Gehen wir von den Menschen aus! - Anthropologische Ansätze einer Partizipativen Pädagogik

von Ronald Lutz

Ausgangspunkt

Ausbrüche von Rohheit und Gewalt haben im Alltag moderner Gesellschaften erneut vielfältig Einzug gehalten; manche sprechen dabei von einer Wiederkehr der Barbarei (Miller/ Soeffner 1996). Doch genau darin liegt bereits das Problem: als ob es je eine Gesellschaft gegeben habe, die ohne Gewalt gewesen wäre und als ob Gewalt sofort ein Rückfall in vorzivilisatorische Zustände darstelle und damit nicht den Bildern der Aufklärung und der Moderne entspräche. Doch wer hat diese Bilder für wen und warum gemalt? Nicht Gewalt an sich scheint mir das Problem, sondern die Unfähigkeit des modernen Erziehungssystems mit der Gewalt Heranwachsender adäquat umzugehen.

Während traditionelle Gesellschaften offensichtlich in der Lage waren, Gelegenheiten und Orte zu konstruieren, an denen Jugendliche Normen übertreten, sich und ihre Körperkräfte erfahren und ihre Grenzen erleben konnten, ohne daß dies zu einem anomischen Risiko für die Ordnung der Dinge wurde, so scheinen komplexe Gesellschaften diese Fähigkeit zunehmend verloren zu haben. Peter Schneider hat dies vor einigen Jahren treffend charakterisiert:

"Die Ratlosigkeit der Gesellschaft gegenüber dem Aggressionspotential heranwachsender Männer, die bis zu dessen Verleugnung geht, deutet auf einen kollektiven Dämmerzustand. Alle sogenannten primitiven Kulturen haben aufwendige Rituale entwickelt, um die Aggression männlicher Pubertierender zu formen und zu lenken. Nach allem, was wir wissen, dienten diese schmerzhaften und langwierigen Initiations- und Mannbarkeitsriten keineswegs der Vorbereitung auf einen Kriegsfall. Sie hatten die Aufgabe, den aggressiven Strebungen den Weg zu zeigen, auf dem allein die Gemeinschaft ihnen erlaubte, sich zu äußern. Von diesen Riten hat die industrielle Zivilisation nur den Massensport und den militärischen Drill in Gestalt des Wehrdienstes übrig gelassen. Nur zivilisatorische Hybris und Selbstvergessenheit konnte zu dem Irrtum verleiten, das aggressive Potential pubertierender männlicher Jugendlicher könne durch Wegsehen zum Verschwinden gebracht werden." (Schneider 1993, 140).

Diese These wurde von Wolfgang Engler auf den entscheidenden Punkt zugespitzt, dem Zusammenhang einer vorgeblich befreienden Pädagogik und dem darin liegenden Verzicht auf notwendige Restriktionen: "Man attackierte überlebte Zwänge, repressive Erziehungsmuster, löste aber, da das auf eine provokative, sich selbst übertreibende Weise geschah, auch zivilisatorisch unverzichtbare Verhaltensrestriktionen auf" (Engler 1993, 118).

Die von Engler anvisierte Pädagogik ist lediglich von ihrem theoretisch formulierten Selbstverständnis her befreiend, in ihrer realen Praxis ist sie vor allem kolonialistisch - und darin liegt das eigentliche Problem. Dies gilt es kurz zu explizieren.

In einem Essay zur eruptiven Jugendgewalt in französischen Vorstädten, die verursacht durch soziale und ethnische Ausgrenzung vor allem auf einer sinn-und ziellosen Wut basiert, hat Francois Dubet darauf hingewiesen, daß in einer Gesellschaft, in der sich individualistische, hygienische und im Sinne der Zivilisationstheorie von Norbert Elias kulturell zivilisierte Modelle der Mittelklassen und der Selbstkontrolle verbreiten, Formen der traditionalen Gewalt und des traditionalen und rituell einhegenden Umgangs mit ihr aufgehoben und obsolet werden (Dubet 1997). Pädagogen dieser Mittelklassen, aus denen sie sich vorwiegend rekrutieren, haben notwendigerweise keinerlei Verständnis für die möglicherweise im Kontext des Heranwachsens unausweichlichen Gewalttätigkeiten ihrer Zöglinge, die durch Ausgrenzungsprozesse noch verstärkt werden. Sie werten diese nicht mehr als Formen zu duldender Abweichung, die das Heranwachsen prägen und die kulturell und rituell abgefedert und geformt werden müssen, sie nehmen sie lediglich als Ausbrüche von Rohheit und Barbarei wahr.

