Befreiende Pädagogik – ein multiparadigmatischer Ansatz

von Heinz-Peter Gerhardt

Begriffe wie Alphabetisierung, Bankierserziehung, Bewusstseinsbildung, Dialog, generative Themen, Kodierung und Dekodierung, Lehrer-Schüler, Schule der Welt, Schüler – Lehrer, sprachliches und thematisches Universum, Unterdrückte – Unterdrücker sind eng mit der Theorie und Praxis Paulo Freires verbunden. Zu seinen Lebzeiten hat Freire zurückhaltend auf die Inflation von Zuschreibungen und Re- und Neuin­terpretationen bezüglich seiner Arbeit reagiert, sehr selten korrigierend eingegriffen (z. B. Bewusstseinsbildung). Er wollte von anderen immer wieder neu entdeckt werden. Ihm ging es nicht um den Aufbau einer Schülerschaft.

Freire war bei der Konstruktion seiner theoretischen Ansätze semantisch und strukturell sehr kreativ. Torres diskutierte mit ihm schon früh seine „seltsamen Verknüpfungen“ (C.A. Torres 1979, S. 6). Freire versuchte sich immer wieder an neuen Begriffen und Begriffsverbindungen, um die Welt zu benennen. Seinen Kritikern und Adepten machte es Freire damit schwer, ihn auf eine Position festzuschreiben.

R.M. Torres (2001, S. 231) spricht von den „vielen Freires“. Seine Leser bezaubert er mit neuen Wortschöpfungen. Er überfordert sie mit unkonventionellen Verknüpfungen und Wiederholungen. Freire ging es in seinen Formulierungen um äußerste Gegenstandsangemessenheit unter Berück­sichtigung der bisherigen individuellen und gesellschaftlichen Konstruktionen zu eben diesen Gegenständen in den jeweiligen sozialen Situationen. Er war davon überzeugt, dass bei der Theoriebildung über soziale Wirklichkeit, die zu entdeckenden Sachverhalte bzw. Situationspotentiale und die Personen, die etwas entdecken wollen, ineinander verwoben sind. Freire spricht von der „Inkarnation der Subjektivität in der Objektivität“ (Freire 1972, S. 61).

Beide beeinflussen und verändern sich im Akte der Erkenntnis, sei dies nun den Individuen be­wusst oder nicht. Erkenntnisobjekt und erkennendes Subjekt sind teilweise identisch; am deutlichsten bei der Selbstbeobachtung. Dies hat die auch von anderen (z.B. Schülein 2002, S. 249) beschriebene Folge, dass die Mittel der Erkenntnis (z.B. geistige Operationen auf den jeweiligen Bewusstseinsstufen, generative Themen und deren Darstellungsarten) zum einen aus den Möglichkeiten des zur Untersuchung anstehenden Gegenstandes entwickelt werden. Zum anderen sind die Untersuchungsergebnisse Teil des Gegenstandes, bzw. sie werden es im Laufe des Bildungsprozesses. Freire reklamierte für sein Werk keine Originalität. Er war bekennender Eklektiker. Er wählte aus verschiedenen Denksystemen das ihm jeweils Passend -Erscheinende. Nach der situativen Angemessenheit entschied er Theorie- und Begriffswahl, die Übernahme von Vorgedachtem oder die Entwicklung von Neuem. In diesem Sinne möchte ich von Freires Paradigmen im Plural sprechen, seinen Geschichten mit beispielhaftem Charakter. Ein neues Beispiel, ein ähnliches soziales Verhaltensmuster, das beschrieben wird, ist da nicht angemessener als das vorhergehende. Es ist situativ passender.  

