Über das gegenseitige Aufziehen in den Anden

von Grimaldo Rengifo V.

Kommentare zur Veranstaltung: “Beyond Paulo Freire: Furthering the Spirituality Dialogue”.
Smith College, U. Mass. USA, 26.- 27. Oktober 2000

Apropos Paulo Freire

Vielleicht hat Paulo Freire einfach vergessen, der Natur die nötige Wichtigkeit beizumessen. Um die sozialen Ungerechtigkeiten besorgt, wie wir damals alle waren, orientierte sich der Freiresche pädagogische Leitfaden an der Bereitstellung von konzeptuellen und methodischen Werkzeugen, um die der Ungleichheit zu Grunde liegenden sozialen Verhältnisse zu verändern. Wobei die Reflexion über das Herrschaftsverhältnis des Menschen über die Natur außer Acht gelassen wurde. Vielleicht ist dieses Vergessen auch in der Struktur des Freireschen Diskurses angelegt.

Da das Ziel des modernen Menschen die Herrschaft über die Erde ist, will er die Natur verändern und nicht mit ihr kommunizieren. Der Dialog in diesem Diskurs war grundsätzlich humanistischer Art. Die Pädagogik der Unterdrückten wurde als ein Instrument zur Beseitigung sozialer Unterdrückung, jedoch nicht zur Beseitigung der Unterjochung der Natur formuliert, als ob die Lösung der ökologischen Probleme eine spätere Aufgabe einer von den Unterdrückern befreiten Gesellschaft wäre.

Ich erinnere mich, dass meine ersten Unterrichtsstunden im Sommer 1979 als Mitglied eines Alphabetisierungsteams des Bewässerungsprojektes San Lorenzo in Piura an der Nordküste Perus mit der sogenannten Motivierungsphase begannen. Auf einem von den von uns benutzten Farbbildern war ein für den ländlichen Raum typisches, sich im Bau befindliches Lehmhaus zu sehen. Die Bilder wurden von den Schülern der Oberstufe oder dem Zeichenlehrer der jeweiligen Schule gemalt.

Die Absicht dabei war, die lokale Realität, das heißt einen Teil des Alltags der Bewohner, hauptsächlich Kleinbauern oder Landarbeiter der Baumwollfarmen, detailliert darzustellen. Dank der thematischen Vertrautheit sollten uns diese Bilder helfen, in kurzer Zeit einen Dialog mit den Bauern herzustellen.

Zu jedem dieser sogenannten Kulturzirkel gehörten etwa zehn Bauern, meist Männer, und die Gespräche begannen nach dem Abendessen, etwa um 8 Uhr abends.Da es keinen Strom gab, wurden Kerosinlampen benutzt, die die Bilder beleuchteten, um welche wir uns im Halbdunkel versammelten. Der methodische Leitfaden, den ich hier nur sehr gekürzt wiedergeben will, befolgte jeden einzelnen Schritt eines jeden Lernprozesses: sehen, urteilen und handeln. Eine sich außerhalb des Individuums befindliche Realität sehen, um sie in ihre Einzelteile zu zerlegen. Dieser Teil des Leitfadens verlangte von den Bauern die Abstraktion der Realität, und dies wiederum setzt die aktive Verarbeitung sensorieller, motorischer und kognitiver Abläufe voraus, sodass ein geistiges Bild der Realität erzielt wird.

Diese Realität zu beurteilen war der zweite Schritt. Dabei ging es darum, die Realität der Bauern mit derjenigen der Großgrundbesitzer und der wohlhabenden Schichten auf dem Land zu vergleichen. Die Bauern sollten ihre eigene Gesundheits- und Bildungslage sowie ihre Arbeitsbedingungen mit denen der Haziendabesitzer und anderer privilegierter Schichten der Gesellschaft vergleichen. Bei dieser Dynamik musste außerdem die lokale soziale Struktur mit der des ganzen Landes in Verbindung gebracht werden. Das Ausmaß der Ungerechtigkeit und Unterdrückung sollte im Bewusstsein der Bauern aufgenommen und hervorgehoben werden.

Im dritten Teil des Leitfadens ging es darum, zu handeln, um diese Realität zu verändern. Dies war der politische Teil des Alphabetisierungsprozesses, denn er setzte die Organisierung und Mobilisierung der Bauern voraus, um die Situation der Unterdrückten zu verbessern. Im Juni 1969 setzte in Peru eine von der Militärregierung vorangetriebene Landreform ein. Auch unser Gebiet war davon nicht ausgeschlossen, und jeder Großgrundbesitz konnte von den Regierungsmaßnahmen betroffen werden. In diesem politischen Kontext fand unsere Alphabetisierungserfahrung statt.

Gemäß dem Leitfaden bestand der erste Schritt der Erziehungsaktion darin, die Teilnehmer zu fragen, was das Bild darstelle, um es dann in seine Einzelteile zu zerlegen (arbeitende Menschen, aufgeschüttete Erde, Lehmziegel, Bäume, Hühner, Hunde usw.). Um das zu erreichen, lenkte der Promotor die Aufmerksamkeit der Teilnehmer auf die Einzelsituationen, um auf diese Weise die anfänglich ganzheitliche Wahrnehmung der Bauern zu durchbrechen.

Wenn die Zeichnung gut war, konnten die Bauern sogar erkennen, wer die dort abgebildeten Personen waren, in welchem Teil des Dorfes gebaut wurde und sogar, mit welcher Art Stroh der Lehm vermischt wurde, mit dem die Ziegel hergestellt wurden. Die Zeichnung war für sie nicht einfach eine Repräsentation, sondern eine andere Art, ihr Leben zu zeigen, und sie stellten sehr schnell eine enge Verbindung, eine Art Nabelschnur, zu ihren eigenen Erlebnissen her.

