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Am Leben lernen – Bildungsarbeit (nicht nur) mit Müttern am Beispiel einer kirchlich-diakonischen Frauenorganisation
von Gabriele Müller-Rückert
1. Aus der Praxis für die Praxis – Erwachsenenbildung als Kontext und Rahmen für individuelle Orientierung und gesellschaftliches sowie kirchliches Engagement
Das FrauenWerk Stein e.V. in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern arbeitet seit beinahe 70 Jahren für und mit Frauen und Müttern. Im folgenden sollen einige Grundlinien der Bildungsangebote und Bildungskonzepte im institutionellen Kontext dieses als Verein organisierten langjährigen „Frauenprojektes“ dargestellt werden. Paulo Freires Verständnis von Erziehung als ‚Sprung in die Freiheit’ hat viel zu tun mit emanzipatorischer Frauenarbeit, mit emanzipatorischer Familien- und Erwachsenenbildung, mit politischer Lobbyarbeit für Frauen und Familien und mit Gesundheits-, Sozial- und Bildungsprojekten, wie sie im Rahmen der hier vorgestellten Institution wahrgenommen werden. Dabei geht es an dieser Stelle zunächst um die Skizzierung von zentralen Aspekten. Eine vertiefte Erforschung erscheint aber durchaus lohnenswert.
Erst vor kurzem hat sich das FrauenWerk Stein diesen neuen Namen gegeben und sich verabschiedet vom Namen „Bayerischer Mütterdienst“. Damit ist auch programmatisch und nach außen hin sichtbar vollzogen, was inhaltlich seit den 70er Jahren verankert ist, nämlich die Einbettung der Arbeit für Mütter, die ja nach wie vor einen großen Umfang und erheblichen politischen Stellenwert hat, in die Frauenbildungs- und Frauenprojektarbeit einerseits und in die kirchlich-diakonische Bildungs- und Sozialarbeit für Frauen und Mütter, aber auch für Männer und Kinder andererseits. Entsprechend versammeln sich unter der Trägerschaft des FrauenWerks Stein Arbeitsbereiche mit unterschiedlichen Zielgruppen:
- Frauen in Kirche und Gesellschaft in der Fachstelle für Frauenarbeit in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern,
- kranke und belastete Mütter mit und ohne Kinder im Bereich der Vorsorge und Rehabilitation in Müttergenesungskuren und Mutter-Kind-Kuren des Deutschen Müttergenesungswerkes/Elly Heuss-Knapp
- haupt- und ehrenamtlich Tätige im Bildungs- und Sozialwesen und in der Seelsorge im Rahmen der Steiner Fortbildungsprogramme und
- Frauen, Männer und Kinder in den beiden Familienbildungsstätten des Werkes in München und Nürnberg.
Wie diese Arbeitsbereiche sich aus den Anfängen der Mütterarbeit mit Bildungsangeboten („Mütterkreisen“), sozialen Diensten (Müttergenesungskuren, Familienpflegedienste, Arbeit mit Flüchtlingsfrauen und -familien) und theologisch-pädagogischer Ausbildung (Gemeindehelferinnen-Seminar) heraus entwickelt haben, schildert anschaulich und materialreich die Forschungsarbeit von Dr. Beate Hofmann: „Gute Mütter – starke Frauen. Geschichte und Arbeitsweise des Bayerischen Mütterdienstes“ (Stuttgart 2000). An dieser Stelle ist der Hinweis angebracht, dass es Frauenprojekten in der Kirche und in kirchlichen wie nicht-kirchlichen Wohlfahrtsverbänden in spezifischen Aspekten nicht anders geht wie Frauenprojekten in freier Trägerschaft: Chronischer Geldmangel, Existenzsorgen/existentielle Unsicherheit, schwierige Selbstfindungsprozesse im Hinblick auf die interne Aufbau- und Ablauforganisation, zu geringe öffentliche Wahrnehmung. Dies alles beeinflusst nachhaltig die Arbeit und das Selbstverständnis. Diese und sicher weitere Gesichtspunkte verdienen mehr praktisch-politische wie theoretische Beachtung.
Emanzipatorische Frauen- und Mütterarbeit der Kirche und der kirchlichen Wohlfahrtsverbände hat sich selbst immer als Teil der Neuen Frauenbewegung verstanden. Umgekehrt werden diese inhaltlichen, strukturellen und politischen Anknüpfungspunkte im Kontext der Neuen Frauenbewegung selbst wenig wahrgenommen. Kirchliche und diakonische Frauenprojekte in der Bildungs-, Gesundheits- und Sozialen Arbeit galten lange Zeit als politisch eher konservativ und „angepasst“ – ganz im Gegensatz zur Binnenwahrnehmung vieler dort tätiger Frauen und Männer. Diese Binnenwahrnehmung speist sich aus den Erfahrungen und Ergebnissen der zielgruppenbezogenen Arbeit: Frauen und auch Männer und Kinder erleben und erfahren einen Zuwachs an persönlicher und/oder fachlicher Kompetenz, an Handlungsspielräumen, an Solidarität und an Mut und Selbstvertrauen, um sich – um in der Kirchensprache zu bleiben – für ein Mehr an Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung einzusetzen.
Die Notwendigkeit, lebenslagenspezifische Konzepte zu entwickeln, Lernen als lebenslangen Prozess zu verstehen, Ganzheitlichkeit und Handlungsorientierung einzubeziehen, kennzeichnet die Pädagogik Paulo Freires bis heute, ebenso das Verständnis des selbstaufklärerischen Bezugs jeder subjektorientierten Erwachsenenbildung. Wie sich diese Aspekte neben anderen in der konkreten Arbeit des FrauenWerks Stein darstellen, möchte ich nun entlang der verschiedenen Arbeitsbereiche veranschaulichen.