Freire bevorzugt den erzählerischen und bildhaften Erkenntnis- und Darstellungsstil. Zwei Er- und Verarbeitungsformen von Wissen, die ihn für Berufspraktiker und post - moderne Theoretiker ( hierzu: McLaren 1999, S. 21-22) gleichermaßen attraktiv machen. Freires Multiparadigmatismus (zum Begriff: Schülein 2002, S. 251) kann daher nicht als unausgegoren oder unwissenschaftlich charakterisiert werden (Freire 1995, S.18), nur weil er dem propositionalen (zum Begriff: Warren et al., 2002, S. 1232) Stil der Wissenschaft weniger huldigt. Essay, Touristenführung durch Gedankengebäude, Erfahrungsarchäologie und Roman sind nur einige der Bezeichnungen mit denen Rezensenten Freires intellektuelle Produktion zu fassen suchten (z.B. Ireland, 1994, S. 198). Freire gelan­gen in wichtigen historischen Situationen (vgl. die Aufzählung bei 5.) Zuspitzungen und Fokussierungen von theoretischen und praktischen Ansät­zen, die bewirkten, dass er in allen Bildungsbereichen, darüber hinaus in der Sozial- und Gemeindewesenarbeit (Lutz 2002), in Theologie, Philosophie und sogar in der Managementausbildung (Gibson 1994, Carmen 1995, Faltin/ Zimmer 1996) rezipiert wurde. Und das jeweils weltweit. Welches sind nun die Grundbegriffe und theoretischen Muster der befreienden Pädagogik, die all diese Wissens- und Handlungsbereiche durchziehen?

Anthropologisches Konzept der Kultur

So vormodern die Zeichnungen der jagenden Katze und des mit Pfeil und Bogen jagenden Indios Lesern von „Erziehung als Praxis der Freiheit“ (Freire 1974, S. 84) anmuten mag, indem Freire nur den jagenden Indio als kulturschaffend anerkennt (er konstruiert Werkzeuge für die Jagd und denkt in Szenarien, bei denen er seine Beute am besten erlegen kann) erinnert er an die Tatsache, dass unabhängig von den verschiedenen gesellschaftlichen Entwicklungsstufen bis hin zur heutigen Mediengesellschaft der kreative Umgang mit der vorgefundenen Welt, ihre immerwährende Neukonstruktion zunächst im Kopf und dann häufig auch um­gesetzt in der jeweiligen Realität, zum einen die Bedingung für die Bildsamkeit von Men­schen darstellt. Zum anderen hierin die je individuelle Motivation zum Lernen und Handeln verborgen liegt.

Freires Fazit: Menschen gehen immer schon „gebildet“ in formale und nonformale Bildungsprozesse hinein. Sie lernten bereits in der „Schule der Welt“. Die in Bildungsstätten arbeitenden Personen haben die kulturellen Konstruktionen und Errungenschaften der zu ihnen kommenden Nachfrager nach zusätzlicher Bildung zu respektieren und sich auf deren Vorwissen einzulassen. Erst in den letzten Jahren fangen Bildungsinstitutionen damit an, diese „Schule“ anzuerkennen und zu zertifizieren (Björnavald 2000). Je älter diese von Freire sogenannten „Schüler-Lehrer“ sind, desto stärker sollten neue Er­kenntnisse im problemformulierenden Dialog entwickelt werden können. Und in diesem Dialog werden wiederum neue Er­kenntnisse auch für die Lehrperson entstehen. Neu in dreifacher Hinsicht: Im Bezug auf neue Aspekte des mir als Lehrperson bekannten Curriculums. In Bezug auf neue Vermittlungsformen gegenüber einer anderen Klientel. Neu in Bezug auf die anderen Sichtweisen der Schüler zu dem zur Debatte stehenden Gegenstand.