In der Mitte der Gesellschaft werden so aber bestimmte Menschengruppen zu "Wilden" degradiert, zu "Barbaren" stilisiert, die den modernen Kontext zivilisierten Verhaltens noch nicht begriffen haben: "In einer Gesellschaft, in der die Normen der Mittelklassen Allgemeingültigkeit erlangt haben, werden die Überbleibsel geduldeter Gewalt als blinde Gewalt gedeutet." (Dubet 1997, 223)

Im pädagogischen Kontext findet dann eine Kolonialisierung dieser "wilden und gefährlichen Reviere" durch professionelle Kontrolleure statt: Sozialarbeiter, Lehrkräfte und Polizisten. Pädagogik wird dabei zum methodischen Instrument um Reste roher Wildheit zu zivilisieren. Dies nun kann nicht als "Befreiende Pädagogik" sondern lediglich als "Zivilisierende Pädagogik" verstanden werden, die Wertesysteme, Ordnungs- und Subjektvorstellungen einer gesellschaftlich herrschenden Gruppe auf andere übertragen will und es auftragsgemäß als pädagogisches System auch muß.

Das aber ist in extremer Form das zentrale Problem einer Pädagogik, die vorab weiß, wie es um ihre Zöglinge steht und die auch schon festgelegt hat was aus ihnen werden soll bzw. noch werden kann. Eine partizipative Pädagogik sieht das allerdings anders. Dies soll am Beispiel der Strassenkarrieren von Jugendlichen, ebenfalls einem von der Norm abweichenden sozialen Phänomen, Erörterung finden.

Rettungspädagogik als zivilisierende Pädagogik

Wird das soeben Problematisierte im Zusammenhang mit den Phänomenen der Jugendgewalt noch einigermaßen deutlich, so verläuft es im Zusammenhang mit einem weiteren die Gegenwart affizierenden Phänomen, der Schulverweigerung und dem Straßenleben Jugendlicher, weitaus diffiziler. Ganz allmählich steigt seit Jahren die Zahl junger Menschen, die aus Familien und Heimen weggehen und vorübergehend an Hauptbahnhöfen, in Parks und anderen öffentlichen Orten, in Altbaugebieten, leerstehenden Häusern oder Ruinen „leben“. Sie werden ganz allgemein als „Straßenkinder“ bezeichnet, obwohl an diesem Begriff mittlerweile erhebliche Kritik geäußert wurde (Lutz/Stickelmann 1999). Ich werde deshalb in der Folge von "Strassenkarrieren" junger Menschen sprechen, die sich in besonderen Lebenslagen befinden.

Viele von diesen Jugendlichen gelten zudem als "Schulverweigerer", "Schulbummelanten" oder als "nicht mehr beschulbar". In einem Artikel der Wochenzeitung DIE ZEIT hat Susanne Gaschke in der Nr. 20 vom 11.5.2000 dementsprechend darauf hingewiesen, daß die Schule vielfältig mit "unerzogenen Kindern" überfordert sei, da die Eltern ihre Erziehungsverantwortung nicht mehr übernehmen würden oder auch nicht mehr übernehmen könnten.

Dies nun geschieht vor dem Hintergrund einer zunehmenden Polarisierung unserer Gesellschaft, die sich in Formen neuer Armut und Ausgrenzung, aber auch als zunehmende Tendenz sozialer Segregation vor allem in den Städten zeigt. Stadtstrukturelle Gewalt in Form anonymer Wohngebiete, verlorener Spielmöglichkeiten, verstärkter Straßenverkehr und des Verlustes persönlicher Kontakte führt immer mehr dazu, daß sich Kinder und Jugendliche auf Straßen und Plätzen treffen, die hierfür eigentlich gar nicht vorgesehen sind.