2. Eigenständigkeit und Verantwortung - Bildungsangebote und Bildungskonzepte in der kirchlichen Frauenarbeit
Die Fachstelle für Frauenarbeit der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern hat über eine vertragliche Regelung mit der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern den Auftrag, die Koordination der Frauenarbeit in den Dekanaten zu gestalten und inhaltlich gemeinde- und gesellschaftsbezogene und ökumenische Frauenarbeit auf allen Ebenen zu fördern. Mit anderen verbandlichen Frauenorganisationen wie dem Deutschen Evangelischen Frauenbund, mit berufsständischen Verbindungen wie z.B. dem Theologinnenkonvent, den Diakoninnen, den Erzieherinnen und mit Arbeitsbereichen der Frauenarbeit in kirchlichen Diensten und Einrichtungen wie beispielsweise dem (kirchlichen) Amt für Jugendarbeit und dem Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt bildet die Fachstelle für Frauenarbeit im FrauenWerk Stein den Zusammenschluss der Evangelischen Frauenarbeit in Bayern (EFB). Sie ist Mitglied im Dachverband der Evangelischen Frauenarbeit in Deutschland (EFD) und über diesen wiederum Mitglied im Deutschen Frauenrat.
In der Grundlegung der Arbeit und in den Zielen wird herausgearbeitet, dass lebenslagenspezifische Ansätze eine wichtige Rolle spielen und ganzheitliches, lebenslanges Lernen im Mittelpunkt steht. Frauenarbeit in diesem Sinn „eröffnet Frauen Erlebnis- und Sprachräume, in denen Leben und Glauben im weiblichen Lebenszusammenhang erfahren und feministisch reflektiert werden kann. (...) Frauen werden unterstützt, ihre Gaben und Fähigkeiten zu entdecken und wertzuschätzen. Sie werden bestärkt und qualifiziert, damit sie
- für sich selbst und ihre Lebensplanung Verantwortung übernehmen,
- Ergebnisse aus der feministischen Theologie aufnehmen und eigene Formen weiblicher Spiritualität entwickeln und leben,
- selbständig mit biblischen Texten leben und arbeiten,
- ihren Anteil an Gemeinschaft in Kirche und Gesellschaft wahrnehmen,
- im Wissen um die Eine Welt ökonomisch und interkulturell denken und handeln lernen,
- Strukturen in Kirche und Gesellschaft aktiv politisch mitgestalten und Leitungsfunktionen übernehmen,
- in den verschiedenen Arbeitsbereichen der Kirche frauenspezifische Probleme wahrnehmen und vertreten,
- gesellschaftspolitische Themen und Probleme vom christlichen Glauben her hinterfragen und an deren Veränderung arbeiten.“ (Jehle 1996)
2.1 Inhaltliche Herausforderungen der Modernisierung
Dabei ist diese lebenslagenspezifische Orientierung zu einer inhaltlichen Herausforderung geworden, denn die Multiplikatorinnen wie die Adressatinnen der Frauenarbeit haben die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse, die sie politisch fordern und fördern ja auch in den eigenen Lebensläufen und Lebenskonzepten miterlebt und „miterlitten“. Die Verankerung der Berufstätigkeit in der Biografie der Frauen, auch über ihre Phase verstärkter Tätigkeit in der Familie zur Versorgung und Betreuung von Kindern hinweg, führt neben anderen Faktoren dazu, dass eher das projektorientierte und in bestimmten Zeiten auch das kinderbezogene Engagement (s.u. Mutter-Kind-Arbeit in den Familien-Bildungsstätten) gesucht wird.
Viele Frauen in den Generationen vorher haben die Bildungs- und Projektarbeit im kirchlichen und sozialen Raum sehr intensiv für öffentliches und politisches Engagement genutzt: Die Aktion „Kauft keine Früchte der Apartheid“, friedenspolitische Aktivitäten, politische wie praktische Arbeit für MigrantInnen und auch die Arbeit für ökumenische und Eine-Welt-Projekte (Weltgebetstag für Frauen bzw. die Bewegung der Eine-Welt-Läden) wären ohne diese Frauen nicht so geworden wie sie heute sind. Dass die Töchter dieser Frauengeneration jetzt unter anderen zeitlichen Rahmenbedingen in Beruf und Familie stehen, ist nun eine neue Herausforderung. Wie gestaltet sich ehrenamtliches, bürgerschaftliches Engagement für Frauen neu bzw. anders, wenn sie Berufstätigkeit und Familien verbinden? Werden Bildungsangebote weniger für allgemeine politische und gesellschaftliche Themen gesucht, sondern verstärkt für die berufliche Kompetenzerweiterung benötigt? Wie erleben Frauen ihr verstärktes Engagement in ehrenamtlichen Leitungsfunktionen?
2.2 Praxiserfahrungen
Deutlich ist bereits jetzt, dass die Angebote für spezielle Projekte (Frauenfrühstücke, Weltgebetstagsarbeit, Leitungsaufgaben im Kirchenvorstand und im Beruf) große Nachfrage erfahren. Dass aber gleichzeitig auch gesellschaftliche Großprojekte wie die Globalisierung (Arbeit in Arbeitskreisen Weltwirtschaft, Kampagne Schuldenerlass 2000), friedenspolitisches Engagement z.B. im Nahen Osten oder im interreligiösen Dialog mit Musliminnen) oder die ethische Orientierung beim Umgang mit der modernen Fortpflanzungsmedizin (vgl. nur als ein Beispiel die von der Evangelischen Frauenarbeit in Deutschland und vom FrauenWerk Stein herausgegebene Arbeitshilfe: Von der Würde und der Verantwortung von Frauen. Arbeitshilfe zur Gen- und Reproduktionstechnik. Aliochin/Wegener Frankfurt und Stein 2002) weiterhin nicht an Aktualität und Attraktivität verloren haben
Was Frauen häufig belastet und einschränkt ist das zeitliche Arrangement: Im Beruf immer (noch) mit der Aufholjagd beschäftigt, in der Familie nicht selten allein gelassen, möchten sie trotzdem noch den Kopf frei haben und Energien wieder regenerieren durch außerberufliches Engagement - sei es mehr im theologisch-spirituellen Bereich oder im gesellschaftlich-politischen Bereich. Wobei gerade aus der Verbindung von Glauben und Leben für viele Frauen die nachdrückliche Orientierung an Engagement über den eigenen beruflichen, familiären und gesellschaftlichen Horizont hinaus entsteht.