Vielfalt der Lernorte, -anlässe und -materialienWenn die jeweilige Lerngeschichte eine solche Relevanz für das weitere Lernen und Handeln hat, inhaltlich wie motivational, dann müssen Curricula große Spielräume für die Ler­norte, -materialien und -anlässe bieten. Freire lehnte für die ersten von ihm koordinier­ten Alphabetisierungskampagnen Lehrbücher ab (Gerhardt 1979, S. 65). Die Lehrpersonen hatten sich mit dem sprachlichen und thematischen Universum ihrer „Klientel“ in Voruntersuchungen vertraut zu machen. Die so aufgefundenen Themen und Wörter wurden in Schlüsselsituationen und -wörtern didaktisch aufbereitet („kodiert“). Der Lernprozess bestand zum einen in der Wiedererkennung des curricular aufbereiteten Materials als Material, das die eigene Wirklichkeit beleuchtete („Dekodierung“): Mit positiven Konsequenzen für die Lernmotivation und die emotional - kognitive Assimilation und Akkommodation. Zum anderen förderte die Dekodierung die Debatte über Veränderungsmöglichkeiten der jeweiligen Situation. Pädagogik der Situation, besser: der Situationspotentiale wäre in Anlehnung an Jullien (1999) ein guter Ausdruck für diese Vorgehensweise (vgl. auch Zimmer 1997; Schott 1991; Gruber et al. 2000, S. 152).

Bewusstseinsbildungsprozess

Freire ist der Auffassung, dass sich die Entwicklung von kritischem Bewusstsein in Sta­dien vollzieht. Vom naiv-transitiven über das semi-transitive zum kritisch-transitiven Bewusstsein (Freire 1996, S. 43 u. 51; Freire 1974, S. 23 - 35 ). Das Durchlaufen dieser Stadien nennt Freire „conscientizção“, übersetzt: Bewusstseinsbildungsprozess, gleichzeitig Bewusstwerdungsprozess. Dieser je subjektive Vorgang, Rückschläge, Stillstände und Beschleunigen inklusive, bedeutet jedoch für den späten Freire nicht, dass seine Endstufe, das kritisch - tran­sitive Bewusstsein, bereits das politische Engagement zur Veränderung der kritisierten Wirklichkeit einschließt. Noch weniger bedeutet die Kritik der Wirklichkeit im Kopf be­reits ihre Veränderung. Das Studium von sozialen Revolutionen und Bewegungen zeigt, dass für diesem Schritt zur politischen Aktion bei hoher Kontingenz eine Vielzahl individueller und gesellschaft­licher Faktoren notwendig sind (z.B. Butler et al. 2000, Kane 2000), deren Integration in die befreiungspädagogische Perspektive an anderen Stelle versucht wurde (Gerhardt 2000). Befreiungspädagogen können – entsprechend professionalisiert (Gerhardt 1994, S. 4-12) – Menschen auf soziale Umbruchsituationen vorbereiten.

Die Befreiungspädagogik ist in einer solchen entstanden (Brasilien 1958-1964). Die politische Aktion selbst ist jedoch kein pädagogischer Akt. Das heißt nicht, dass pädagogische Arbeit neutral sei. Lehrpersonen intervenieren mit Wort und Tat in das Lebensschicksal fast aller Menschen. Pädagogische Institutionen entscheiden über Karrieren. Es geht der befreienden Pädagogik darum, die Entscheidungsgrundlagen hierfür offen mit allen Beteiligten zu besprechen (Schülern, Eltern, Administratoren und Politikern). Politische Entscheidungen und der Kampf um deren Durchsetzung folgen.

Dialog und Direktivität

Der Dialog ist geeignete Form gegenseitiger Bildungspro­zesse. Sein Ziel ist die individuelle, gruppenbezogene und gesellschaftliche Veränderung der am Dialog Beteiligten. Mit dieser Bestimmung des Dialogs versagen Angebote dieser Art bei all denjenigen, die an solchen Veränderungen kein Interesse haben, die im Gegenteil aktiv an der Aufrechterhaltung des jeweiligen Status Quo arbeiten.

