiellen Erfahrung der Schüler völlig fremd ist. Seine Aufgabe besteht darin, sie mit den Inhalten seiner Übermittlung „zu füllen„ – mit Inhalten, die von der Wirklichkeit losgelöst sind, ohne Verbindung zu jenem größeren Ganzen, das sie ins Leben rief und ihnen Bedeutung verleihen könnte. Worte sind ihrer Konkretheit entleert und werden zu einem hohlen, fremden und entfremdeten Wortschwall. Das hervorstechende Charakteristikum dieser Übermittlungserziehung besteht daher im Schall der Worte, nicht aber in ihrer verwandelnden Kraft ... Übermittlung, bei der der Lehrer als Übermittler fungiert, führt die Schüler dazu, den mitgeteilten Inhalt mechanisch auswendig zu lernen. Noch schlimmer aber ist es, daß sie dadurch zu „Containern„ gemacht werden, zu „Behältern„, die vom Lehrer „gefüllt„ werden müssen. Je vollständiger er die Behälter füllt, ein desto besserer Lehrer ist er. Je williger die Behälter es zulassen, daß sie gefüllt werden, um so bessere Schüler sind sie... Der Lehrer lehrt, und die Schüler werden belehrt -–Der Lehrer weiß alles, und die Schüler wissen nichts – Der Lehrer denkt, und über die Schüler wird gedacht – Der Lehrer redet, und die Schüler hören brav zu – Der Lehrer züchtigt, und die Schüler werden gezüchtigt – Der Lehrer wählt aus und setzt seine Wahl durch, und die Schüler stimmen ihm zu.

M 3: Ein Vergleich

Célestin Freinet Paulo Freire
Gemeinschaft: Es wird ein geeigneter Rahmen geschaffen, in dem jedes einzelne Kind zu seinem Recht kommt, aber auch gesichert ist, dass dieses Kind nicht die Gruppe dominiert.Die Freinet-Klasse ist ein lebendes Rechtswesen. Der Klassenrat gibt der Klasse die Struktur, die sie jeweils braucht („kooperierende Klassengemeinschaft"). Gemeinschaft: Durch Dialog hört der Lehrer der Schüler und hören die Schüler des Lehrers auf zu existieren. Der Lehrer ist nicht länger der, der lehrt, sondern einer, der selbst im Dialog mit den Schülern belehrt wird. So werden sie miteinander für einen Prozeß verantwortlich, in dem alle wachsen („Das Streben nach voller Menschlichkeit durch Gemeinschaft und Solidarität").
Politik: Jedes pädagogische Detail hat eine politische Tragweite; es kann zur Anpassung und zur Entfremdung beitragen oder helfen, sich davon zu befreien. Es ist eine politische Entscheidung, bei Schülerinnen und Schülern den freien Ausdruck, Kommunikation, freie Forschung und Engagement in der Klassenverwaltung zu fördern. Politik: Der Gedanke der Freiheit ist die Grundlage für jede Erziehungspraxis. Erziehung kann niemals neutral sein. Entweder ist sie ein Instrument zur Befreiung des Menschen, oder sie ist ein Instrument seiner Domestizierung, seiner Abrichtung für die Unterdrückung. Neutralität in der Pädagogik geht nicht.
Umwelt: Eine „andere Wirklichkeit„ schaffen. Das Kind hat das Recht, auf seine Umwelt Einfluss zu nehmen (aus: Charta der fundamentalen Rechte und Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen). Umwelt: Die Erziehung soll die Menschen in die Lage versetzen, mutig die Probleme ihrer Umwelt zu diskutieren und in diesen Kontext einzugreifen. Sie soll die Menschen vor den Gefahren der Zeit warnen und ihnen Selbstvertrauen und Stärke geben, sich diesen Gefahren zu stellen, anstatt sich fremden Entscheidungen zu unterwerfen.