TeilnehmerInnenorientierung ist im Bereich der Frauenarbeit (wie wohl in allen Erwachsenenbildungsbereichen) nicht nur ein wählbarer Aspekt der Arbeit, sondern einer der konstitutionellen Faktoren für die Arbeit überhaupt – aus dem einfachen Grund, weil sonst die Teilnehmerinnen ausblieben. Inhaltlich heißt das, dass die konzeptionelle Ausrichtung der Angebote vielfältige Faktoren mitberücksichtigen muss: „Erweiterung des frauenspezifischen Bildungsangebotes, stärkere Berufsorientierung, stärkere Ausrichtung an den Bedürfnissen der Kinder, verändertes Bindungsverhalten, Zunahme kirchlicher Distanziertheit, Übernahme öffentlicher Verantwortung in Ehrenämtern“ (Jehle 1996). So haben sich in den letzten 15 Jahren nicht nur viele Themen, sondern besonders auch Angebotsformen verändert: Kürzere Veranstaltungen in zentralen Tagungshäusern, wohnortnahe Angebote z.B. im Rahmen der kirchlichen Erwachsenenbildungswerke, zeitlich überschaubare Mitwirkung bei Projekten.
2.3 Ganzheitlicher Bezug
Geblieben ist die ganzheitliche Orientierung: Thema und Gestaltung, Ablauf und Atmosphäre brauchen Bezogenheit aufeinander und in sich stimmige Verbindung als Aktivierung aller Ebenen von Körper, Geist und Seele. Dazu trägt beim FrauenWerk Stein auch das eigene Tagungs- und Gästehaus bei, das in einer persönlichen Atmosphäre und mit Oasencharakter durch Garten und Lage im Grünen als wesentliches Lernumfeld die thematische und methodische Konzeption fördert. Da dieses Tagungs- und Gästehaus auch anderen Gruppen seine besondere Atmosphäre für Bildungs- und Tagungsveranstaltungen anbietet, ergeben sich wiederum Verbindungen nach innen und nach außen, die zum politischen Anliegen der Gründerinnen ebenso zählen (Nopitsch 1995; Leitz, Hrsg., 1992) wie der Gegenwart (vgl. Leitbild des FrauenWerks: Frauen stärken, Beziehungen gestalten, Horizonte weiten).
Und ein weiterer konzeptioneller Aspekt war für die kirchliche Frauenarbeit in der Prägung der „Steinerinnen“ (auch der männlichen übrigens .....) über alle Generationen zentral: „Am Leben lernen“ So betitelte Liselotte Nold ihr „Handbuch für die Frauenarbeit“ (Nürnberg 1959) und diese zentrale Orientierung hat sich als inhaltlich und methodisch tragfähiges Konzept erhalten.
Die theologischen und spirituellen Angebote weisen ebenfalls diesen lebensbezogenen Kontext auf: Wenn wir Gott als Freundin des Lebens verstehen, werden wir die Lebenswelt und die Erfahrungshorizonte von Frauen besonders in den Mittelpunkt stellen und „Mütterlichkeit“ auch im Sinne der Fürsorge nicht nur des privaten, sondern auch des gesellschaftlichen Lebens begreifen. Die ersten Bibelkurse, welche die Lebenswelt und die Fragen von Frauen in den Mittelpunkt stellten, hatten emanzipatorische Wirkung in einer Weise wie sie von den Initiatorinnen selbst vielleicht gar nicht wahrgenommen bzw. intendiert waren (Weigle 1979). Hier zeigen sich deutliche Verbindungen zur Tradition der Befreiungstheologie und zur feministischen Theologie, die aber erst in den 70er Jahren auch als solche gekennzeichnet und diskutiert wurden.
Frauenarbeit im hier vorgestellten Kontext ist also wahrnehmbar als Frauenbildungsarbeit ebenso wie als Frauenprojektarbeit. Im Selbstverständnis der Fachstelle für Frauenarbeit ist dies folgendermaßen festgehalten:
„Evangelische Frauenarbeit
- geht von der gegenwärtigen kirchlichen und gesellschaftlichen Situation der Frauen aus. Sie erreicht Frauen in ihren verschiedenen Lebensphasen, Lebenssituationen, Lebensformen, Lebenswelten. Sie ermutigt Frauen zu selbstbestimmtem Denken und Handeln,
- schafft und bewahrt Räume, in denen die Befreiungsbotschaft der Bibel in die politischen, persönlichen, praktischen und spirituellen Lebensbezüge von Frauen vermittelt und frauengemäße Theologie, Spiritualität und Liturgie entwickelt werden können,
- in denen die Erkenntnisse aus feministischer Theologie und Ethik genutzt und an Frauen und Männer weitervermittelt werden können,
- in denen Frauen die eigenen Lebenszusammenhänge bedenken und eigene Standorte finden können,
- ist vom Grundsatz her ökumenisch und interkulturell. Sie ist eingebunden in die weltweite Gemeinschaft von Frauen, weitet den Blick auf die Welt, entwickelt globales Denken und ermutigt zu lokalem Handeln,
- ist inhaltlich und in ihren Auswirkungen politische Arbeit. Sie ist Lobbyarbeit und bietet die Möglichkeit zu Vernetzung, Kooperation und Austausch.“ (Jehle 2002)
3. Beziehungen gestalten - Bildungsangebote und -konzepte in der Fortbildungs- und Familienbildungsarbeit
Mütterschulen und theologisch-pädagogische Ausbildung für Frauen entwickelten sich entsprechend der Leitlinien „Am Leben lernen und Horizonte weiten“ und führten zu differenzierten Angeboten für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren in der Familienbildungsarbeit und im weiteren Sinn für haupt- oder ehrenamtlich mit Gruppen und Teams im institutionellen Kontext arbeitende Frauen und Männer. Der inhaltliche Focus führte zu theoretischen und methodischen Orientierungen an gruppendynamischen und psychosozialen Konzepten, die erweitert und ergänzt werden um neuere Erkenntnisse und Ansätze der Organisationsentwicklung.
Der Name ist Programm – die „Steiner Fortbildungsprogramme für Familien-, Gruppen- und Organisationsdynamik“ bieten Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus dem gesamten Bundesgebiet und gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Kurse und Veranstaltungen, die Persönlichkeitsbildung mit fachlicher Weiterbildung eng verzahnen. Auch hier hat das Prinzip der Ganzheitlichkeit seinen spezifischen Stellenwert als Verbindung von Zielen, Methoden und Modell-Lernen entlang des aktuellen Kursverlaufs. Nachhaltige Lernprozesse zeigen sich dann, wenn mit der Vermittlung von „äußerem“ Wissen das „innere“ Wissen wächst als Verbindung von Neuem und bisher Erlebtem und Gewusstem und als neue Reflexionsebene auf biografische und institutionelle Erfahrungen und Orientierungen. Die Verortung in geschlechter- und generationenbezogenen Kontexten und deren reflexive und handlungsorientierte Bearbeitung gibt ein weiteres konstitutives Prinzip dieses Fortbildungskonzeptes wieder.