Der Promotor musste sie also zu einem Abstraktionsprozess hinführen, das heißt, sie sollten die Realität, die von den Bauern nahtlos, holistisch erlebt wird, im Geiste in Einzelteile zerstückeln.

Wer weiß, vielleicht war dieser Zerstückelungsprozess ihres Alltagslebens der schwierigste Teil der Alphabetisierung, denn er sollte damit enden, dass die Bauern sich im Geist eine andere Realität vorstellen konnten. Gegen diesen Prozess wehrten sich die Bauern. Eine weitere Art, sich der vorgestellten Realität zu nähern, war es, die Dinge anders zu benennen.

So wurde die Erde zum Naturobjekt, denn sie war einfach da, als ein Teil des natürlichen Lebens, wogegen der Lehmziegel ein Kulturobjekt war, denn er war vom Menschen durch die Umwandlung von in der Natur vorkommenden Materialien erschaffen worden. So sollten die Bauern, wenn der Promotor auf den Lehmziegel auf dem Farbbild zeigte, nicht den Gegenstand benennen (Lehmziegel), sondern das Konzept (Kultur). Dieser Vorgang sollte solange wiederholt werden, bis sich die vorgestellte Realität im Geiste des Bauern hervorheben würde. Diese Einführungsdynamik schloss mit der Bejahung - seitens der Alphabetisierten – sie seien gebildete Menschen, da sie Kultur erzeugten, denn ein wesentliches Merkmal des Menschen sei es, die Natur umzuwandeln und sich selbst zu verändern. Wir wissen nicht, ob die Bauern diesen Satz wiederholten, weil sie ihn verstanden oder aufgrund seiner damals im ländlichen Raum geläufigen Bedeutung. Das Wort „gebildet“ qualifiziert einen Menschen ebenso, wie das Wort „ungebildet“ ihn disqualifiziert.

Aber abgesehen von diesen allgemeinen Einschätzungen waren wir begeistert, wenn die Bauern den Satz wiederholten „Bauern sind gebildete Menschen“, da dieser Satz alle Menschen auf eine ähnliche Stufe rückte, unabhängig von ihrer sozioökonomischen Position, und ganz sicher untergrub dies die hierarchische Beziehung zwischen Bauern und Großgrundbesitzern und stärkte das Selbstbewusstsein der Bauern - eine Grundvoraussetzung, um die soziale Lage beurteilen und verändern zu können. Diese Schritte sollten während des Alphabetisierungsprozesses fortgesetzt werden.

Dies war nun der Moment, die Realität zu beurteilen, was ganz einfach auf einen Vergleich der Situation des Bauern mit der Vorstellung, wie diese sein sollte, das heißt einer Utopie, hinauslief. Der nächste Schritt bezog sich auf das Handeln, um dieser Utopie näherzukommen und sie zu einer erreichbaren Wirklichkeit zu machen. Diese Abfolge verschiedener Schritte wurde während der Motivierungsphase und im Verlauf des eigentlichen Alphabetisierungsprozesses ständig wiederholt. Die nach der Motivierungsphase einsetzende Dynamik des Lesen- und Schreibenlernens implizierte den Aufbau eines Vokabulars, welches Wörter beinhaltete, von denen angenommen wurde, sie könnten intellektuelle Prozesse der Bewusstseinsbildung in Gang setzen. Die pädagogische Forschung war übersättigt mit Nachforschungen hinsichtlich der sogenannten „starken Wörter“, beschäftigte sich jedoch kaum mit der kognitiven Welt der Bauern. Man ging davon aus, dass der Verstand in allen Kulturen gleich sei und dass nur die Inhalte sich unterschieden.

Obwohl wir beobachteten, dass zwischen den Bauern und den Farbbildern eine gefühlsmäßige Vertrautheit bestand, konzentrierten sich unsere Bemühungen auf das Bewusstsein, dessen Entwicklung die Garantie dafür war, sich von der zu verändernden Realität distanzieren und sie beurteilen zu können. Zuneigung, Gefühle und Emotionen waren für uns den Lernprozess begleitende Dimensionen.

Die Sinne waren energetische Abschnitte des Erkenntnisvorgangs, Informationsorgane eines Bewusstseins, das dazu erzogen werden sollte, Informationen in Konzepte umzuwandeln. Sätzen, wie dem folgenden, die in den Kulturzirkeln geäußert wurden, schenkten wir keine Beachtung: „Juana weiß über die Hühnerzucht Bescheid, weil sie ein Händchen für Hühner hat…“. Und der Totenkult, die während einer ganzen Woche am Fuße der Friedhöfe abgehaltenen Totenwachen, waren für uns Ballast aus einer magischen Vergangenheit, die es zu überwinden galt.

Es war Bedingung, zu Beginn eines jeden abendlichen Treffens auf die Unterscheidung von Natur und Kultur zurückzukommen. Ohne die Erkenntnis einer Welt voller Objekte außerhalb des Subjekts würde es keine Bewusstseinsentwicklung geben. Das verwandtschaftliche Verhältnis des Bauern zur Natur sollte in einen Alphabetisierungsprozess umgewandelt werden. Die Natur war ein Objekt und keine Person, kein weiteres Subjekt der Erziehungsaktion. Gleichzeitig mit der Entwertung des Wissens, das sich auf Sinneseindrücke stützt, wurde die humanistische Auffassung bekräftigt, der Mensch sei Zweck und alles andere Mittel.

