Schule und Gewalt - Neue Lösungsansätze im Bereich der Konfliktbewältigung

von Manfred Peters, Namur (Belgien)

Der Anstieg der Gewalt in Schulen steht seit einigen Jahren im Mittelpunkt sozialwissenschaftlicher Forschung. Dies ist auch verständlich, wenn man bedenkt, dass die Jugendgewalt seit Mitte der 80er Jahre in den meisten europäischen Staaten um etwa das Doppelte oder mehr angestiegen ist.

Wieviel Gewalt wird in den Schulen gegenwärtig ausgeübt? Auf welche Formen der Gewalt stößt man? Welches sind die Ursachen der Gewalt? Wie kann man Gewalt überwinden bzw. verhüten? In diesem Beitrag werden wir uns mit diesen Fragen befassen, indem wir einen Blick auf die Lage in Deutschland und Belgien sowie auf einen möglichen Lösungsweg werfen.

Zahlen und Fakten

Die neuesten Untersuchungen schätzen drei bis vier Prozent der Schüler des Bundeslandes als gewalttätig ein. H. Willems, der auf eine Studie über Gewalt an 169 staatlichen Schulen in Hamburg zwischen August 1991 und April 1992 zurückgreift, bemerkt, dass mehr als 50 % der befragten Schulleiter angeben, Probleme mit Gewalt in ihren Schulen zu haben, und mehr als 15% sich in ihrer Arbeit durch gewalttätiges Verhalten von Schülern « erheblich belastet » sehen. Eine noch nicht veröffentlichte Studie von Klaus Hurrelmann, Universität Bielefeld, berichtet, dass rund 6% aller Schüler ab und zu oder regelmäßig an aggressiven Aktionen beteiligt sind und dass 16 % der Schüler unterschiedlich häufig Opfer dieser Gewalt werden.

Wie wird die in den Schulen ausgeübte bzw. erlebte Gewalt dargestellt? Die Medien berichten von Mordfällen: In Meißen erstach ein fünfzehnjähriger Schüler vor den Augen seiner Mitschüler seine Geschichtslehrerin; in Bayern erschoss ein Jugendlicher nach einem Schulverweis seinen Schulleiter. A. Reese betont jedoch, dass diese Beispiele nicht repräsentativ für Gewalt an deutschen Schulen seien . Vielmehr stoße man häufig auf andere Formen von Gewalt:

«Die häufigste Form aggressiven Verhaltens unter Schülerinnen und Schülern ist das Beschimpfen und die Benennung mit gemeinen Ausdrücken. Etwa 70% der Sechst- bis Zehntklässler haben dies mehrmals im Monat oder öfter beobachtet. Die Hälfte hat Spaßkämpfe zwischen Jungen erlebt. Jede/r Vierte hat eine ernsthafte Prügelei unter Jungen, jede/r Zehnte eine sexuelle Belästigung von Jungen an Mädchen beobachtet. Ungefähr 5% haben häufiger gesehen, wie jemand Geld fordert und mit Strafe droht, wenn nicht gezahlt wird. Um die 3% sind Zeuge eines Angriffs mit einer Waffe gewesen».

Nach der bereits erwähnten Hamburger Studie (August 1991 - April 1992) meldeten 75 Lehranstalten Vorfälle wie Nötigung, Bedrohung und Erpressung »; 67 berichteten von Körperverletzungen und 47 von Aneignung von Sachen unter Gewaltandrohung bzw. -anwendung.

Bei der Untersuchung der Gewaltformen stellt sich die Frage nach den Ursachen. Weshalb werden Schüler gewalttätig? Man kann hier zwischen außer- und innerschulischen Ursachen unterscheiden.