3.1 Prozessorientierung als Ansatz und Methode der Fortbildungsarbeit
Aus der praktischen Erfahrung und aus der pädagogischen Forschung ergeben sich viele Anhaltspunkte dafür, dass nachhaltiges Lernen dann besonders gefördert wird, wenn neben der Themen- und Wissensebene auch der Lernprozess selber als offener und dialogischer gestaltet ist. Wenn der Input der SeminarleiterInnen und TrainerInnen nicht allein das Bildungsgeschehen bestimmt, sondern wenn TeilnehmerInnen und Leitende sich auf einen gemeinsamen Lernweg machen und dieser Prozess in seiner Offenheit (im Gegensatz zur Beliebigkeit) das aufnimmt und mit bearbeitet, was von den Teilnehmenden selbst eingebracht werden kann. Der zunehmende Finanzdruck in der beruflichen aber auch in der ehrenamtlichen Arbeit führt tendenziell zur verstärkten Nachfrage nach „reiner“ Wissensvermittlung und nach kurzer Seminardauer. Dazu kommt nicht selten eine inhaltliche Verdichtung der Arbeit und die Wahrnehmung, dass die Anforderungen und Herausforderungen im beruflichen wie ehrenamtlichen Bereich kaum Zwischenphasen der Reflexion und des Heraustretens erlauben.
Auch aus diesen Entwicklungen der Arbeitswelt und der ehrenamtlichen Tätigkeit ergeben sich nachhaltige Konsequenzen für die Erwachsenenbildungsarbeit: „Worum geht es im ‚Kern’? Um Bestätigung? Um Verunsicherung? Sind die Menschen, die an Bildungsveranstaltungen teilnehmen oder als Mitarbeitende in der Erwachsenenbildung zu Fortbildungskursen kommen, nicht schon verunsichert genug? Fragen sie nicht eher nach dem, was denn nun ‚richtig’ ist? Wozu sie noch weiter verunsichern? Andererseits: Vielleicht geht es weniger darum, den vielen Verunsicherungen noch weitere hinzuzufügen, als darum, zu lernen, Unsicherheit und Verunsicherungen auszuhalten und mit ihnen zuleben, statt sich in vermeintliche Sicherheiten zu flüchten“ (Hauck 2002).
Es ist also nicht selten, dass TeilnehmerInnen-Orientierung und Fachlichkeit aneinander geraten und sich erst dann konstruktive Lösungen ergeben, wenn sich alle Beteiligten (Lernende und Lehrende) auf dieses Spannungsfeld einlassen, sich unter integrativen Gesichtspunkten diesen herausfordernden Ansprüchen an die eigene Person und an die eigene Fachlichkeit stellen. Damit sind ebenfalls hohe Ansprüche an die kommunikative, soziale, emotionale und spirituelle Kompetenz der Anbieterinnen und Anbieter angesprochen, die Respekt und Vertrauen im Gegenüber zu wecken und zu halten, erfordern. Nur eine Erwachsenenbildung, die in ihrer Fachlichkeit und Ausrichtung auch gleichzeitig „achtsam und engagiert, spielerisch und leicht“ (Pisarski 2002) den gemeinsamen Lernprozess zu gestalten vermag, behält die Substanz, ohne die ein Überleben in einem immer größeren und unübersichtlicheren Fortbildungsmarkt nicht vorstellbar ist.
3.2 Familienbildung als Erfahrungs- und Übungsraum für Kompetenzentwicklung
In den Familien-Bildungsstätten haben es die hauptamtlich Mitarbeitenden sowohl mit nebenamtlich tätigen Kursleiterinnen und Kursleitern als Mulitplikatoren als auch mit den teilnehmenden Frauen, Männern und Kindern zu tun. „Lernen Familie zu leben“ ist als Motto dieses Bereichs der Erwachsenenbildung leicht verständlich. Und doch verbirgt sich hinter diesem Bezug auf die Lebenswelt Familie mehr als nur das, was thematisch die Kursprogramme bestimmt: Vorbereitung auf das Leben mit Kindern, auf Erziehungs- und Lebensthemen in den Familien, auf kulturelle und freizeitbezogene Angebote und die in der evangelischen Erwachsenenbildung in Bayern sehr ausgeprägte Arbeit mit Mutter-Kind- bzw. Eltern-Kind-Gruppen (Konzept der Eltern-Kind-Arbeit 2002).
Kursprogramme und Kurangebote nehmen jenseits ihrer thematischen Überschrift auf, dass gelingendes Leben im Kontext naher Beziehungen von Frauen und Männern, von Eltern und Kindern nicht konfliktfrei ist, obwohl Familiengründung und Familienleben unter den großen Erwartungen der heilen Welt und der Gegenwelt zur Berufs- und Arbeitswelt stehen. Sie nehmen auf, dass noch so berechtigte Wünsche auf gelingende Beziehungen immer auch kritische Momente in sich bergen, sich zu Krisen auswachsen und an widersprüchlichen oder überfordernden persönlichen wie gesellschaftlichen Erwartungen und Anforderungen auch leiden bzw. scheitern können. Dass dabei Miteinander und Füreinander nicht nur Leerformeln abgeben, sondern inhaltlich konstruktive Auseinandersetzungen und ausgewogene Kompromisse befördern können, gehört zu den inneren, will heißen abstrakteren und ideellen Lernzielen und Grundprinzipien der Familienbildungsarbeit.