Freire wusste sehr wohl, dass der Übergang der Bewusstwerdung – dem doxa - zum kritischen Wissen – dem logos – das Durchtrennen der Nabelschnur, die den Menschen mit der Natur verbindet, voraussetzt, denn das Erlebnis, die direkte, gefühlsmäßige und sinnliche Beziehung zu den Dingen in der Welt, schränkt das Entstehen eines Bewusstseins der Welt ein und verhindert, dass das Objekt im Geist repräsentiert wird. Das Erlebnis schließt den kritischen, forschenden Blick für die Welt aus, denn zwischen Mensch und Welt existiert eine Art Empfänglichkeit füreinander, ein gemeinsames Mitwirken an ähnlichen Strömen, ein sinnliches und kollektives Verständnis der Welt. Im Erlebnis wird die Welt nicht im Geist repräsentiert, das Erlebnis ist die Welt selbst.

Erst Jahre später begannen wir die Rolle der sinnlichen Empfindung der Dinge und der Welt der Bauern und deren Rolle im Lernprozess zu verstehen. Aber damals war es wichtig, das “Ich”, die Subjektivität, aufsteigen zu lassen, um die Welt mit kritischen Augen betrachten zu können. Die Alphabetisierung wurde nicht zu Ende geführt. Die Regierung beurteilte diese Erfahrung als gefährlich und wies uns aus dem Gebiet. Später sollten die Bauern jedoch die bürokratischen Grenzen der Landreform sprengen, Ländereien der Großgrundbesitzer besetzen und auf diese Weise den Reformprozess radikalisieren und dynamisieren.

Wie viel von dem, was wir taten, zur Entstehung neuer sozialer Beziehungen beitrug, wissen wir nicht. Etwas wahrscheinlich schon. Man darf nicht vergessen, dass die Landreform eine seit langem aufgeschobene und vor den Bewusstseinbildungsversuchen existierende Forderung der Bauern war. Für viele von uns bleibt die Befriedigung, Freunde gewonnen zu haben, die uns trotz allem nicht aus ihren Häusern warfen, und dass der eine oder andere seinen Namen schreiben und lesen gelernt hatte. Wir bezweifeln jedoch, dass sich in ihnen das von uns so sehr angestrebte kritische Bewusstsein festgesetzt hat.

Meiner Einschätzung nach hat das Aussprechen und Schreiben des gewünschten Wortes nicht dazu geführt, eine Vorstellung von der Welt zu haben, sondern dazu, sie zu benennen. Wenn man die Bauern bat, sich von der Abbildung „zu distanzieren“, so fiel ihnen das schwer, denn sie waren selbst im Bild, es war nicht einfach eine Darstellung der Realität, es war die Realität selbst. Sie erlebten sich körperlich in dem Bild, so wie das Bild auch in ihnen existierte. Und wenn man sie bat, über eine auf der Zeichnung abgebildete Situation zu sprechen, war die Sprache ein Mittel, die auf dem Bild verkörperte Situation in Worten auszudrücken. Das gesprochene Wort bezog sich auf das Bild, ohne eine diskursive, repräsentative Sprache zu benutzen, der Geist hatte sich anscheinend nicht völlig vom Körper befreit.

Lesen und schreiben lernen führt bei den Bauern nicht zu einem unlötbaren Bruch zwischen Geist und Körper. Der Lernprozess wird bei ihnen mit dem Wissen, mit den Sinnen etwas tun zu können, assoziiert, also einem verkörperten Wissen, keinem abstrakten Wissen. Es ist nicht das Wissen des homo faber, der die Welt aus dem Nichts heraus erschafft. Es handelt sich um ein Wissen, das die Welt ständig neu erschafft und belebt, und in welchem die Emotionen und Sinne nicht als Informanten erlebt werden, denn auch in ihnen ruht Wissen. Die Hand weiß, weil sie zum Körper gehört, der Körper vereint die biologischen und psychologischen Aspekte in sich. Durch ihn drückt sich alles in seiner Ganzheit aus. Der Körper empfindet und spricht über das Empfundene, denn Körper und Geist sind untrennbar miteinander verbunden.

Viele haben aus den Bauernkämpfen zur Rückeroberung des Landes im Verlauf der Geschichte gelernt, dass es nicht notwendig ist, die Erde zu objektivieren, indem Paschamama – die Leben spendende Gottheit – zur Ressource Boden wird. Die Bauern haben im Verlauf ihrer Geschichte gezeigt, dass sie durchaus in lange andauernde Aufstände verwickelt sein können, ohne deshalb ihre Rituale und familiären Beziehungen zur Natur zu vernachlässigen. Im Gegenteil, jede Mitwirkung in einer politischen Bewegung inspiriert sich im Ritual und erfolgt im Gespräch mit den Göttern. Sie sehen daher keinen Grund, weshalb lesen und schreiben lernen einen Bruch in ihren familiären Beziehungen mit der Natur und ihren Göttern mit sich bringen sollte.

Was geschieht, wenn ein Bauer einer intellektuellen Aktivität unterzogen wird, die ihm eine hohe Dosis an Abstraktion abverlangt? Nach meiner Erfahrung langweilt er sich, nicht nur, weil er zu der Uhrzeit, wenn wir die Versammlungen abhielten, normalerweise schon zu Bett geht, sondern weil es seine Alltagsbeziehung mit den Dingen, die ihn umgeben, zerbricht, ganz besonders, wenn man ihn zwingt, sich eine Vorstellung von etwas zu machen. Er versteht nicht, warum die Erde, stellt man aus ihr einen Lehmziegel her, nun keine Erde mehr, sondern Kultur sein soll. Für ihn ist es weiterhin Erde und gleichzeitig auch ein Lehmziegel. Ein Anzeichen dafür war, dass viele die Kulturzirkel nach einer gewissen Zeit nicht mehr besuchten, gewöhnlich blieben nur zwei oder drei junge Leute mit einer gewissen Schulbildung übrig.