Freire nennt sie die selbsternannten „Herren der Welt“, die in ihren selbstbezogenen Entscheidungen nur die eigenen Interessen sehen (Freire 2000, S. 32); Herren „und Frauen“ möchte ich hinzufügen. Zu ihnen bleibt ein gesellschaftlicher Antagonismus bestehen, der nur politisch – über andere Machtkonstellationen – entschieden werden kann (Freire 2000, S. 32). Dieserart Konflikte, in demokratischen Formen gelöst, ergeben jeweils alte und neue Optionen für die beteiligten Gruppen. Sie bilden die Grundlage für Lernprozesse. Mit der Zeit könnten dann - als konkrete Utopie - Wahlwelten neben die bisherigen Herkunftswelten treten. Bildung im befreiungspädagogischen Sinn findet statt, wenn zwei Lernwillige in unterschiedlichen sozialen Rollen (Lehrer – Schüler, Ausbilder – Auszubildende, Sozialarbeiter – Betroffene) in den Dialog treten. Alle Seiten, und seien sie noch so unterschiedlich in bezug auf Alter, Geschlecht, Herkommen oder Hautfarbe, bringen in diese dialogische Beziehung ihr jeweiliges Wissen über den Gegenstand des Dialogs ein. Im Verlaufe des dialogischen Bildungsprozesses vermindert sich der Kompetenzabstand von Lehrer und Schüler. Im Idealfall haben beide in diesem Prozess ihr Wissen und ihre Handlungsmöglichkeiten vermehrt und es gibt weniger Unterschiede in Wissen, Können und Handeln in bezug auf die diskutierten Themen und Problemstellungen.

Befreiende Pädagogik wendet sich gegen jede Art von „Bankierserziehung“; Erziehungspraktiken und -the- orien, die Menschen zum Objekt von Trainingseinheiten machen. Lernwillige werden in solchen Konzepten und Praktiken als leere Behälter angesehen, die mit verschiedenen Modellen des Nürnberger Trichters durch die Lehrpersonen mit Wissen und Kompetenzen befüllt werden. In Freires bildreicher Sprache findet sich für diesen Vorgang auch die Anspielung auf Sparanlagen, die im Educandus wie in einer Bank deponiert werden. Die Lehrpersonen prüfen von Zeit zu Zeit nach, ob sich die Einlagen vermehrt haben. Ziel solcher anti-dialogischen, direktiver Trainingseinheiten ist die Anpassung nachfolgender Generationen an die gegebenen Verhältnisse. Mitdenken, Kreativität und Veränderung sind unerwünscht. Den Autoritäten ist zu folgen. Solcherart Spareinlagen dienen in Inhalt und Form der Aufrechterhaltung des jeweiligen Status quo. Sie beinhalten Macht und stabilisieren sie. Wendet sich Freire so auf der einen Seite gegen überzogene Autoritätsansprüche einzelner, so sieht er auch die Gefahren harmonisierender Gruppenansprüche und -zwänge, bzw. eines pädagogischen laissez-faire

Die leihweise Hergabe oder gar Übereignung des eigenen denkenden Ichs an politische, religiöse oder andere Gruppenzusammenhänge erregten Freires Widerstand. Jede Form von Sektierertum und Extremismus verneint die Vernunftbegabtheit des Menschen. Auch die Liebe, der Glaube, die Hoffnung des Christentums (Freires eigene Grundüberzeugung) haben sich mit ihren Worten und Taten der Verstandeskritik mit aller jeweils zur Verfügung stehenden methodischen Rigorosität zu stellen (Freire 1992 u. 2000, S. 33). Nur die kritische Durchsicht eigener und fremder „Wahrheiten“ schafft eine hinreichende Basis für die zu treffenden persönlichen, beruflichen und politischen Entscheidungen (Freire 2000, S. 31).