Dabei stellt sich die Arbeit in den Familien-Bildungsstätten den regionalen und zeitbezogenen Anforderungen ihres unmittelbaren sozialen Umfeldes. In der Evangelischen Familien-Bildungsstätte in München etwa hat die Arbeit mit Vätern und Kindern und in Männergruppen einen besonderen thematischen Schwerpunkt insbesondere in den Freizeitangeboten für Väter und Kinder. Klar ist, dass die sog. Mittelschichtsorientierung der Familienbildungsarbeit weiterhin notwendig macht, besonderes Augenmerk auf sog. niedrigschwellige Angebote und konkrete Lebenshilfe zu richten. In der Evangelischen Familien-Bildungsstätte in Nürnberg wurde als Kooperationsprojekt und mit kommunaler Unterstützung und Schwerpunktsetzung ein Programm zur Förderung der Erziehungskompetenz (Ökumenisches Projekt zur Förderung von Kommunikation und Beziehung Nürnberg 2001-2002 ) entwickelt und erfolgreich umgesetzt. In dieser Einrichtung hat die Arbeit mit türkischen Frauen und ihren Kindern eine lange Tradition, anknüpfend an den Standort in einem Stadtviertel mit vielen ausländischen Familien. Diese an der Lebenswelt orientierten Angebote im Bereich Geburtsvorbereitung und Familienberatung sind entstanden aus dem sozialen Engagement der Kommune für stadtteilbezogene Familienförderung, die besonders auf türkische Migrantinnen und ihre Familien zugeht.
Im Bereich der Arbeit der Familien-Bildungsstätten in beiden bayerischen Großstädten zeigt sich ein wichtiger Aspekt der Zusammenarbeit von kirchlichen und kommunalen Initiativen: Ohne die Mitfinanzierung über Betriebszuschüsse auch außerhalb der durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz vorgegebenen Bereiche und ohne Mitträgerschaft von Projekten wäre die Orientierung am Lebenskontext der Familien nicht in dieser Spezifität möglich: So hat die Stadt Nürnberg einen „Runden Tisch Familie“ eingerichtet und initiiert und fördert Sprechstunden der Erziehungsberatung in den Räumen der Familien-Bildungsstätte oder im Rahmen der EU-Förderung „Soziale Stadt“ spezielle Angebote in den entsprechenden Stadtteilen wie zusätzliche Eltern-Kind-Gruppen oder eine „Schrei-Sprechstunde“ für junge Familien.
Die Stadt München ist vorbildlich in der finanziellen Sicherung der Arbeit aller ihrer Familien-Bildungsstätten in der Stadt, die in für drei Jahre festgeschriebenen Budgets für diesen Förderzeitraum Planungssicherheit gewinnen. Und auch in der fachlichen und finanziellen Förderung des Qualitätsmanagements in der Familienbildungsarbeit hat München eine Vorreiterrolle übernommen, die die konkrete Arbeit vor Ort zugleich herausfordert wie inhaltlich fördert.
Auch die Steiner Fortbildungsprogramme für Gruppen-, Familien- und Organisationsdynamik könnten ohne staatliche Förderung nicht gestaltet werden. Dazu kommen - wie in der Arbeit der Familien-Bildungsstätten - Fördermittel des Freistaates Bayern entsprechend dem Erwachsenenbildungsförderungsgesetz und Zuschüsse aus der Evangelisch-Lutherischen. Kirche in Bayern entsprechend des Volumens der Kirchensteuereinnahmen. Alle Finanzierungsträger mit Ausnahme der Kommunen haben in den letzten Jahren ihre Förderung reduziert bzw. werden sie reduzieren. Wie sich dies auf Inhalte und Konzeption der Arbeit auswirkt, kann noch nicht in allen Dimensionen übersehen werden. Es ist unschwer zu erkennen, dass dies zu Einschränkungen der inhaltlichen Angebote wie zur Neufassung konzeptioneller Grundlinien führen wird.
Die aktuellen Diskussionen um die Ergebnisse der Pisa-Studie lenken den bildungspolitischen Blick in den Schulbereich, so dass die Erwachsenenbildung unweigerlich in der Wahrnehmung zurückgefallen ist. Dies betrifft vor allem die Breite ihres Spektrums, das abgesehen von der Sprachförderung für MigrantInnen und der beruflichen Qualifikation wenig Raum in der Öffentlichkeit findet. Es bleibt zu hoffen, dass von kirchlicher Seite die Förderung der Breite der Bildung, d.h. neben der schulischen auch der Erwachsenenbildung, erhalten bleibt und zusätzlich inhaltlich gestärkt wird. Die Planung einer Bildungs-Synode in der bayerischen Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in den nächsten Jahren gibt dazu Anlass. Freilich gibt es auch ernst zu nehmende innerkirchliche Diskussionen und Nachfragen, was denn der spezifische kirchliche Charakter der Erwachsenenbildung sei. Hier würde die geplante Synode ein entsprechendes Forum für Konzeption, Diskussion und Standortfindung bieten.
4. Erwachsenenbildung und Gesundheit für Mütter (und Kinder) – Was im interdisziplinären Zusammenhang der Müttergenesung getan wird
Müttergenesungskuren und Mutter-/Vater-Kind-Kuren sind nach Sozialgesetzbuch V Leistungen der medizinischen Vorsorge und Rehabilitation. Kranke und gesundheitlich belastete Frauen und ihre Kinder erhalten in einer stationären Maßnahme medizinische, physiotherapeutische, psycho-soziale, erwachsenenbildnerische und pädagogische Leistungen. 121 Einrichtungen der in der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung, Deutsches Müttergenesungswerk, zusammengeschlossenen Wohlfahrtsverbände (Caritas, Diakonie, Rotes Kreuz, Arbeiterwohlfahrt, Paritätischer Wohlfahrtverband) und zusätzlich eine (unbekannte) Zahl von Einrichtungen privater Träger bieten Müttern mit und ohne Kinder diese spezifische Leistung an.
Im 2001 erschienenen Frauengesundheitsbericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wird das Müttergenesungswerk als einziger Träger im Bereich der Regelversorgung genannt, dessen Leistung konzeptionell auf die spezifischen Lebensumstände von Frauen und Kindern ausgerichtet ist (Anne Schilling: MGW Jahrbuch 2002/2003, Stein 2002). Dieses integrative Angebot gibt allen Versorgungsbereichen (Medizin, Physiotherapie, Pflege, psychosoziale und pädagogische Dienste, hauswirtschaftliche Versorgung) in einer abgestimmten Therapieplanung Raum: Ärztliche Betreuung und Physiotherapie stehen gleichberechtigt neben psychosozialen, pädagogischen, pflegerischen und hauswirtschaftlichen Versorgungsleistungen.