Schon 1997 fragte ein Sammelband ob die soziale Stadt noch überlebensfähig sei, da sie angesichts sich verschärfender sozialer Ungleichheit und einer sich formierenden „underclass“ zunehmend ihre einstmals gewonnenen Konturen zu verlieren drohe (Hanesch 1997). In den städtischen Zentren ballen sich in der Bundesrepublik, auch wenn dies hier noch deutlich weniger sichtbar ist als in anderen Ländern, soziale Probleme wie Suchtgefährdungen, Obdachlosigkeit sowie Kinder und Jugendliche auf der Straße. Doch diese Probleme werden wieder vermehrt als „Störfaktor“ begriffen, wie es die Renaissance von Bettelordnungen zeigt, die heute als „Gefahrenabwehrverordnungen“ entworfen werden.

In diesem Kontext sieht sich auch die Pädagogik und insbesondere die Sozial-Pädagogik in die Pflicht genommen. Mobile Hilfen und Straßensozialarbeit sind deren Antworten, mit denen sozial Auffällige wieder an pädagogische Institutionen angebunden werden sollen. Allerdings hat diese Pädagogik bis heute ein zentrales Problem mit dem Lebensraum Straße, der als impliziter Teil der Stadt schon immer für unterschiedliche Verhaltensmuster stand. Straße wurde oftmals als „Schule der Unmoral“ gebrandmarkt, auf der die Verwahrlosung der Jugend mit Herumtreiben, Schule schwänzen, nächtlichem Fortbleiben, Betteln und Stehlen beginne. Die Pädagogik reagierte darauf mit dem Gedanken einer Rettung dieser Jugendlichen vor den Gefahren einer weiteren Verrohung und Verwilderung.

Dieses Bild scheint sich bis heute gehalten zu haben und dominiert noch immer pädagogische Diskurse. Die Straße war und ist für die Pädagogik bis heute ein exterritoriales Gebiet: „Der Erziehungsraum Straße ist für die pädagogischen Kontrollinstanzen gewissermaßen exterritoriales Gebiet, und seine Gefahren bestehen allererst darin, daß der pädagogische Zugriff gefährdet ist. Der Straßenjunge wird deshalb als ein sich herumtreibender Junge begriffen, weil er sich dem pädagogischen Zugriff entzieht.“ (Lindner 1983)

Dieses Dilemma, das sich in vielfältig verdichteten pädagogischen Bildern der Straße zeigt, in denen diese als gefährlich dargestellt wird, prägt die derzeitige „Straßenkinder“-Debatte in strukturierender Weise. Auch wenn Straße nicht mehr jener Sozialisations- und Lebensort ist, der er einmal war, und die betroffenen Kinder und Jugendlichen nicht jene Straßenkinder-Kultur herausbilden, wie sie aus Lateinamerika bekannt ist und sich im Topos der „arbeitenden Kinder“ verdichtet hat; so ist sie dennoch ein sozialer Ort, der lebensweltlichen Protest zum Ausdruck bringt und Hoffnung vermittelt.Wer auf die Straße geht, der sucht nach Alternativen und will eigentlich nicht mehr dorthin zurück, wo er weggegangen ist.

Vor dem Hintergrund ihrer Probleme mit der kulturellen Konstruktion Straße müßte die Sozialpädagogik die Absicht der Rettung auf der Straße liegender Menschen überdenken und eine neue „Straßenpädagogik“ entfalten. Sie geht aber derzeit überwiegend aus methodisch-taktischen Erwägungen auf die Straße, um so Zugang zu den Betroffenen zu gewinnen. Das hat keiner so subtil deutlich ausgedrückt wie Hans Thiersch. Er hat zwar schon 1991, mit Blick auf Straßenkinder in Lateinamerika, verdeutlicht, daß „kolonialisierende Anmaßung“ - damit meinte er Erziehung als „Disziplinierung“ oder, vornehmer, als „Integration“- dem „Konzept einer lebensweltorientierten sozialen und pädagogischen Arbeit mit Straßenkindern auf der Straße“ widerspreche (Thiersch 1992, 65). Ihm ging es dabei um ein Verstehen der Betroffenen im Kontext ihrer Lebenswelten, um eine Hinwendung des Pädagogen zur Lebensrealität der Straße, deren Dynamik er sich nicht mit kolonialisierenden Konzepten verweigern darf. Allerdings, und das ist das Entscheidende bzw. die Funktion des verstehenden Ansatzes, müsse es immer das Ziel sein, sich nicht mit der Straßenarbeit zu begnügen, sondern Räume und Gelegenheiten zum „Schutz“ zu schaffen, die vor allem zum Lernen notwendig seien.