Einige Bauern sagten, sie bekämen Kopfschmerzen in den Versammlungen des Kulturzirkels. Man verlangte von ihnen eine intellektuelle Anstrengung, an die sie nicht gewöhnt waren, und sie sahen auch nicht ein, warum sie sich einem derartigen Druck aussetzen sollten. In ihrem Alltagsleben hat die Abstraktion keinen Platz, sie ist nicht notwendig, um den Acker zu bestellen. Andererseits haben sie sehr wohl den Ehrgeiz, lesen, schreiben und rechnen zu lernen.

Unter den Bauern, die in den Anden der Mutter Erde Rituale darbringen, finden sich viele, die lesen und schreiben können. Viele sind sogar Akademiker. Auch wenn die Schule das Fleisch gewordene Wissen unterhöhlt, hat sie es doch nicht geschafft, es durch eine rationale Beziehung zur Natur zu ersetzen.Jahre später besuchte ich die Dörfer, in denen ich als Alphabetisierer meine Berufslaufbahn begann, und ich sah, wie meine Freunde an mehrtägigen Wallfahrten zu heiligen, im Alltagsleben Wunder bewirkenden Stätten teilnahmen. Das von der Militärregierung in den siebziger Jahren vorangetriebene Programm ALFIN (integrale Alphabetisierung), in welchem die Freiresche Methode angewandt wurde, konnte die sogenannte magische Mentalität der Bauern nicht verändern. Die zu Ehren der Berge-Gottheiten abgehaltenen Zeremonien werden in erneuerter Form begangen. Selbst in der 8 Millionen Einwohner zählenden Großstadt Lima haben die andinen Riten Räume eingenommen, die den christlichen Festen vorbehalten waren. Im Folgenden soll anhand des Vergleichs zwischen unserer damaligen Tätigkeit und unseren derzeitigen Nachforschungen im Hochgebirge der peruanischen Anden reflektiert werden.

Das gegenseitige Aufziehen in den Anden

Indem die Pädagogik der Unterdrückten den Akzent auf den Verstand setzt und Empfindungen und Gemütsbewegungen der Erkenntnis unterordnet, schenkt sie der menschlichen Fähigkeit der Beweisführung und der intellektuellen Erfassung der Welt die ganze Aufmerksamkeit. Dabei wird die Wahrheit der Dinge im Subjekt angesiedelt, das heißt, die Wahrheit liegt nicht in der Anpassung des Verstandes an die Dinge, sondern in der Anpassung der zum Objekt gewordenen Dinge an das mit dem Verstand Gedachte. In diese Richtung leitet der Erzieher den Geist der Erziehenden – unabhängig, welche Methode er anwendet – auf der Suche nach der Wahrheit.

Was das Menschliche in den Anden ausmacht, ist dieses „In-Beziehung-Stehen“, dessen wesentliche Merkmale das Gespräch, der Dialog, die Mitbeteiligung, das Leben in Gemeinschaft sind. Die Gemeinschaft, das Kollektive, existiert nicht außerhalb des Menschen, es bestimmt sein Wesen. Durch die Verbundenheit der Mitglieder der Gemeinschaft untereinander, wird die Gemeinschaft als solche zum Bindeglied. Wichtig ist daher das harmonische Miteinander aller, das in einem Leben in Gemeinschaft erzielt wird, nicht die einzelnen Formen als solche und schon gar nicht in einer einzigen ihrer Fähigkeiten, nämlich dem Verstand. Diese Fähigkeit existiert im andinen Erlebnis nicht getrennt, sondern ist eng verbunden mit den Sinnen und der gesamten lebendigen Gemeinschaft, die jedem Wesen innewohnt.

Um zu verstehen, warum der Akzent in der Beziehung liegt, muss erklärt werden, was in der andinen Sichtweise unter dem Konzept Mensch zu verstehen ist. In der abendländischen Perspektive ist der Mensch ein Tier, welches Träger von Ideen, dem Verstand ist, es ist ein Wesen aus Materie und Geist. Dies definiert und unterscheidet ihn von anderen Wesen in der Natur, es ist seine Identität. Auf Quechua heißt Mensch runa, zumindest ist dies die gebräuchliche Definition. Die Frage ist, ob ein runa auch ein Tier mit Vernunft ist.

Für die Familien in den Anden ist die Seele etwas, das jedes Wesen in der Welt bewohnt, sei dies nun ein Mensch, eine Pflanze, ein Tier, ein Stein oder ein See. Die Seele wird von den Familien als ein Wesen erlebt, das in jeder Person wohnt. Also nicht etwas, was ihn transzendiert, kein metaphysisches Wesen, sondern ein greifbares Wesen, das mit den Augen und den Sinnen erfasst werden kann, und das mit dem Körper, also sichtbar für jedermann, eine Paarbeziehung eingeht, dessen Symbiose und harmonische Vereinigung entscheidend für das Leben ist. Wenn die Seele sich entfernt, „den Körper verlässt“ – wie sie sagen -, wird der Körper krank und kann sogar sterben.

Die Familien und lokalen Heiler wissen, wann eine Störung der körperlichen Harmonie die Folge des Weggehens der Seele ist. Es gibt eine ganze Reihe von Zeremonien, um die Seele in den Körper zurückzuholen, sodass das Paar Körper-Seele seine Harmonie zurückgewinnt, seine Tatkraft, seine Lebensfreude, seine symbiotische Beziehung. In diesem Sinne ist ein runa mehr als nur ein Körper, auch wenn dieser sich vollständig und ohne die Trennung zwischen dem psychologischen und dem biologischen Aspekt ausdrückt. Man könnte sagen, der Körper erlebt ein Gefühl der Paarbeziehung.