4.1 Der lange Weg zur frauenspezifischen Vorsorge und Rehabilitation
Die Herauslösung aus dem häuslichen Umfeld ist für Mütter und für Mütter und Kinder aus der subjektiven Sicht der Betroffenen eine große Hürde: Während sich Berufstätige bei Krankschreibung von ihrer Tätigkeit entfernen können, bleibt Müttern der häusliche Arbeitsplatz mit Haushaltsversorgung und Kindern im Krankheitsfall erhalten. Selbst Frauen, deren Kinder nicht mehr zu Hause leben, sind in aller Regel zuständig für die Haushaltsversorgung. Den häuslichen Arbeitsplatz für 3 Wochen (in Ausnahmefällen auch für länger) verlassen zu können, bedeutet große Überwindung, wenn weitere Kinder zu Hause zu versorgen sind. Nicht immer sind ausgebildete Familienpflegerinnen erreichbar und die Kostenübernahme durch die Kassen gesichert.
Wie bei den meisten Vorsorge- und Rehabilitationsmaßnahmen sind die Mütter nicht bettlägerig und der Krankheitsstatus ist nicht unmittelbar augenscheinlich. Dies betrifft die Mütter selber und auch ihr Umfeld: Wer noch nicht den Kopf unter dem Arm trägt oder nicht an Krücken geht, ist doch nicht krank, braucht doch keine Vorsorge oder Rehabilitation ... Es mag trivial klingen, aber bei den betroffenen Müttern (und ihren Angehörigen) und wie auch bei den die Maßnahme genehmigenden Stellen (ÄrztInnen, Medizinischen Diensten, Krankenkassen) ist dies das älteste und gleichzeitig wirksamste Argument, diese Leistung nicht für notwendig zu halten. Seit Bestehen des Müttergenesungswerkes hat es deshalb Unterstützung für die Mütter im Vorfeld der Beantragung und Vorbereitung gegeben.
4.2 Vermittlung und Beratung vor der Kur
Dies betrifft Information bis hin zu konkreter Unterstützung bei der Vorbereitung (z.B. Organisation der Familienpflege), bei der Finanzierungsklärung oder immer wieder auch notwendig bei der Abklärung, ob weitere oder andere medizinische oder psychosoziale Hilfen angemessener erscheinen. Diese Leistungen der Wohlfahrtsverbände vor einem stationären Aufenthalt ist oft der Dreh- und Angelpunkt nicht nur dafür, ob die Mutter es schafft, dringend gebotenen Hilfe überhaupt anzunehmen und dann dafür auch eine gesicherte Finanzierung zu erreichen. Information, Unterstützung und ggf. auch Beratung sichert darüber hinaus wesentlich den Erfolg dieser Heilmaßnahmen, denn es kommt auf die indikationsspezifische Vermittlung an, die zu den medizinischen Schwerpunkten auch die Spezifität der Einrichtungen im Bereich der psychosozialen und pädagogischen Leistungen sowie Lage und Ausstattung einbezieht. Information, Unterstützung, Beratung und Vermittlung leisten die örtlichen Beratungsstellen der Wohlfahrtsverbände ohne hierfür eine finanzielle Förderung der Krankenversicherung oder des Staates zu erhalten. Die Finanzierung erfolgt überwiegend über eigene Mittel der Verbände, einige Kommunen geben in geringem Umfang freiwillige Zuschüsse.
Diese Vorbereitungen vor der Maßnahme wird von den Kassen strukturell und inhaltlich nicht ernst genommen. Dabei spielen rechtliche Gründe eine Rolle, denn die Steuerung (welche Maßnahme in welcher Einrichtung) obliegt im Ansatz den Kassen, wird aber flankiert vom „Wunsch- und Wahlrecht“ der Versicherten. Möglicherweise spielen auch finanzielle Gründe eine Rolle nach dem Motto: Was nichts kostet (nicht den Kassen, nicht den Frauen, aber den Wohlfahrtsverbänden) ist nichts wert. Dabei entscheidet die Steuerung der Kassen, welche Einrichtungen belegt werden, die kasseneigenen, die der privaten Träger oder die der Wohlfahrtsverbände des Müttergenesungswerkes. Und Belegung ist gleichbedeutend mit Existenzsicherung auf diesem sehr umkämpften Teil des Gesundheitsmarktes.
4.3 Bildungskonzept für die frauen-/mütterspezifische Vorsorge und Rehabilitation
Bildungsangebote und Konzepte der Müttergenesung sind nur auf dem Hintergrund von aktuellen und historischen Entwicklungen des gesamten Bereiches verständlich. Sind die Mütter in einer stationären Maßnahme angekommen, haben sie schon einen enormen inhaltlichen und organisatorischen Vorlauf hinter sich. Nicht selten kommen die Frauen erst nach Widerspruchsverfahren und aufreibenden Finanzklärungen in einer Maßnahme an. So erklärt sich, dass einerseits die Motivation für diesen „kostbaren“ Zeitraum hoch ist, gleichzeitig aber auch der Erschöpfungsgrad und die Burnout-Syndrome ebenfalls einen sehr hohen Pegel haben. Mütterspezifische Gesundheitsbelastungen und Krankheiten sind multifunktional und multiaxional: Nicht eine Krankheit oder Beeinträchtigung, nicht ein sozialer oder psychischer Faktor, sondern die Vielzahl und die Verschränktheit ergibt das spezifische Leitsyndrom (Collatz u.a. 1998).
Indikative Gruppenarbeit hat aus diesem Grund ebenso viele Beratungs- wie Bildungsanteile, wenn es um „Stressbewältigung“, „Körperwahrnehmung durch Bewegung und Entspannung“, „Aufatmen und Loslassen“, „Psychosomatik“, „Mutter-Kind-Beziehung“ geht. Diese Feststellung trifft ebenso auf die auch in der medizinischen Prävention enthaltenen Themen: „Nicht-Rauchertraining“, „Ernährungsberatung“ oder „Rückenschule“ zu. Bildungsaspekte im Hinblick auf eine gesundheitsfördernde Lebensführung sind auch bei den anerkannten Kneipp-Sanatorien bedeutend. Dieses Konzept wird durchgeführt in den beiden Einrichtungen für Frauen des FrauenWerks Stein in Oberstdorf (Kneipp-Sanatorium für Frauen „Hohes Licht“) und in Regen/Bayer. Wald (Kneipp-Sanatorium für Frauen „Weißenstein“).