Thiersch öffnet zwar den Weg zur Straße, er postuliert die Notwendigkeit eines lebensweltlichen Verstehens; das aber steht unter dem Diktat einer Anbindung an pädagogische Institutionen, die eben nicht auf der Straße sind. Thiersch relativiert seinen lebensweltlichen Ansatz, da er offenkundig ein tiefes Mißtrauen gegenüber der Straße an sich hegt: sie ist zumindest kein Ort um pädagogisch intendiertes Lernen zu arrangieren. Straßenarbeit wird somit aber Strategie zur Anbindung an weiterführende pädagogische Institutionen, die dabei unter dem Diktat „geschützter Räume“ stehen.

Eine so verstandene Sozialpädagogik will den Klienten dort abholen, wo er/sie gerade ist; dann aber weiß sie zugleich, wo der Klient hin soll. Dies geschieht vor dem Hintergrund eines Normalisierungs- und Zivilisierungsdenkens, das zudem von einer Kindheitsvorstellung geprägt ist, die diese als zu schützenden Raum begreift und dem Erwachsenen die Aufgabe zuspricht, diesen für die Kinder als Sozialisationsort zu erhalten und zu gestalten.

Der europäische Kindheitsbegriff, der sich in den letzten hundert Jahren immer stärker herausgebildet und Wertvorstellungen sowie sozial- und familienpolitische Leistungen normiert hat, formuliert Erwartungen an Kindheit, die diese selten als eine eigenständige Realität menschlichen Lebens begreift. Kinder sind vielmehr über ihre Eltern und über ihre Familien abgeleitete Wesen. Dabei bleiben sie zunächst unfertige Wesen, die nur über die Erziehungstätigkeiten Erwachsener in das Leben und in eigenverantwortliche Tätigkeit hineingeleitet werden können. Sie sind nur in diesem intergenerationellen Kontext denkbar, der die Verantwortung für Kindheit und deren individuellem Gelingen den Erwachsenen aufbürdet und die Kinder als Wesen sieht, die ganz allmählich nur reifen und dabei geformt werden müssen.

Damit werden die Erwachsenen aber auch zu Gestaltern kindlichen Lebens, sie denken, als Lehrer bspw., für die Kinder und richten es so ein, daß diese nach gesellschaftlich entworfenen Vorstellungen, überwiegend Vorstellungen von Erwachsenen, in einem geschützten und behüteten Rahmen "reifen" können und schließlich auf diesem Wege selbständig werden.

Das hat dann auch zu Folge, daß sekundäre Sozialisationsinstanzen für die Kinder und Heranwachsenden Lernmodelle und -inhalte entwerfen. Dabei werden aber nicht die Adressaten dieser Modelle zum Protagonisten des Lernens und der Auseinandersetzung mit der jeweiligen Umwelt, sie sind nicht die Hauptdarsteller ihres Lebens, sondern die erwachsenen Erziehungs- und Bildungsverantwortlichen.

In diesen Modellen ist und bleibt auch Sozialpädagogik noch immer Rettungspädagogik, die gefährdete Normalität sicherstellen soll und den tendenziellen Rückfall in Barbarei und das Entstehen "wilder und gefährlicher Reviere" verhindern will. Normalität ist dabei aber ein normativer Entwurf, der von Menschen für menschliche Lebenswelten konzipiert wird und dabei oft an den Realität vorbeigeht. Nicht die Betroffene sind dabei die Protagonisten, sondern die vor dem Hintergrund des Normalitätsvorstellungen konzipierten Ziele, die sich in den Erziehern umsetzen.

Normalisierungs- und Zivilisierungsarbeit meint zudem eine Wieder-Anpassung an bestehende Verhältnisse, an Verhältnisse, denen sich die Kinder und Jugendliche gerade erst entzogen haben und nicht in sie zurück wollen, wenn sie sich als Suchende entwerfen. Hierzu hat sich zwar insbesondere in der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit ein ausdifferenziertes Instrumentarium mobiler und aufsuchender Methoden entfaltet, die aber allesamt, trotz ihres verstehenden Ansatzes, von den Vorstellungen herrschender gesellschaftlicher Gruppen geprägt sind und Pädagogik als Zivilisationsarbeit im Sinne einer Normalisierungsarbeit begreifen. Darin bleibt sie notwendigerweise kolonialistisch, von außen entworfen und Lebenswelten formend und mitunter sogar überformend.