Die Festlichkeiten zu Ehren der Ackerfrüchte während des Karnevals in Puno werden von den Familien rituell und sehr festlich begangen. Am Haupttag heißen die Kartoffeln ispallas, Gottheiten der Kartoffel – und nicht einfach Kartoffeln. Für fremde Augen kann es sich dabei um die Symbolisierung einer Gottheit außerhalb der Kartoffel handeln, aber so scheinen die Familien dies nicht zu empfinden.

Jedes Wesen wird zu bestimmten Momenten auch als Gottheit erlebt, sodass es in diesem Fall gleichzeitig eine Kartoffel und eine ispalla ist, also Natur und Gottheit. Und auch die Frauen nehmen an den Festlichkeiten als Gottheiten der Kartoffel teil und werden so genannt, während die Männer Gottheiten des Getreides sind (muchus in der Aymarasprache). An diesem Tag und zu dieser Begebenheit ist man entweder eine ispalla oder ein muchu, das heißt, die dem Menschen innewohnende Gottheit kommt zum Vorschein, ohne dass dies als eine Repräsentation, Verwandlung oder Mutation des einzelnen Wesens empfunden wird. Für die andinen Familien existiert die Gemeinschaft nicht außerhalb jedes einzelnen Wesens, sondern jedes Wesen ist eine Gemeinschaft in sich selbst. Daher sprechen die Aymarafrauen von „ihrem Körper“, wenn sie sich auf ihre Person beziehen.

Auf diese Weise besteht jeder Mensch aus einer Gemeinschaft von Beziehungen, wobei der Akzent einer ausgeübten Tätigkeit nicht so sehr in den jeweiligen Körpern liegt, sondern im Gespräch dieser untereinander und mit den Dingen in der Welt. Diese innere Harmonie drückt sich über die Sinne, die Gefühle und Emotionen aus; in dieser Beziehung steht die Zuneigung im Mittelpunkt. Wenn ein runa oder jaque (Mensch in der Aymarasprache) ein reifer Mensch ist, jemand, den wir Stadtmenschen für gewöhnlich als einen Menschen „mit Verstand“ bezeichnen, was sich weniger auf einen berechnenden als auf einen vernünftigen Menschen bezieht, so wird dieser in der Ayamarawelt als chuyman jaque bezeichnet. Eine der Bedeutungen des Wortes chuyman ist Lunge, Eingeweide, das, was innen ist, die Gefühle. Ein reifer Mensch sollte ein Mensch mit Herz, mit Gefühl sein, denn nur durch die Gefühle drückt sich das Gespräch zwischen der Gemeinschaft, die jedem einzelnen innewohnt und der Gemeinschaft der Anderen auf harmonische Weise aus.

Die Betonung liegt dabei weniger auf der einzelnen Person oder dem einzelnen Wesen, sondern vielmehr auf die im Einklang stehende Beziehung, die ein Mensch mit einem anderen herstellt, um gemeinsam etwas Konkretes und Sichtbares zu bewirken. „Gemeinsam“ bezieht sich dabei nicht nur auf die menschlichen Beziehungen, sondern darauf, Dinge in Gemeinschaft mit den Göttern und der Natur in einem für alle Beteiligten angenehmen Austausch zu bewerkstelligen. Auf diese Weise erhält das gemeinschaftliche Tun die Form einer Zeremonie mit rituellen Momenten außerordentlicher Intensität, in welchen Menschen, Götter und Natur miteinander sprechen. Viele Tätigkeiten, wie zum Beispiel die Bestellung des Ackers, finden nach einer Zeremonie statt.

Die Beziehung zwischen den einzelnen Wesen der Gemeinschaft drückt sich im gegenseitigen Aufziehen aus. Das Aufziehen ist das Bindeglied, das die einzelnen Wesen der Gemeinschaft miteinander verknüpft. Aufziehen heißt in der Quechuasprache uyway, und das, was aufgezogen wird, ist uywa. Aufziehen bedeutet pflegen, kultivieren, beschützen, beherbergen, helfen, unterstützen, nähren, stillen, stützen, erhalten, lieb gewinnen, Liebe geben, sprechen, singen, in den Schlaf wiegen.

Aufziehen ist keine Aktion, die von einem aktiven Subjekt an einem passiven Subjekt ausgeübt wird, und es wird auch nicht als hierarchische Beziehung erlebt. Es handelt sich vielmehr um ein liebevolles und auf Gegenseitigkeit beruhendes Gespräch zwischen Ebenbürtigen. Oft hört man Bäuerinnen aus den Anden sagen: „Ebenso, wie ich diese Kartoffel aufziehe, zieht sie mich auf.“ Die Kartoffel wird nicht nur aufgezogen, sie wird auch zur Aufzieherin der Menschen. Auf diese Art löst sich die in der modernen Kultur so sehr verwurzelte hierarchische Beziehung, wo die Natur im Dienste des Menschen steht, auf. Da alle am Aufziehen beteiligt sind, wird das Aufziehen zu einem gegenseitigen Dienst und Gespräch. Wenn ich also aufziehe, werde ich gleichzeitig auch aufgezogen.

Jede einzelne dieser Beziehungen ist ein Zusammentreffen von einander aufziehenden Wesen, um das Leben in der Welt zu erneuern. Dies setzt von beiden Seiten ein liebevolles Zusammenklingen voraus, eine Empathie, durch welche das Leben strömen und sich entwickeln kann. Die Harmonie, die entsteht, wenn ein Maisfeld blüht, drückt das vollkommene Zusammenspiel im gegenseitigen Aufziehen zwischen Menschen, Paschamama (Mutter Erde) und dem Wasser aus. Die Harmonie entspringt der jeweiligen Begebenheit, aus der Fähigkeit der Beteiligten, mit den von anderen Wesen der Gemeinschaft ausgesandten Zeichen sprechen zu können. Eine Empathie mit den Zeichen wird in dem Maße erzielt, in dem man fähig ist, mit ihnen zu sprechen, sodass das so hergestellte Zusammentreffen die Vielfalt an Wesen, die die Natur bevölkern, vergrößert und erneuert.