Glaube, Liebe und Hoffnung

Diese drei theologischen Tugenden und die vorausgewusste Zu­kunft in Gottes Reich sind entscheidende Bausteine für Freires Denken und Handeln. Freire kann als christlicher Pädagoge bezeichnet werden (vgl. Böhm 2000, S. 113). Das Christentum als Religion der Zukunft weist dem Menschen in der Geschichte die Aufgabe zu, sich selbst fortentwickelnd dem Bild Gottes anzunähern. Geschichte ist gleichbedeutend mit diesem Annäherungsprozess. Geschichtliche Gegebenheiten werden so zu „Aufgegebenheiten“ (Rahner 1966, S. 13). Ein Scheitern an diesen Aufgaben ist immer wieder möglich. Es sollte als neuerliche Lernchance angesehen werden (Freire 1995b, S. 18). Der Geschichtsprozess wird vom „Ausständigen“ (Rahner 1966, S. 13) her ver­ständlich. Mensch und Geschichte entstehen miteinander. Geschichte ist Gestaltwerdung des Menschen. Auf der Grundlage seiner christlichen Glaubensüberzeugung reflektiert Freire zum einen auf „einmalige, geschichtliche Heilsereignisse“ (Cunha 1975, S. 227), in denen sich der „Vollzug von Hoff­nung und Liebe“ (Rahner 1972, S. 240) gelebt findet. Beispiele sind das Auftreten von Jesus Christus in Palä­stina und die Geschichte urchristlicher Gemeinden im ersten Jahrhundert. Zum anderen entdeckte Freire in den Ideen und Ereignissen seines Raumes und seiner Zeit „Ausständiges“, Noch-Nicht-Er­reichtes wie Ernst Bloch formulieren würde. Die Bewegung des MIR in Chile, die dortige Agrarreform (1964 bis 1968), die Kulturzirkel in Brasilien (1963-1964), die befreienden Bildungsansätze in Argentinien (1973), San Salvador (1972), Grenada (Freire 1972, S. 39, S. 41, S. 190-195) und Guinea-Bissau (Freire 1977) sind – bei aller Kritik im Detail - Vorschein auf Elemente einer demokratischen und freien Gesellschaft. Mit seiner Arbeit trägt Freire seinen Teil zur prophetischen Mission der Kir­che bei: Der Ankündigung des Reiches Gottes auf Erden. Er selbst nennt sich dabei: Pilger des Offensichtlichen.

Der Begriff Befreiung enthält bei Freire eine theologische und eine anthropologische Dimension ( vgl. bei 1.). Wenn christlicher Glaube an den einen liebenden und gnädigen Gott und christliches Han­deln nach dem Beispiel von Gottes Sohn Christus sich aus dem Versuch gründet, dieser in der Welt erfahrenen und von Gott her bestimmten Zusage im eigenen Handeln in der Welt zu entsprechen, können Strukturen von Ungerechtigkeit und Ausbeutung nur als Umstände verstanden werden, die die Menschen ihres Menschseins berauben (anthropologische Dimension). Sie entfremden die Menschen zugleich von Gott, der als liebender und gnä­diger durch solche Strukturen negiert wird (theologische Dimension). Befreiung ist dann die tätige Absage an Unterdrückung. Befreiung weist auf die Möglichkeit zu einem geschichtlich neuen Zustand hin, zu einer neuen Lebensform, zu einer neuen Weise des Lebens in Solidarität und Nächstenliebe (Knauth/ Schroeder 1998, S. 76).

Autonomie und Freiheit

Der Autonomiebegriff der befreienden Pädagogik (Freire 1996) steht in der philosophischen und anthropologischen Tradition des Verständnisses vom Menschen als einem vernunftbegabten Wesen. Der Mensch kann sich gattungs- und individualgeschichtlich in immer größerem Masse seines Verstandes bedienen, Rückschläge miteingeschlossen. Es ist ihm und ihr möglich in Denken und Handeln zur Freiheit von inneren und äußeren Zwängen zu gelangen. Die meisten Formen der Herrschaft von Menschen über Menschen werden in diesem Prozess der Autonomieentwicklung hinfällig.