Reese weist auf Studien hin, die zeigen, dass « Gewalttätigkeit für die Ausbildung der Geschlechtsidentität (Männlichkeit), den Umgang zwischen den Geschlechtern und die Statusabsicherung innerhalb der Gleichaltrigengruppe eine wichtige Rolle spielen kann » . H. Willems ist der Meinung, dass die Gewalttätigkeit Jugendlicher auch auf gesellschaftliche Probleme zurückgeführt werden könne, die in die Schulen hineingetragen würden,: auf Straßen- und Bandenkriminalität einerseits und auf fremdenfeindlich motivierte Gewalttätigkeiten andererseits.

In seiner Analyse von Biographien gewalttätiger Jugendlicher berücksichtigt A. Böttger die als ernsthaft eingeschätzten Formen der Gewalt in Schulen. Dabei unterscheidet er nicht kognitiv kontrollierte Gewalthandlungen, wie z.B. die unmittelbare affektive Reaktion auf eine Provokation, von bewusst ausgeübten Gewalthandlungen, die die Mitschüler oder die Lehrer auf eine als ungerecht erlebte Situation aufmerksam machen sollen. Schließlich erwähnt er Gewalthandlungen, die auf die soziale Desintegration des Jugendlichen zurückzuführen sind. Schüler, die zu dieser Gewaltform greifen, sähen in der Teilnahme am Unterricht subjektiv keine Chance mehr für ihr weiteres Leben. Sie geraten dann durch einen Mangel an Beachtung und Anerkennung in Isolation und versuchen, mit Gewalt aus ihrer Außenseiterrolle auszubrechen. In dieser Hinsicht versteht A. Reese Gewalt als «Symptom für fehlende soziale Kompetenz ». Jugendliche Gewalttäter haben mit «aggressive[n] Modelle[n]» gelebt und gelernt, mit aggressivem Verhalten auf Probleme zu reagieren: «Gewalttätige Jugendliche haben Alternativen zu Aggression und Gewalt nicht gelernt, das heißt, sie haben nicht ausreichend an anderen beobachten und von ihnen lernen können, wie man konstruktiv streitet und Probleme löst».

E. Kube berichtet von einer Hamburger Umfrage bei Schulleitern (1992), die neben der schwierigen sozialen Lage mancher Schüler «Sozialisationsdefizite» als eine der Motivhypothesen zur Gewalt anführen. Darunter verstehen sie u.a. Intoleranz, Gleichgültigkeit, mangelndes Einfühlungsvermögen und fehlendes Schuldbewußtsein. E. Kube unterstreicht dabei die Rolle der Eltern, die häufig nicht bereit oder fähig sind, mit Kindern gewaltfreie Konfliktlösungsstrategien zu entwickeln und zu erproben. Er fügt hinzu, Eltern würden «die Erziehungsarbeit der Schule zuschieben,ihre Rolle zunehmend nicht mehr im Erziehungsprozess sehen».

Es soll aber nicht übersehen werden, dass Gewalt in der Schule nicht nur mit außerschulischen Ursachen zusammenhängt. Auch die Schule selbst ist für die Entstehung der Gewalt verantworlich. E. Kube betont zu Recht, dass die Schule ihren Erziehungsauftrag vernachlässigt; die Lehrer sehen sich nämlich oft nur als Vermittler von Wissen .Daneben sind andere Faktoren zu berücksichtigen, wie «die von den Schülern erlebte Größe der Schule bzw. des Ausmaßes der Unpersönlichkeit der Schule, das schulische Belohnungs- und Bestrafungssystem, die Unterrichtsgestaltung, [...sowie die] Über- oder Unterforderung der Schüler». Für H. Willems kann die Schule eine Art Teufelskreis nach sich ziehen, der für manche Schüler schwer zu durchbrechen ist:« Die Schule selbst als gesellschaftliche Institution, die Sieger und Verlierer, Auf- und Absteiger produziert, beeinträchtigt in starkem Maße das aktuelle Selbstwertgefühl und Geltungsbedürfnis der Erfolglosen und ihre zukünftigen beruflichen und sozialen Chancen». J. Mansel dagegen schränkt die Verantwortlichkeit der Schule ein. Bei der Untersuchung des Zusammenhangs zwischen bestimmten schulischen Variablen (Versagenserlebnisse, Desinteresse an den schulischen Lerninhalten, Schulunlust, Konkurrenz unter Schülern) und Gewalthandlungen kommt er zu folgendem Schluss:

«[...] die Variablen der Schulsituation [stehen] in keinem direkten Zusammenhang mit den Gewalthandlungen. Schulische Versagenserlebnisse und das Desinteresse an schulischen Lerninhalten tragen nur über die Häufigkeit des Erlebens von aggressiven Gefühlen und über die Gewaltbereitschaft dazu bei, dass Jugendliche in spezifischen Situationen Gewalt anwenden».

Je nachdem, ob die Ursachen als außer- bzw. innerschulisch gelten, werden in der Bundesrepublik unterschiedliche vorbeugende Maßnahmen vorgeschlagen. Im allgemeinen plädieren die Fachleute für eine Kultur der Partnerschaft und eine Kultur des Dialogs mit Jugendlichen, in der deren Sicht der Dinge zur Sprache kommen kann. Den Jugendlichen sollte man zuhören und ihnen sozial kompetente Verhaltensweisen beibringen: Jugendliche müssen lernen, wie man Probleme gewaltfrei lösen kann. Dabei sind nach A. Reese mehrere Ansatzpunkte zu berücksichtigen, wie etwa die Familie («Förderung eines [...] konsistenten Erziehungsverhaltens der Eltern»), die Kindergärten und Schulen («Lebenskompetenztraining»), das Training mit aggressiven Kindern, die Konfliktlösung durch Mediation in der Schule, usw.

Die Gewaltprävention setzt aber auch andere innerschulische Maßnahmen voraus. E. Kube berichtet, dass die Unabhängige Gewaltkommission der Bundesregierung zur Verringerung der Schulfrustration angeregt habe, schulschwache Schüler mehr als bisher zu fördern sowie im Rahmen der Schulpflicht berufspraktische Programme einzurichten, um das Selbstwertgefühl schulunwilliger Schüler zu erhöhen. Darüber hinaus sollten nach Meinung der Kommission Mammutschulen durch kleine Schuleinheiten und kleinere Schulklassen ersetzt werden. Das Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg hat bei der Eindämmung der Gewalt in Schulen unterschiedliche Maßnahmen vorgeschlagen, beispielsweise die Förderung außerunterrichtlicher Aktivitäten zur Veränderung des sozialen Klimas an Schulen, Fortbildungsangebote für Lehrerinnen und Lehrer zum Thema Gewalt oder auch die Institutionalisierung und Intensivierung der pädagogisch-psychologischen Beratung an Schulen. Schließlich hebt J. Mansel die Notwendigkeit der demokratischen Mitbestimmung von Schülerinnen und Schülern am schulischen Alltagsgeschehen und an den Unterrichtsinhalten hervor.

Gewalt an belgischen Schulen

Leider gibt es nur wenige globale statistische Untersuchungen über die Gewalt an belgischen Schulen. Eine von vier Universitätsteams unternommene Studie von 1992 ergab, dass sich mehr als 9 % der Schulen schon wegen wiederholter Kriminalität an die Ordnungsbehörden gewandt hatten und dass die Hälfte der Lehranstalten während des Schuljahres wenigstens einen Schüler von der Schule verwiesen hatten. Im Laufe des Jahres 1997 hatten in Brüssel die Schulen der französischsprachigen Gemeinschaft etwa hundert Schüler ausgeschlossen. In seiner Dissertation (1994) berichtet der Kriminologe Jacques Ganty (Universität Lüttich), dass 93 % der Schulleiter Vandalismus und 89 % Graffiti beklagt hätten. Etwa 25 % wären auf Alkoholprobleme und 35 % auf Drogenprobleme gestoben.