Einzelberatung, informelle Interaktion und Krisenintervention durch die sozialpädagogischen und psychologischen Fachkräfte sind selbstverständlich im Therapieplan enthalten. D.h. sie werden nicht nach Bedarf auf Zimmer 710 „beigezogen“, sondern sind feste Bestandteile des entsprechend der individuellen Ziele formulierten integrativen Behandlungsplanes. Entsprechend ergeben sich weitere Bildungsangebote, die durch die spezifischen Themen der anwesenden Frauen bestimmt werden: „Mütter und (Schwieger-)Töchter“, „Trauern und Trösten“, „Vereinbarkeit von Familien und Beruf“, „ Kinder, die das Haus verlassen“, „Wechseljahre – Zeit der Wandlung“. Diese freiwilligen Angebote haben nicht selten große Nachhaltigkeit, da die Frauen offen und sensibilisiert sind für neue Sichtweisen, gleichzeitig aber auch Gelegenheit haben, neuen Orientierungen gedanklich und gefühlsmäßig nachzugehen und im Rahmen der Kurgruppe modellhaft bereits anzuwenden.
4.4 Konzeptionelle Grunddimensionen
Ganzheitlichkeit der therapeutischen und Bildungskonzepte ist als Leitmotiv nicht nur den einzelnen Kurdurchgängen hinterlegt, sondern bestimmt wesentlich das Grundkonzept der Müttergenesung als frauenspezifische Leistung im Gesundheitswesen. Dabei bleibt nicht aus, dass auch sehr komplexe Themen und Probleme wie Suchtverhalten, sexueller Missbrauch und Gewalterfahrungen im Rahmen der Behandlungen auftauchen. Hier ist die Leistung der Fachkräfte im medizinischen und psychosozialen Bereich oft die Türöffnerfunktion: D.h. weitere Maßnahmen vor Ort oder in stationären Maßnahmen mit anderen Schwerpunkten werden vorbereitet und wo immer möglich auch z.B. konkret vermittelt. Handlungsorientierung, die sowohl die Regression und das Fallenlassen ermöglicht wie auch die Aktivierung und Selbsthilfe fördert, gilt für die pädagogischen Konzepte in Arbeit mit Kindern ebenso wie in den Bildungsangeboten für die Frauen und bestimmt gleichermaßen die medizinischen und psychosozialen Leistungen.
Diese Ausrichtung auf gleiche Grundprinzipien aller Bereiche macht diese Gesundheitsleistung so spezifisch
- Ganzheitlichkeit als Einbeziehung von Körper, Geist und Seele
- Handlungsorientierung als Raum lassen für Rückzug und Regeneration und gleichzeitig Raum schaffen für Aktivierung, Lernen und Selbsthilfe
- Interdisziplinarität verstanden als partnerschaftliche Kooperation der Disziplinen und Integration aller Leistungsangebote in ein ausgewogenes Konzept von Fordern und Fördern
Wichtig sind dabei auch spirituelle Angebote mit Besinnungen, Andachten, Seelsorge-Gesprächen, Gottesdiensten. Auch hier gilt, dass dies nicht als „Sahnehäubchen“ verstanden wird, sondern integrierter Bestandteil des Tages- und Wochenprogramms ist. Die Frauen reisen miteinander am gleichen Tag an, so dass auch gruppendynamische Entwicklungen für Themen und Ablauf der Maßnahme einbezogen werden. Für Frauen ist es darüber hinaus besonders wichtig, dass sie von ihren Haushaltsleistungen entbunden sind. Versorgt zu werden mit einer schönen Zimmer- und Hausausstattung und Atmosphäre, mit gutem Essen und Service bei der Reinigung hat von daher großen Stellenwert, wird sehr deutlich (auch sehr deutlich kritisch) wahrgenommen und ist deshalb viel mehr als nur die „unsichtbare“ Hintergrundarbeit, die die Frauen ja von zuhause her kennen.
Diese haushaltsnahen Tätigkeiten fachlich ernst zu nehmen und ihre Professionalität zu unterstreichen, hat für uns als Träger deshalb über den funktionalen Teil auch inhaltliche und, wenn man so will, auch große ideelle und politische Bedeutung. Die Wertschätzung der Fürsorgeleistung im öffentlichen wie im privaten Bereich holt Frauen und ihre Leistungen aus der „Schattenwirtschaft“. Dies gilt ebenfalls für die private und öffentliche Erziehungsleistungen im Bereich der Arbeit mit den Kindern und mit Müttern und Kindern.
4.5 Bedarfsentwicklung und politische Aktion zur Sicherung der Finanzierung
Die Müttergenesung war vom Beginn an integrativ und disziplinenübergreifend konzipiert und hat dies immer weiterentwickelt in der Umsetzung. Darin liegt sicher auch eine wesentliche Komponente ihrer Nachhaltigkeit und ihres Nutzens für kranke und gesundheitlich belastete Mütter und Kinder. Es ist von daher leicht nachvollziehbar, dass der Bedarf mit den Jahren nicht abgenommen, sondern zugenommen hat. Neben der Müttergenesung haben auch private Anbieter große Einrichtungen geschaffen und auch die Kassen selbst haben zusätzliche Kapazitäten aufgebaut. Aus Kostengründen haben die Kassen seit einigen Jahren verstärkt nicht mehr den vollen Tagessatz übernommen, sondern viele sind zur sog. Anteilsfinanzierung übergegangen. Dies mit dem Effekt, dass sich Mütter und Familien diese Gesundheitsleistung nicht mehr leisten konnten. Als die AOK Bayern – eine der größten Versicherer für Frauen und Kinder – sich kürzlich dieser restriktiven Praxis anschließen wollten, gab es einen großen frauen- und sozialpolitischen Ruck in der Gesellschaft: Was das Müttergenesungswerk und auch wir als einzelner Träger schon monatelang den politisch Verantwortlichen vermitteln wollten, bestätigte sich von einem Tag auf den anderen durch die angekündigte Satzungsänderung der AOK Bayern zu Ungunsten der Frauen und ihrer Familien.