Einige ausgewählte Schlüsselbegriffe: „Schöpferische Arbeit„ als Grundlage der Erziehung. „Die Schule ist keine Oase, kein privilegierter Ort außerhalb aller sozialen Konflikte. Auch sie durchzieht der Gegensatz zwischen Unterdrückern und Unterdrückten".„Angesichts einer Gesellschaft, die das Kind nur als Konsument anerkennt, geht es darum, ihm mittels Schule zusätzliche Möglichkeiten anzubieten, sich selbst zu verwirklichen, eine Lebensweise zu fördern, die begründet ist auf einer Aufwertung des Ausdrucks, der kreativen Kraft, der Kommunikation, auf der Entfaltung jeder Persönlichkeit im Schoße der Gruppe". Einige ausgewählte Schlüsselbegriffe: „Die Herrschaft des Menschen über den Menschen ist die Zerstörung der Menschlichkeit des Menschen". „Das menschliche Leben kann nur durch Kommunikation seinen Sinn erhalten", „Befreiende Erziehungsarbeit besteht in Aktionen der Erkenntnis, nicht in der Übermittlung von Informationen", „Menschliche Existenz kann nicht im Schweigen verharren, auch kann sie nicht von falschen Worten genährt werden, sondern nur von wirklichen Worten, mit denen Menschen die Welt verwandeln", „Der Dialog ist eine existentielle Notwendigkeit".
Weiterentwicklung: „Zwar spielt der Bezug auf die Freinet-Pädagogik im Sinne seines Gründers ... von Anfang an eine zentrale Rolle, daneben finden aber immer wieder aktuelle pädagogische Strömungen ihren Eingang in die Diskussion und werden erprobt, kritisiert und je nach persönlicher Entscheidung in die Unterrichtsarbeit der einzelnen LehrerInnen integriert... Insofern ist es auch nicht möglich, die typische Unterrichtssituation des Pädagogik-Kooperative-Lehrers zu entwerfen. Vielmehr versuchen die in der Pädagogik-Kooperative zusammenarbeitenden LehrerInnen, je nach ihrer besonderen Schulsituation (Allround-Grundschullehrer, Oberstufen-Fachlehrer etc.) und ihrer Lehrerpersönlichkeit ihren Unterricht zu verändern und orientieren sich dabei an Prinzipien wie ‘freie Entfaltung der Persönlichkeit’, ‘kritische Auseinandersetzung mit der Umwelt’, ‘Selbstverantwortlichkeit’, ‘Kooperation und gegenseitige Verantwortlichkeit’. Sie übernehmen dazu verschiedene Elemente der Freinet-Pädagogik und andere reformpädagogische Ansätze..." (aus: Selbstdarstellung der Pädagogik-Kooperative e.V.) Weiterentwicklung: „... wird auch bei uns mit Erfolg nach seiner (Freires) Methode gearbeitet. Für die Bundesrepublik liegen erste Erfahrungen aus Obdachlosensiedlungen in Erlangen und München vor... Kinder finden ihre konkrete Lebenssituation in unserem Mittelschichten-orientierten Bildungssystem nicht berücksichtigt, die Schulbücher sind ungeeignet. Sie verwenden Allegorien, die von den Schülern aus ihrer Lebenserfahrung heraus nicht verstanden werden, ... der Leistungsdruck macht aggressiv, ängstlich und lustlos..." (1980). „Nach einer Zeit des Stillstands hat seit geraumer Zeit eine Welle neuer Reformen begonnen. Nicht mehr die einzelnen Reformansätze von Freinet... oder anderer herausragender Persönlichkeiten bilden die Grundlage von Veränderungen in der Schule, sondern ein buntes Kaleidoskop unterschiedlichster, zusammengesetzter Elemente... In seinen theoretischen Überlegungen hat dies Paulo Freire vorweggenommen. Seine „Pädagogik der Unterdrückten" ist ein Beispiel unterschiedlicher Ansätze aus den Bereichen Psychologie, Soziologie, Theologie, Wirtschaftslehre, Politik und Pädagogik". (Joachim Dabisch, in: Dialogische Erziehung 1/98)