Die Gewalt betrifft vor allem Schulen, die in Städten mit hoher Kriminalität liegen (Brüssel, Lüttich, Charleroi), wobei diese Kriminalität sich in die Schulen verlagert. Manche gewalttätige Schüler stammen beispielsweise aus Heimen oder haben einen Vater mit krimminellem Hintergrund. So hat eine Berufsschule in Brüssel den Versuch unternommen, sich in einem «schwierigen» Viertel zu etablieren und solche benachteiligte Jugendliche von etwa dreißig verschiedenen Nationalitäten aufzunehmen, deren Eltern meistens arbeitslos sind. Einer der Lehrer bemerkte, dass die Schule der einzige Ort sei, wo diese Jugendlichen erführen, dass ihr aggressives Verhalten nich normal ist. Sie lebten in einer Gesellschaft, in der sie keine beruflichen oder sozialen Chancen hätten. Deshalb suchten sie in der Gewalt oder in den Drogen Zuflucht. Um mit der Gewalt fertig zu werden, haben verschiedene Schulen Wächter angestellt. Andere versuchen, pädagogische Maßnahmen einzuführen.

Nach Eric Debarbieux, Professor für Soziologie an der Universität Bordeaux-II, ist die Gewalt ungleichmäßig auf die Lehranstalten verteilt; es gebe mehr Gewalt in Schulen, die in defavorisierten Vierteln liegen (écoles populaires). Gewalt sei eigentlich das Zeichen für eine unvollkommene Demokratisierung der Schule: Obwohl es sich die Schule des 20. Jahrhunderts zum Ziel gesetzt habe, alle sozialen Schichten zu integrieren, sei das schulische Versagen mit dem sozialen Ursprung immer noch eng verbunden. E. Debarbieux ist der Meinung, dass die schulische Gewalt den Sinn der Schule,ihren Demokratisierungsauftrag in Frage stelle. Diesbezüglich habe die Schule die Kontrolle verloren.

Manche Forscher machen gar die Ideologie der 70er Jahre, die mehr Demokratie und Gleichheit erstrebte, für die heutige Lage verantwortlich. Nach dem Philosophen R. Legros und dem Psychologen P. Traube hätte diese Ideologie durch die Aufhebung der symbolischen Grenzen zwischen Schule und Straße, Schüler und Lehrer unerwünschte Nebenwirkungen nach sich gezogen. Pädogogen wie Célestin Freinet und Paulo Freire sehen diese Entwicklung natürlich ganz anders: sie fordern zu Recht die Aufhebung der Herrschaftsverhältnisse sowie die Anerkennung der «Schule des Lebens» und die Integration der Lebenswirklichkeit in den Schulalltag. Die symbolischen Grenzen sollen durch dialogisch vereinbarte, immer wieder kritisch hinterfragte Beziehungen ersetzt werden.

Gewalt an Schulen bleibt in den meisten Fällen ein tabuisierter Bereich. Wenige Lehrer wagen darüber zu sprechen, aus Angst davor, entlassen zu werden oder dem Ruf der Schule zu schaden. Manche Schulleiter versuchen, die Wahrheit zu verschweigen und bieten den Lehrern, die Opfer von Gewalt werden, keine Unterstützung an. Die Stimmung wird dadurch natürlich noch schlimmer.

Vor einigen Jahren hat die belgische Unterrichtsministerin Laurette Onkelinx ein Projekt gegen die Gewalt an Schulen entworfen. Im Rahmen dieses Projektes bekommen die benachteiligten Schulen zusätzliche Mittel (Geld und Personal), die ihnen bei der Bewältigung der Gewalt helfen sollen. Trotz dieser Initiative stellt P. Bouillon fest, dass die seit zehn Jahren herrschende Sparpolitik die Lage nicht gerade verbessert habe. Die Schulen verfügten über zu geringe Mittel, um systematisch an der Überwindung der Gewalt zu arbeiten. Ihnen fehle Geld, um die Gebäude zu renovieren, um modernes Unterrichtsmaterial zu kaufen, um auf Präventions- und Bekämpfungsmittel zurückzugreifen.