Individualgeschichtlich treten an die Stelle von stark außenbestimmten Freiheitsgraden als Kind, Schüler, Auszubildender, Student, Selbstständiger und Arbeitnehmer die selbstbestimmte Freiheit, die Würde und die kulturelle Identität (Freire 1995a, S. 93) eines jeden einzelnen Menschen. Postmodernisten müssen diesen der Aufklärung verpflichteten Freire daher als „großen Erzähler“ beschimpfen (vgl. Gerhardt 2001, S. 31f.). Dieserart Freiheit – von Freire als konkrete, d.h. erreichbare Utopie gedacht – hält in ihren alltagspraktischen und institutionellen Ausformungen Abstand zum neo-liberalen Marktfetischismus, zum „reaktionären Postmoder-nismus“ (Freire 1995a, S. 24) und zu jeder Art von Autoritarismus, mag er sich nun auf Funktion, Geschlecht, Hautfarbe oder soziale Klasse gründen.

Sie wird aber historisch und aktuell, gesellschaftlich und subjektiv durch eben diese drei Umwelteinflüsse beschränkt Zusätzliche Beschränkungen ideologischer Art sind die sogenannte Zweckrationalität, vorgebliche Sachlogik oder Sachpolitik. Auch kulturelle Eigenheiten, die als Universalien ausgegeben werden, gehören hierzu. Die Nutznießer der jeweiligen Macht- und Herrschaftsstrukturen tendieren dazu, die selbst historisch erkämpften Freiheits- und Autonomiegrade als den jeweiligen Endpunkt von Geschichte auszugeben. Die Entwicklung der autonomen Freiheit aller Menschen ist für Freire aber nicht ein Projekt eines einzelnen oder einer gesellschaftlichen Gruppe. Es geht ihm um die gemeinschaftliche Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse (Freire 1996, S. 58.), um die Auseinandersetzung mit den erwähnten Umwelteinflüssen in Sinne eines politischen Projektes, das auch die Unterdrücker von ihrer Unterdrückungsarbeit „befreit“ (Freire 1998, S. 147 f.) 

Freires Pädagogik der Autonomie (1996) konzentriert sich curricular auf Gegenstände und Situationen, die individuelle, gruppenbezogene und gesellschaftliche Entscheidungsfindungen nahe legen, gepaart mit abgestuften Möglichkeiten für die getroffenen Entscheidungen auch Verantwortung übernehmen zu können (Freire 1996, S.123). Entscheidungsfähigkeit und Verantwortungsbereitschaft stehen in einem auszubalancierenden Wechselverhältnis. Die autonome Freiheit können einzelne und Gruppen nur dann für sich in Anspruch nehmen, wenn sie in Wort und Tat verantwortungsbewusst gegenüber sich selbst und anderen angewandt wird.

Mit diesen Normsetzungen kommt Freire in seiner Pädagogik der Autonomie (1996) zu ethische Grundfragen. Denn die Ethik, allgemein: die Normen und Maximen einer Lebensführung, die sich aus der Verantwortung gegenüber anderen herleiten, entfaltet ihre große Möglichkeiten im freiem Selbstvollzug der Person. Ethik dokumentiert sich in der Fähigkeit zu verantworteter Entscheidung. Ethiker greifen in Diskurse und Handlungen ein, indem sie

  • deren Wert- und Sinnpräferenzen klären,
  • vorgebrachten Sachargumente auf die verborgenen Vorlieben hin untersuchen,
  • in ihrer Lebensführung selbst ein Beispiel geben.

Ethik ist politisch, d.h. sie muss sich mit Fragen von Macht und Herrschaft beschäftigen, wenn sie die Überprüfung vorgeschlagener oder eingesetzter Handlungsstrategien an ethischen Kriterien vornimmt (Freire 2000, S. 33). Diese Kriterien sind zum einen historisch überkommen, zum anderen befinden sie sich in einem Entwicklungsprozess. Hierzu gehören das Jammern der jeweils älteren Generation über den Werteverfall bei der Jugend genauso wie die Bemühungen um Leitbilder, Führungsrichtlinien und Unternehmenskulturen in Umbruchzeiten.