Die derzeit praktizierte Pädagogik, insbesondere ihr sozial-ethischer Hybrid, die Sozial-Pädagogik, ist weitestgehend ein Versuch im Sinne des Zivilisationsprozesses zu sozialisieren, zu intervenieren und zu normalisieren. Das aber ist letztlich die Zurichtung der Zöglinge nach dem vorherrschenden abendländische Modell einer Ordnung der Dinge, das tief in der Aufklärung wurzelt. Darin sind Gewalt und Strasse "wilde Relikte" und deshalb tendenziell antizivilisatorisch und gefährlich.

Dem nun sollen Ideen und vor allem die anthropologischen Ansätze einer Pädagogik konfrontiert werden, die von ihrer Anlage her bereits kolonialisierende Tendenzen vermeidet. Eine "partizipative Pädagogik" geht konsequent von dem Gedanken aus, daß die sogenannt "Betroffenen" (was trifft diese eigentlich?) als Akteure und Protagonisten ihres Lebens auch in Zuständen extremen Mangels und höchstgradiger Marginalisierung handlungsfähige Menschen sind und bleiben, die beständig im Austausch mit ihrer natürlichen und kulturellen Umwelt leben und leben müssen, da sich diese ständig wandelt. Teil dieser Umwelt sind dabei auch die kulturell entworfenen Systeme der Pädagogik mit ihren Theorien, Wissensbeständen und methodischen Instrumentarien.

Das trifft im übrigen auch auf Heranwachsende zu, die wir nicht mehr einzig als über Familien abgeleitete und zu schützende Wesen begreifen dürfen. Wir müssen auch sie als handlungsfähig und zur Ordnung ihrer eigenen Dinge fähige Subjekte verstehen, eben als Protagonisten, die Wesen für sich werden wollen und dies auch können. Pädagogik als ein kulturelles Gut kann nur dann zu einem sinnvollen Aspekt der Lebenswelten werden, wenn es in diesen angeeignet und ihnen dabei anverwandelt wird. Pädagogik kann sich deshalb nicht mehr die Menschen aneignen und nach Vorbildern formen; sie muß stattdessen von den Menschen ausgehen und es diesen ermöglichen sich Pädagogik für ihre Lebensrealität anzueignen.

Pädagogik muß nämlich deshalb von den Menschen angeeignet werden können um relevanter und damit gestaltender Aspekt ihrer je spezifischen Lebenswelten zu sein; das aber bedingt ihre prinzipielle Offenheit und Vielfalt sowie die Notwendigkeit dynamischer Prozesse.

Dies soll nun im Zusammenhang der kulturellen Aneignungskompetenz des Menschen, des darin liegenden Menschenbildes, dem Dialog als Praxis der Freiheit bei Paulo Freire, dem Konzept menschlicher Entwicklung und Überlegungen zu einer Partizipativen Pädagogik als Strassenpädagogik durchgearbeitet werden.

Gehen wir von den Menschen aus

Ohne Kultur wird der Mensch nicht zum Subjekt; sie ermöglicht Verständigung, Handlungsorientierung und Selbstvergewisserung. Sie macht aber auch zum Fremden, wenn man von zu hause weg ist. Kulturen sind in ständiger Veränderung begriffen, ihre Realität ist ein dynamischer Prozess. Sie werden dabei zum Feld des Kampfes um Bedeutungen und um kulturelle Hegemonien. Dies verschärft sich in Zeiten gesellschaftlicher und kultureller Transformationen, wenn verschiedene Kulturen zusammenstoßen oder wenn durch äußere und innere Einflüsse, durch Krisen und Katastrophen, Kulturen sich wandeln.