Da die andine Welt nicht aus Objekten, sondern aus miteinander sprechenden, aufgezogenen und aufziehenden Personen besteht, haben diese kein Interesse daran, den anderen zu kennen, da ihre Welt nicht mit Dingen angefüllt ist, die es kennenzulernen und zu verändern gilt. Man bemüht sich vor allem, miteinander im Gleichklang zu schwingen, zu genießen, die sprechenden Zeichen der anderen zärtlich zu empfangen, denn das gegenseitige Aufziehen fließt in dem Maße, wie das Gespräch keimt. Hier endet das Gespräch nicht mit einer Aktion, die auf einen anderen ausgeübt wird, um ihn zu verändern, das Aufziehen beruht auf Gegenseitigkeit. Daher ist das Gespräch in den Anden ein keimendes, Leben spendendes Gespräch, ein Dialog, der dem Leben dient und nicht der Wahrheitsfindung.

Wie alles im Leben will jedoch auch das Aufziehen gelernt sein. Man lernt im Gespräch mit anderen, beim Zuhören. Nur wer zuhört – sich in den anderen hineinversetzt -, wer fähig ist, einen Gleichklang herzustellen, wer sich aufziehen lässt, wer seine Unvollkommenheit offen zeigt, lernt. In einer vielfältigen und sich ständig verändernden Welt beschränkt sich das Lernen immer nur auf eine bestimmte Begebenheit, und das Wissen um das Aufziehen gilt dann nur für diese Begebenheit. Man lernt ernten während der Ernte, und zwar nur für diese eine, ganz bestimmte Ernte. Wenn der Mond anzeigt, dass es Zeit für die Saat ist, dann muss gesät werden. Man kann nicht zu jeder Zeit einen Acker neu bestellen, man muss es tun, wenn die Erde dies verlangt. Jedes Ding zu seiner Zeit, und die jeweilige Tätigkeit muss mit Freude verrichtet werden. Die Musik und der Gesang sollen die Natur begleiten, nicht sie stören. Saatlieder müssen während der Saat gespielt und getanzt werden, und nicht bei der Ernte.

Der Ort des Aufziehens ist die chacra, der Acker. Die übliche Definition von Acker bezieht sich auf einen Raum, auf dem angepflanzt wird, einen für die Aufzucht von Pflanzen und Tieren bestimmten Ort. Die Aymaras im Süden Perus nennen das Lama kayuni yapu, das bedeutet Acker mit Beinen. Acker bezieht sich also nicht nur auf den Ort, sondern auch auf das Tier selbst. Eine Salz- oder Goldmine, zum Beispiel, wird auch Salz- bzw. Goldacker genannt. Auch ein Wäldchen kann ein Acker sein. Die wilde Kartoffel heißt auf Quechua atoq papa, die vom Fuchs gezüchtete Kartoffel. Verschiedene wilde Kornarten sind der Anbau der Vögel. Vicuñas wiederum, eine wild lebende Kamelart der Anden, werden als Zucht oder Acker der Berg-Gottheiten betrachtet. So haben in den Anden nicht nur die Menschen einen Acker, sondern auch die Natur und die Götter. In der Kosmovision der Anden sind alle, die diese Welt bewohnen, Ackerbauern. So ist der Acker ein Konzept, das sich auf den Ort bezieht, wo man aufzieht und aufgezogen wird.

Ein Bauer kümmert sich nicht nur um seinen eigenen Acker, das heißt, den Acker des Menschen, sondern auch um das Aufziehen des Ackers der anderen Wesen in der Natur und der Götter. Ein Acker ist in dem Maße gesund, in dem auch alle anderen Äcker gesund sind. Auf diese Weise hängt die Gesundheit der menschlichen Gemeinschaft mit der Gesundheit ihrer Äcker und der gesamten Natur eng zusammen. Die rituellen Zeremonien finden im Gespräch zugunsten des Wohlergehens der ganzen Gemeinschaft statt, denn von der Harmonie jedes Einzelnen hängt die Harmonie der Gemeinschaft ab. Das gegenseitige Aufziehen kann ein Beitrag zu einer anderen Pädagogik sein, wenn die erzieherische Handlung in der liebevollen und aufmerksamen Begleitung einer besonderen Art, sich mit der Welt zu verbinden, mündet, bei welcher der Akzent nicht bei den Wesen an sich liegt - Menschen und Natur -, sondern in der Beziehung, die zwischen beiden im Aufziehen und Aufgezogenwerden besteht, und darauf, dass der Lehrer oder Begleiter Teil dieser gegenseitigen Pflege ist.

I. Das Aufziehen der Schule und die Pädagogik der Vielfalt

Trotz der Unannehmlichkeiten, die für einen Bauern die Dynamik der Bewusstseinbildung mit sich bringen kann, lehnt er die Möglichkeit, lesen und schreiben zu lernen und die vier Grundrechnungsarten zu beherrschen nicht ab. Inzwischen gehört die Schule längst zum bäuerlichen Landschaftsbild. Es gibt keine Bauerngemeinschaft, wo es nicht auch eine Schule gäbe. Im Folgenden soll versucht werden, die Beziehung zwischen Bauerngemeinschaft und Schule zu ergründen.