Das Leitbild, das Freire so für die Berufspraxis der befreienden Pädagogen entwirft, wird teilweise auch von mir als übergroßes Anforderungsprofil (Gerhardt 1986), von anderen sogar als Zumutung angesehen (Meueler 1994). In der Tat: Selbstverantwortete Entscheidungen zu treffen, das „eigene Wort zu sagen“, aus des Schweigekartells der verschiedenen Interessensgruppen auszubrechen, teilweise gegen die eigene Institution, gegen Teile der eigenen Kollegenschaft, gegen die guten Freunde und gemeinsamen Netzwerker aufzustehen, erfordert großen Mut und Zivilcourage. Es erfordert für viele auch die Überwindung von Diskursen und Praktiken, die Gesellschaften für die in ihnen Unterdrückten und Diskriminierten entworfen haben (Lutz 2002, S.8). Entscheidungssituationen dieser Art können Angst auslösen.

Demokratische Formen des Umgangs in und zwischen den jeweiligen Bezugsgruppen in Organisationen und Gesellschaften stellen für Freire nach dem bisherigen Verlauf der Menschheitsgeschichte am wahrscheinlichsten die geforderte Balance zwischen der Verantwortung sich selbst und anderen gegenüber sicher. Hierbei gilt: Fehler und zeitweises Scheitern sind als Schritte auf dem ergebnisoffenen Weg der Autonomieentwicklung anzusehen. In diesem Bildungsprozess und seinen mannigfachen Zwängen sind sie auch so zu behandeln (Freire 1995). Angesichts des alt-neuen Götzen „Markt“, auch im Bildungsbereich zunehmend verherrlicht, werden ethische Kriterien gewonnen in Dialog möglichst autonomer Subjekte als Wegweiser im unübersichtlichem Gelände immer wichtiger. Sie müssen abgesichert werden von konkreten Utopien, Institutionen und Gesetzgebungen (Dussel 2001).

Dieser Artikel trägt die Überschrift „Befreiende Päd­agogik - ein multiparadigmatischer Ansatz“. Paradigmen wur-den von mir im Wort­sinne verstanden als Beispiele und Erzählungen, die soziale Wirklichkeit und die Hand­lungen von Akteuren in ihr erläutern helfen. Freires Formulierung der befreienden Pädago­gik zeichnet sich durch einen kreativen Umgang mit Begriffen und der Art und Weise ihrer Kopplung aus. Sie sind in der Mehrzahl der Fälle durch Situationen aus der Praxis illu­striert, häufig auf ihrer Grundlage geschaffen.

Solche Situationen und die Entwicklung ihrer Potentiale finden sich breitgestreut in Freires Werk. Sie erreichen eine hohe Wirklichkeitsnähe mit immer wieder neuen An­messungen von Begriff und Struktur an die sozialen Begebenheiten. Freire geht es in politischer Absicht um das Neu- und Wiedererscheinen von für ihn „Offensichtlichem“ (z.B. Unterdrückung) und „Gewöhnlichem“ (z.B. Armut). Es geht um die Veränderungspotentiale in und für diese von Menschen verursachten und von ihnen daher auch veränderbaren Situationen. Freire steuert damit zunächst auf „weniger schlechte“ Verhältnisse im Bereich des Bildungswesens zu. Er stellt in seinem Lebenswerk spätestens seit seiner „Pädagogik der Unterdrückten“ (Freire 1970) auch die Frage nach „weniger schlechten“ Verhältnissen in der Gesellschaft. Erziehung ist nicht neutral. Elemente der befreienden Pädagogik, wie Dialogprinzip und Situationsansatz können, ja sollen, Bausteine einer freieren und menschlicheren Gesellschaft sein.

Literaturverzeichnis

  • Baquero, P., et al., Über Befreiung. In: Knauth, Th./ Schroeder, J.. (Hg.), Über Befreiung. Münster: Waxmann 1998, S. 11-94.
  • Böhm, W., Christliche Erziehung. In: Ders. (Hg.) Wörterbuch der Pädagogik. Stuttgart: Kröner 2002, S. 113-114.