Maßnahmen

Aber auch wenn die Schulen nicht immer über die notwendigen finanziellen Mittel verfügen oder auf Schwierigkeiten stoßen, werden interessante Initiativen ergriffen. In der Gegend von Namur, der Hauptstadt der Wallonie, wendet eine Grundschule die Ideen des französischen Pädagogen Célestin Freinet an. Jeden Freitag versammeln sich die gewählten Vertreter der Schüler zusammen mit den Lehrern und Lehrerinnen und beteiligen sich an der Verwaltung der Schule. Sie besprechen z.B. die Regeln, die im Schulhof gelten. So lernen sie, wie man demokratisch Probleme lösen kann.

Die Schulleiterin des staatlichen Gynmnasiums «Marcel Tricot» (Laeken/Brüssel), eine Schule mit hoher Gewaltrate, unterstreicht die Bedeutung des Dialogs zwischen Lehrern und Schülern, der u.a. die Aufstellung eines pädagogischen Vertrags erfordert: Regeln und Gesetze müssen zusammen mit den Schülern ausgehandelt werden. Den Schülern müsse man die Strafmaßnahmen und deren Sinn erklären, damit sie die Folgen ihrer Taten besser einschätzen könnten. Auch sei es wichtig, die Beziehungen zwischen Schule und Gesellschaft zu verstärken. So haben die Schüler die Anwohner und Geschäftsleute der Straße getroffen, in der sich die Schule befindet. Schließlich weist die Schulleiterin mit Nachdruck darauf hin, dass man die Eltern in das pädagogische Projekt einbeziehen sollte.

In Waremme hat eine Grundschullehrerin die PRODAS-Methode (Programme de Développement Affectif et Social), die von amerikanischen Psychologen entwickelt wurde, in die Praxis umgesetzt. Einmal in der Woche versammeln sich die Schüler in kleinen Gruppen und sprechen über sich selbst, wobei sie lernen, den anderen zuzuhören, sie zu respektieren und zu akzeptieren; sie entdecken ihre eigenen Schwächen und Stärken. Die Lehrerin ist davon überzeugt, dass man dadurch die Kohärenz innerhalb der Gruppe verstärken und Konflikten vorbeugen könne. Daraus könne man lernen, dass man nicht den Menschen selbst, sondern nur sein Verhalten oder seine Fähigkeiten beurteilen darf.

Angesichts der Hilflosigkeit der Lehrer und Lehrerinnen in Bezug auf Gewalt versuchen Hochschulen und Universitäten, die für die Bildung von Lehrern verantwortlichen sind, innerhalb des Programms Seminare über Gewalt zu veranstalten, damit die zukünftigen Pädagogen das aggressive Verhalten der Schüler bewältigen oder unterbinden können: Rollenspiele, Treffen mit erfahrenen Kollegen, Einführung in die interkulturellen Beziehungen, Aufarbeitung dessen, was die Jugendlichen in der Schule erleben oder auch Analysen von erlebten Gewalttaten . Für Lehrer und Lehrerinnen im aktiven Dienst sind Fortbildungsangebote zum Thema Gewalt vorgesehen. Sie vermitteln ihnen Arbeits- und Analyseverfahren zur Bewältigung der Gewalt.