Es ist bekannt, dass die Einführung der Schule in den Anden das Aufzwingen einer auf der wissenschaftlichen und technischen Kenntnis basierenden Weltanschauung zum Ziel hatte. Die Schule ist nicht da, um den Dialog zwischen verschiedenen Kenntnissen oder die Weisheit der eingeborenen Bevölkerung zu fördern. Die Bauerngemeinschaft weiß das und betrachtet die Schule als Brücke, um unter besseren Bedingungen mit der modernen, offiziellen Welt in Kontakt treten zu können. Aus diesem Grund hat die Bauerngemeinschaft fast nie Reformen gefordert, die auf eine Pluralität der Wissensarten in der Schule hinzielen.

Die Bauerngemeinschaft erwartet von der Schule die Vermittlung der modernen Wissenschaft und Technologie, egal mit welcher Methode, und die Erfüllung der erzieherischen Aufgabe. Die Erfahrung hat ihnen außerdem gezeigt, dass es möglich ist, dies zu lernen. Viele Kinder von Bauern haben heute einen akademischen Berufsabschluss. Ihre Klage gilt dem geringen Respekt, den junge Menschen ihnen entgegenbringen und dem fehlenden Interesse mancher Lehrer an ihrer erzieherischen Aufgabe, aber nicht dem Inhalt selbst oder der Methode; manche fordern sogar strengere Erziehungsmethoden.

Trotz der Kritik, die viele Intellektuelle an den Inhalten, den Methoden, den philosophischen Strömungen üben, wurde von der Bauerngemeinschaft bisher keine Curricularreform gefordert. Diese Forderung kam bisher fast immer von außen, von den Erziehungsreformern. Es ist bekannt, dass die Schule das lokale Wissen unterhöhlt, es für nicht gültig erklärt, und auf diese Weise die kulturelle Homogenisierung vorantreibt. Es gibt tief greifende Diagnosen über die Schule und ihre Rolle als Reproduktionsmittel eines ungleichen, ungerechten und entfremdenden Systems, aber nichts von all diesen Feststellungen hat die Einstellung der Bauerngemeinschaften hinsichtlich ihrer Forderung nach mehr Bildung verändern können. In diesem Punkt scheinen die Absichten der UNESCO und der Bauerngemeinschaften übereinzustimmen, beide fordern: Bildung für alle.

Für die aufziehenden Gemeinschaften gibt es nämlich keine Trennung zwischen dem, was aufgezogen wird und dem, was nicht aufgezogen wird. In ihrer Weltanschauung wird alles aufgezogen und alle ziehen auf. In diesem Sinne und obgleich die Schule ihren Ursprung in einer Kultur hat, der das Aufziehen fremd ist, bedeutet das für den runa, den Andenbewohner, noch längst nicht, dass die Schule nicht aufgezogen werden kann, und tatsächlich wird sie in vielen Dörfern auf diese Weise erlebt.

Die Schule aufzuziehen heißt nicht nur, Schulräume zu bauen und den Lehrern eine Wohnung zur Verfügung zu stellen. Die Schule aufzuziehen bedeutet auch,sie für die Tätigkeiten der Bauerngemeinschaft empfänglich zu machen, sie am Lebenszyklus teilhaben zu lassen, eine Bäuerin aus ihr zu machen und sie, soweit dies möglich ist, in die Verpflichtungen für die Bauernfeste einzubinden.

Diese Aktivitäten müssen als eine Art der Aufzucht und Pflege der Vielfalt betrachtet werden. Aufziehen bedeutet nicht, eine der traditionellen Erkenntnisweisen – in diesem Fall die wissenschaftlich-technische – zu vergessen, auszuschließen oder zu verneinen, um sie durch das lokale Wissen als das einzig gültige zu ersetzen; sondern es geht vielmehr darum, in der Gemeinschaft ein plurikulturelles Umfeld aufzuziehen. Und in diesem Sinne wird versucht, die Schule umfassender, flexibler und offener für das Heterogene und die Vielfalt zu machen. Die Bauerngemeinschaft versucht dies, indem sie den Lehrern die Liebe zur Diversität der Lebensformen auf dem Acker zeigt und anregt. Indem sie der Schule die Möglichkeit bietet, Verpflichtungen bei den Festlichkeiten zu übernehmen, fördert die Bauerngemeinschaft außerdem eine festliche Art und Weise, das Leben zu leben. Die Bauerngemeinschaft ist, zumindest auf kurze Sicht, nicht daran interessiert, die Schule zu verändern, sondern sie will sie für das Aufziehen empfänglich machen.

Solange ein Mensch die Welt nicht in aufziehende Wesen und nicht aufziehende Wesen unterteilt, sondern seine Welt als einen bäuerlichen Raum erlebt, kommt in seiner Weltanschauung kein Widerspruch auf. Der Unterschied zwischen seiner Art, sein Wissen auszudrücken und wie die Schule dies tut, führt nicht zu Gegensätzen und Ausschluss, im Gegenteil, das Spektrum der Wissensvielfalt wird erweitert. Die Gegenüberstellung, wie die Schule sie pflegt, führt nicht nur zum Vergleich, sondern auch dazu, einen der Pole der Gegenüberstellung als Modell im Gegensatz zum anderen darzustellen, und dies wird als Widerspruch und nicht als Ergänzung erlebt. Der moderne Mathematikunterricht in der Schule zwingt zur Verneinung der andinen Tradition, die als abergläubisch eingestuft wird.

Auf diese Weise entsteht das Paradigma, der Archetypus, der Bezugspunkt, an welchem alles andere verglichen und abgegrenzt und in Ähnliches und nicht Ähnliches unterteilt wird. Alles nicht Ähnliche wird zum Objekt, für welches es zwei Möglichkeiten gibt: Es wird assimiliert und kolonisiert, oder es wird zerstört. Die Geschichte hat bewiesen, dass beide Wege zu einer aufgezwungenen Homogenität führen, die im Dienste einer Macht steht, deren sukzessive Reproduktion nur in dem Maße möglich ist, in dem die Diversität ausgeschaltet wird.