4.6 Unterschriftenaktion „Mehr Rechte für Mütter“ und Gesetzesinitiative
So bekam die lange vorher gestartete Unterschriftenaktion „Mehr Rechte für Mütter“ des Müttergenesungswerkes eine enorme politische Schubkraft von Bayern ausgehend und abzielend auf die Bundespolitik. Die MitarbeiterInnen des Evangelischen Kurzentrums für Mutter und Kind in Aschau haben beherzt reagiert und einen Demonstrationsmarsch zur zuständigen AOK-Geschäftsstelle initiiert, an dem sich kirchlich und politisch Verantwortliche der Region beteiligt haben. Viele weitere Proteste, Aktionen und Verhandlungen haben letztendlich dazu geführt, dass Bundestag und Bundesrat im Sommer 2002 einstimmig die Vollfinanzierung der Müttergenesungskuren und der Mutter-Kind-Kuren beschlossen haben. Die Wahlkampfzeit und ihr Focus auf Familien hat dazu beigetragen.
Diese frauen- und familienpolitische Leistung und dieser Erfolg (nach mehr als 50 Jahren erfolglosen Bemühens um Vollfinanzierung) sucht ihresgleichen. Dass in Zukunft auch Väter eine Mutter-/Vater-Kind-Kur in Anspruch nehmen können, ist politisch nachvollziehbar im Hinblick auf die politische Forderung nach stärkerer Einbeziehung der Väter in die Erziehungsarbeit. Das frauenspezifische Konzept behält trotzdem gerade für die Einrichtungen des Müttergenesungswerkes seine besondere Bedeutung. In dieser konkreten Aktion für eine veränderte Gesetzgebung hat sich auch die manchmal enge Verbindung von Bildung und politischer Aktivität gezeigt und belegt, dass gesellschaftliche Solidarität auch gegen Widerstände gehalten werden kann.
5. Dimensionen der Bildungsarbeit mit Frauen und Müttern im Kontext einer Frauenorganisation
Mütterspezifische als frauenspezifische und zielgruppenorientierte Erwachsenenbildung ist dann erfolgreich, wenn es die konkreten Rahmenbedingungen und Bedürfnisse der Betroffenen ernst nimmt und aufgreift, nicht nur als „Verzierung“ bisheriger Konzepte, sondern in der stringenten Ausrichtung auf konzeptionelle Grundkonstanten:
- Handlungsorientierung im Sinne des Aufmerksamwerdens auf Frauen als einer Bevölkerungsgruppe, die die Mehrheit darstellt, aber wie eine Minderheit behandelt wird (und sich behandeln lässt),
- Ganzheitlichkeit als Orientierung und Praxis besonders für Frauen und Mütter existentiell, da ihre Mehrgleisigkeit im Denken und im Alltag Segen wie Fluch bedeutet, aber genau deshalb sehr ernst genommen werden muss,
- Lebenslanges Lernen als für Frauen unausweichlicher Bestandteil von Patchwork-Biografien und oft unerwarteten Krisen des Lebenslaufs (Erwerbstätigkeit nach Trennung/Scheidung; finanzielle Belastungen in den Familien; Überforderung in der Erziehung und im familialen Alltag).
Das FrauenWerk Stein ist sowohl historisch wie aktuell ein gutes Beispiel für die Restriktionen (Geld, Anerkennung, existentielle Unsicherheit) wie aber auch für die Potentiale (prägnante und bedarfsorientierte Konzeption, politisches Lernfeld) der Frauenbildungsarbeit und Frauenprojektarbeit. Wichtig ist neben der konkreten praktischen Arbeit aber auch die engagierte ehrenamtliche Vereinsarbeit in Mitgliederversammlung, Kuratorium und Vorstand, die die Rahmenbedingungen im kirchlichen und gesellschaftlichen Bereich politisch sichert. Die konzeptionelle Stärke geht Hand in Hand mit der Kompetenz und dem Engagement aller ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, um immer wieder neue angemessene Organisationsstrukturen zu entwickeln und finanzielle Ressourcen zu sichern.
Literatur:
- Karin Aliochin und Hildburg Wegener: Von der Würde und der Verantwortung von Frauen. Hrsg. von der Evangelischen Frauenarbeit in Deutschland und dem FrauenWerk Stein, Frankfurt und Stein 2002
- Jürgen Collatz u.a.: Mütterspezifische Belastungen, Gesundheitsstörungen, Krankheit. Das Leitsyndrom zur Begutachtung und Indikationsstellung von Mütter- und Mutter-Kind-Kuren, Berlin 1998
- Gesundheitsbericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Bonn 2001
- Barbara Hauck: Veränderung durch Verunsicherung. Lernen mit Erwachsenen, in: Evangelische Erwachsenenbildung. Ein theologischer Reader. Hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft für Evangelische Erwachsenenbildung in Bayern AEEB, Tutzing 2002
- Beate Hofmann: Gute Mütter – starke Frauen. Geschichte und Arbeitsweise des Bayerischen Mütterdienstes, Stuttgart 2000
- Erika Jehle u.a.: Konzeption „Gemeindebezogene Frauenarbeit und Ökumene – Konzeption“, unveröffentlichtes Manuskript, Stein 1996
- Erika Jehle: Fachstelle für Frauenarbeit der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Definition „Evangelische Frauenarbeit“, unveröffentlichtes Manuskript 2002
- Konzept der Eltern-Kind-Arbeit im Rahmen der gemeindeorientierten Evangelischen Erwachsenenbildung in Bayern. Hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Erwachsenenbildung in Bayern AEEB, Tutzing 2002
- Leitbild des Bayerischen Mütterdienstes: Frauen stärken, Beziehungen gestalten, Horizonte weiten, Stein 2000
- Inge Leitz (Hrsg.): frauen stimmen. Eine Bestandsaufnahme evangelischer Frauenarbeit. Stuttgart 1992
- Liselotte Nold: Am Leben lernen. Ein Handbuch für die Frauenarbeit, Nürnberg 1959
- Toni Nopitsch: Der Garten auf dem Dach, Stein 1995, 2. Aufl.
- Ökumenisches Projekt zur Förderung von Kommunikation und Beziehung, Ö.Ko. Nürnberg 2001-2002
- Waldemar Pisarski: Konkretionen Evangelischer Erwachsenenbildung, in: Evangelische Erwachsenenbildung. Ein theologischer Reader. Hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft für Evangelische Erwachsenenbildung in Bayern AEEB, Tutzing 2002
- Anne Schilling: MGW Jahrbuch 2002/2003, Stein 2002
- Maria Weigle: Bibelarbeit mit Frauen, Gelnhausen/Stuttgart/Stein 1979
Dr. Gabriele Müller-Rückert
FrauenWerk Stein e.V.
Deutenbacher Straße 1
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