Vor kurzem hat sich Belgien an einem europäischen Projekt beteiligt, das im Januar 2000 vom « Observatoire européen de la violence scolaire » entworfen wurde. Das Projekt, das vom Soziologen Eric Debarbieux geführt wird, setzt sich zum Ziel, die Zusammenarbeit mit erfahrenen Partnern und auf politischer Ebene zu entwickeln, den Staaten bei der Erstellung genauer Statistiken über die Gewalt an Schulen zu helfen, in den europäischen Staaten sowohl die Gewaltrate, als auch die angewandten Bekämpfungsmittel zu vergleichen, und damit die Schwächen und Stärken der Staaten hervorzuheben und übertragbare Lösungen zu finden. So stellt sich heraus, dass Frankreich eine interessante Partnerschaft zwischen Schule, Polizei und Justiz pflegt, während Großbritannien eher die Zusammenarbeit mit den Eltern bevorzugt. Die Untersuchungen zeigen auch, dass die gefährdeten Schulen diejenigen sind, die ihre internen Konflikte nicht lösen können, wie z.B. die mangelhafte Kohärenz zwischen den Lehrern in Bezug auf die Strafmaßnahmen, was bei den Schülern Groll und demzufolge Gewalt gegen die Lehrer und die Schule hervorruft. Schließlich definiert E. Debarbieux die Gewalt in Schulen als eine kontinuierliche Verschlechterung des Klimas, eine Anhäufung von kleinen Gewalttaten, die das Leben in der Schule und in der Klasse unerträglich machen.

Ein Pilotprojekt der Friedensuniversität

Jugendliche Gewalttäter erweisen sich oft als Menschen, die unfähig sind, ihre Probleme sprachlich auszudrücken. Deshalb ist es wichtig, neue interaktive Konfliktlösungsstrategien zu entwickeln, die auf dem Dialog, dem gegenseitigen Verstehen beruhen. In dieser Hinsicht ist die Mediation unter Gleichaltrigen eine wirksame Methode.

In Belgien hat die 1960 von Friedensnobelpreisträger Dominique Pire gegründete Friedensuniversität sich intensiv mit dieser Methode beschäftigt. Dieses internationale Institut hat gerade in diesem Jahr zwei Videokassetten zur Illustration der Mediation unter Gleichaltrigen sowie ein Handbuch für Lehrer, Betreuer oder Ausbilder, die sich für gewaltfreie Konfliktbewältigung interessieren, veröffentlicht. Mit diesen hilfreichen Arbeitsinstrumenten kann der Benutzer die Antworten auf folgende Fragen finden: Was genau ist die Mediation unter Gleichaltrigen («Médiation par les pairs», im Deutschen auch Peer-Mediation genannt) ? Wie funktioniert sie in der Praxis? Wie kann man sie den Jugendlichen bzw. Kindern beibringen?

Dieser Ansatz geht davon aus, dass sowohl Kinder als auch Jugendliche dazu fähig sind, sich die notwendigen Kompetenzen zur gewaltfreien Überwindung von Konflikten anzueignen. Sie erkennt also die Selbstständigkeit und Verantwortlichkeit des Individuums in Bezug auf die Konfliktbewältigung an. Die Mediation an sich erzielt die Überwindung von Konflikten durch die Wiederherstellung der Kommunikation zwischen Täter und Opfer. Dabei soll der Mediator nichts aufzwingen, sondern nur den Dialog fördern und neutral gemeinsam mit Täter und Opfer eine Lösung des Konfliktes suchen und umsetzen. Bei dieser Methode wird der Konflikt zwischen Jugendlichen bzw. Kindern also durch Gleichaltrige geschlichtet.

Bevor sie in der Mediation ausgebildet werden, müssen die Jugendlichen bzw. Kinder für den Konflikt (seine Definition und Strategien) sensibilisiert werden und Techniken zur positiven Konfliktbewältigung erlernen. Hier gilt es, mit Gruppenspielen Kompetenzen für menschliche Beziehungen durch die Entwicklung des Selbstvertrauens, der Kooperation und des Zuhörens zu bilden, um gewaltfrei auf Konflikte reagieren zu können. Dabei erlernen die Jugendlichen die verschiedenen Phasen der gewaltfreien Kommunikation:

  1. Objektive Beschreibung der Tatsachen: Hier geht es darum, eine Konfliktsituation ohne vorgefasste Meinung oder Beurteilung zu beschreiben.
  2. Ausdruck der Gefühle: Man muß lernen, die beim Konflikt empfundenen Gefühle zu identifizieren und benennen.
  3. Ausdruck der Bedürfnisse und der Bitte: Es gilt, die Bedürfnisse, die den Konflikt verursacht haben, zu identifizieren, und zu bestimmen, ob diese Bedürfnisse momentan befriedigt sind oder nicht. Aufgrund dieser Bedürfnisse kann eine Bitte an den anderen gerichtet werden, d. h., eine potenzielle Lösung wird anvisiert.