Die Diversität hingegen verlangt Konsens, Dialog, Aufziehen, Gleichwertigkeit, Verdauen, Symbiose, Einbeziehung. Die runa sind daran gewöhnt, mit den vielfältigen Situationen zu kommunizieren und die Diversität zu erweitern, nicht sie zu beschneiden. Wie schon zuvor gesagt, ist jeder Mensch in sich eine Gemeinschaft. Unserer Ansicht nach erklärt dies den Fortbestand der Kirchen, der Schule und der Berater der „Grünen Revolution“ im Bereich der Bauerngemeinschaften. In einer nicht fundamentalistischen Kultur, einer Kultur, die keinen Alleinvertretungsanspruch erhebt und andere damit diskriminiert, gibt es keine einzig gültige Wahrheit. Unsere amerikanischen Kulturen kannten keine Schreibschrift, daher gibt es keine heiligen Bücher, die unanfechtbare Wahrheiten verkünden. Hier ist alles vorübergehend und Veränderungen unterworfen.

Diese Veränderungen werden jedoch nicht wie ein dialektischer Kampf auf der Basis von Gegensätzen gelebt, sondern als das Sichtbarwerden der verschiedenen Formen, die in jedem Wesen vorhanden sind. Die Konversationen sind jedoch nicht immer harmonisch, sie können mitunter sogar gewaltsam sein. Der Konflikt wird nicht verneint, sondern im Aufziehen verdaut, er wird im Ritual und in der Gemeinschaft zu bestimmten, von der Gemeinschaft vereinbarten Anlässen aufgelöst. Auf diese Weise wird die Verschiedenheit nicht durch die Gegenüberstellung und das Auftauchen von Gegensätzen ausgedrückt. Für die Bauerngemeinschaften ist die Verschiedenheit kein Problem, sondern eine Möglichkeit, die Vielfalt zu kultivieren.

Aus der Perspektive der Bauerngemeinschaften sehen wir die Möglichkeit einer anderen Pädagogik, einer Pädagogik der Vielfalt, in der auch die Natur einen Platz hat. Die Bauern tun dies auf ihre Weise, und diese Weise sollte beibehalten und auch in den Schulräumen verschiedenartiger gestaltet werden.Die Campesinos lehren uns, dass es nicht notwendig ist, eine Wissensart zu beseitigen und herabzusetzen, um eine andere zeigen, kultivieren und lehren zu können. Dafür gibt es keinen natürlichen Grund. In der Schule wurde der Antagonismus, die Gegenüberstellung und die Verneinung der Pflege des Andersseins eingeführt, um stattdessen das Erlernen einer einzigen Art des Begreifens der Beziehung zwischen Menschen und Natur zu fördern.

Von den Bauern können wir auch lernen, dass die Kolonisierung einer Pflanzenart auf dem gesamten Acker zu vermeiden ist. Die Bauern dünnen die dominierende Vegetation aus, damit Vielfalt entstehen kann. Das Ausdünnen hat jedoch keineswegs die Ausrottung der kolonisierenden Pflanze zur Folge, sondern ihre Ausbreitung in tolerierbaren Grenzen und in einer gesunden Stimmigkeit mit den anderen Kulturpflanzen zu halten.

Das Ausdünnen in der Schule macht eine geistige Entkolonisierung der Lehrer notwendig. Diese Aufgabe übernehmen die Bauern, indem sie den Lehrern – auf dem Feld – andere Arten des Wissens zeigen und sie so für den Respekt vor der Natur empfänglich machen. Diese Aktivität muss durch andere Arten der Zusammenarbeit gestärkt und gedüngt werden. Hier sehen wir einen wichtigen Beitrag, den andere Personen zur Aufgabe des Beschneidens und der Entkolonisierung durch die Bauern leisten können. In diesem Fall liegt die Aufgabe im Wissensbereich. Es geht darum, dass die geistige Kolonisierung, die in vielen Akademikern stattgefunden hat, eines Entkolonisierungsprozesses bedarf, der das Verlernen der metaphysischen Prinzipien, auf die sich das rationale Wissen stützt, voraussetzt, sodass die bestehende Diversität zum Vorschein kommen kann.

Der Widerspruch, das Wissen, um sich zu Herren und Besitzern der Natur zu machen, das Experiment, der Kult, der dem Rationalismus und der Wissenschaft gezollt wird, sowie andere, der modernen Schulbildung innewohnende Prinzipien, werden über das Bildungssystem eingeprägt und reproduziert. Um sich von diesen Prinzipien frei zu machen, muss man die Wurzeln dieser Konstruktionen und den Kontext, in welchem sich diese Art des Begreifens des Lebens verinnerlicht hat, kritisch unter die Lupe nehmen. Dies ist eine dringend notwendige Aufgabe in den peruanischen Anden und ein notwendiger Beitrag zur kulturellen Bejahung und Stärkung der Diversität. Nur so kann bei Lehrern und uns allen eine Öffnung zum Verständnis einer vielfältigen und Heterogenität brauchenden Welt ermöglicht werden, wo der im Humanismus so betonte Anthropozentrismus anderen Vorschlägen Platz macht, die das Entstehen einer Pädagogik fördern, die die Vielfalt der Kulturen und der Natur sichert.

PRATEC, Lima, September 2000

http://www.pratec.org.pe

Der abgedruckte Text wurde von terre des hommes Deutschland e.V. zur Verfügung gestellt.