Erst wenn sich die Jugendlichen den Kommunikationsprozess angeeignet haben, haben sie Zugang zur Methode der Mediation. Das Ziel der Mediation besteht darin, das gegenseitige Verstehen zu fördern, um die tiefen Bedürfnisse und Gefühle jeder Partei an den Tag zu bringen und gemeinsame Probleme zu identifizieren, damit Täter und Opfer gemeinsam eine Lösung finden. Dieser Prozess beruht auf den oben genannten Etappen der gewaltfreien Kommunikation und verläuft praktisch wie folgt:

  1. Der Empfang: Zuerst müssen Mediatoren, Täter und Opfer Zutrauen zueinander fassen. Beide Parteien müssen sich verlassen können auf die Fähigkeit der Streitschlichter, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, und die Mediatoren brauchen das Vertrauen und die Kooperation der Kontrahenten. Schließlich sind bestimmte Verhaltensregeln zu beachten, wie z.B.:
    • Ich will eine Lösung finden;
    • Ich spreche über mich und sage die Wahrheit;
    • Ich höre dem anderen zu und unterbreche ihn nicht;
    • Ich bewahre das Geheimnis (was hier gesagt wird, bleibt unter uns);
    • Ich beschimpfe den anderen nicht und verletze ihn weder physisch noch psychisch.
  2. Die Tatsachen: Die Streitschlichter bitten die zwei Parteien, nacheinander ihre Version des Konfliktes darzustellen. Dabei formulieren die Mediatoren ihrerseits die beiden Geschichten, um sich des gegenseitigen Verstehens beider Parteien zu vergewissern.
  3. Die Gefühle: Die Mediatoren müssen sich um die Gefühle der Parteien kümmern: Sie fragen jede Partei, wie sie sich bei dem Streit gefühlt hat. Jede Partei braucht Zuhören, Verständnis und Anerkennung in Bezug auf ihre Gefühle. Dies verstärkt das Zutrauen zum Mediationsprozess. Die Mediatoren motivieren die Parteien, einander zuzuhören, indem sie das Gesagte erneut selbst formulieren und das Erlebte jeder Partei vergleichen. Diese Etappe soll Beziehungen zwischen den Parteien bilden und Hinweise auf die im Konflikt ausgedrückten Bedürfnisse liefern.
  4. Die Bedürfnisse, die Bitte: Es geht hier darum, die Ursachen des Konflikts herauszufinden, indem jeder versucht, sich der Bedürfnisse bewußt zu werden,die er im Konflikt befriedigen wollte. Dadurch verstehen die Parteien, dass sich der Konflikt nur als ein Mittel zur Befriedigung bestimmter Bedürfnisse erweist, dass es aber auch friedliche Lösungen gibt.
  5. Lösungen finden, die den Bedürfnissen jeder Partei entsprechen: Die Mediatoren fassen die aufgedeckten Bedürfnisse zusammen und stellen den Parteien folgende Frage: « Was könnte jeder von euch tun, um das Problem zu lösen, um eure Bedürfnisse am besten zu befriedigen? ». Sie nehmen die Bitten der Parteien auf und helfen ihnen zu prüfen, inwiefern die Vorschläge ihren Bedürfnissen Rechnung tragen. Dadurch werden die Lösungen von niemandem aufgedrängt, sondern von Täter, Opfer und Mediator gemeinsam entwickelt, ausgehandelt und akzeptiert.
  6. Die Umsetzung der Lösung und das Einverständnis: Es handelt sich darum, die praktische Umsetzung der gewählten Lösungen auszuarbeiten. Auf folgende Fragen müssen die Parteien antworten: « Wer macht was, wo und wie? », « Was werdet ihr machen, wenn diese oder jene Schwierigkeit auftritt? ». Die Parteien müssen sich dazu verpflichten, ihr Versprechen zu halten.
  7. Das Abkommen : Es kann verbal getroffen oder schriftlich von den Parteien und den Mediatoren in einem Vertrag unterzeichnet werden. In jedem Fall müssen die Mediatoren das Einverständnis und die Verpflichtung jeder Partei zum Inhalt des Vertrags überprüfen. Schließlich werden die Parteien darum gebeten, ein Wort zu sprechen oder eine Geste zu machen, die das Abkommen symbolisieren.

Dieses Mediationsmodell zeichnet sich durch vielfältige Vorteile aus. Aus einer praktischen bzw. technischen Perspektive heraus betrachtet kann dieser Prozess in ein gewöhnliches Schulprogramm eingefügt werden, ohne den Unterrichtsalltag zu stören. Die Umsetzung der Methode erfordert darüber hinaus wenig teures oder neues Material.

Die Mediation unter Gleichaltrigen erweist sich darüber hinaus als eine menschlich reiche Methode. Sie verstärkt Solidaritätsgefühle, versöhnt feindselige Parteien, verbessert das Selbstvertrauen und trainiert das Sensibilisieren für das gegenseitige Zuhören. Sie entwickelt Vertrauensbeziehungen und Kooperation, verstärkt die Kohärenz innerhalb einer Gruppe, wo der Dialog den Vorrang bekommt. Auch eine neue Auffassung der Gerechtigkeit wird den Jugendlichen dadurch vermittelt: Sie lernen, dass eine Lösung nie aufgezwungen werden kann, sondern gemeinsam gefunden bzw. ausgehandelt werden muss.

Schließlich hat die Mediation, die auf viele Situationen übertragbar ist, den großen Vorteil, dass sie die Selbstständigkeit der Jugendlichen bzw. Kinder in Bezug auf die Konfliktbewältigung entwickelt: Jugendliche bzw. Kinder, die gewaltfreies Kommunizieren gelernt haben, werden verantwortliche Bürger, die sich am Aufbau einer besseren, friedlicheren Gesellschaft beteiligen können.

Diese Vorteile hat das staatliche Gymnasium von Verviers (nicht weit von der deutsch-belgischen Grenze) richtig eingeschätzt . Seit drei Jahren hat sich diese Schule der Methode der Mediation zugewandt. Mädchen und Jungen der 3. und 4. Klasse (also Vierzehn- und Fünfzehnjährige) haben eine Ausbildung in gewaltfreier Konfliktbewältigung erhalten und haben diese Methode in ihrer Schule erfolgreich angewandt. So findet sich die Mediation im Schulprojekt, d. h. sie ist eine der pädagogischen Prioritäten für die kommenden drei Jahre. Ab September 2000 wird die Mediation sogar in den offiziellen Rundschreiben des Unterrichtsministeriums der Französichsprachigen Gemeinschaft Belgiens empfohlen. Möge diese Initiative als Vorbild für andere europäische Regionen wirken!

Literatur

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Ein herzliches Dankeschön an die Kolleginnen Annette Hieber (Augsburg) und Nathalie Seron (Lüttich) für ihre wertvolle Mitarbeit.

Zum Verfasser

Prof. Dr. Manfred Peters ist Dekan der Philosophischen Fakultät (Universität Notre-Dame de la Paix, Namur), Gastprofessor an der Universität Paderborn und Präsident der von Friedensnobelpreisträger Dominique Pire gegründeten Friedensuniversität. Seit mehreren Jahren ist er auch in Zentralafrika tätig, wo er u.a. ein EU-Entwicklungsprojekt geleitet hat (Alphabétisation et conscientisation au Kivu, 1994-2000), in dem die gewaltfreie Konfliktbewältigung ebenfalls eine grobe Rolle spielte. Eines der afrikanischen Nachfolgeprojekte ist ganz auf diese Thematik ausgerichtet.