Kulturen sind in ihrer Verschiedenheit gleichwertig. Aus der Kenntnis der eigenen Kultur, aus der Identifikation mit ihr, aus der eigenen kulturellen Identität, wächst die Fähigkeit zur Wahrnehmung auch anderer Kulturen. Dies kann nur sinnvoll unter Beibehaltung des wechselseitigen Respekts entwickelt werden. So gehört es zu den originären Aufgaben der pädagogischen Einrichtungen in einer Kultur die Identität ihrer Mitglieder stetig zu fördern und zu stärken, damit sich diese Kultur eine Identität in den Menschen geben und sich so darstellen kann. Nur dann ist sie fähig das kulturell Fremde am Anderen zu verstehen und zu akzeptieren.

Der weite Kulturbegriff, der hier Anwendung findet, enthält zugleich eine weitreichende Behauptung, die auf den Menschen zielt: "Kultur stellt ... das nur menschliche Mittel der Umweltbewältigung dar. Kultur, wie auch immer wir sie definieren, ist vom Menschen Geschaffenes, ist Produktion, schöpferisches Tun, durch das der Mensch sich aus seiner Abhängigkeit von der äußeren und inneren Natur zu befreien vermag." (Greverus 1978, 59/60)

Menschen sind aber nicht nur Schöpfer; sie sind zugleich Geschöpfe, die nicht immer wieder von neuem ihre je spezifischen Mittel der Umweltaneignung erschaffen müssen, sondern sie erhalten diese Mittel durch ihre kulturelle Umwelt bereit gestellt. Dabei kann die Mittelbereitstellung, und hier beginnt soziale Ungleichheit, in unterschiedlicher Anzahl und Qualität erfolgen. Überlieferung, Tradierung, Enkulturation und Sozialisation sind die Prozesse, die daran beteiligt sind. Institutionalisiert lasen sie sich in einem weit gefassten Begriff des Erziehungssystems, der pädagogischen Institutionen, zusammenbinden. Hierin werden vorhandene Ungleichheiten, über deren Ursachen hier nicht gearbeitet werden soll, entweder bestätigt und verfestigt oder es wird versucht sie auszugleichen, zu kompensieren, oder gar tendenziell zu überwinden.

Kultur stellt den Menschen die Mittel bereit, um sich in ihr einzurichten, sie dadurch aber auch neuen Erfordernissen anzupassen, sie zu verändern. Diese Mittel sind "Werkzeuge" des Erlebens und Verhaltens, des Einwirkens und Veränderns, des Fühlens und Denkens, des Glaubens und des Sinns, der Kommunikation und der Interaktion. Der Mensch kann sich ihrer bedienen, "um sich in seiner Umwelt zu orientieren und um seine Bedürfnisse in ihr zu befriedigen" (Greverus 1978, 61).

In diesem weiten Kulturbegriff und seinen anthropologischen Implikationen wird ein Menschenbild erkennbar, das dem Menschen ausschließlich eine aktive Rolle in der Gestaltung seiner Umwelt beipflichtet. Der Mensch, in welcher Situation er sich auch immer befinden mag, handelt und gestaltet, er reagiert auf seine Umwelt und stellt sich auf sie ein - passives Erdulden gibt es nur in Situationen absoluter Zerstörung von Menschlichkeit.

Das Wesen des Menschen ist originär von seiner Handlungsfähigkeit geprägt und umfasst die Fähigkeit auf die eigene Umwelt, die eigene Kultur, als Geschöpf und als Schöpfer einzuwirken. Nicht Opfer seiner Verhältnisse ist deshalb der Mensch sondern deren Gestalter: "Kulturfähigkeit ist die Kompetenz zur Gestaltung und kulturelles Handelns ist ein gestaltgebendes" (Greverus 1978, 64).

Auch in prekärsten Verhältnissen ist der Mensch als Handelnder, als Schöpfer und Geschöpf, zu sehen und zu fördern, nur dann bleibt ihm seine Menschlichkeit. Auch wenn die Mittel und Werkzeuge noch so ungleich verteilt sind, manche nur Brosamen und noch weniger erhalten, die Aufrechterhaltung der Menschlichkeit bleibt daran geknüpft den Menschen zuerst in seiner Handlungsfähigkeit zu sehen.

Die Mittelverteilung allein nimmt Ausgebeuteten noch nicht ihre Menschlichkeit, sie reduziert allerdings ihre Lebensqualität, ihre Einflußchancen und ihre Lebensoptionen. Ihre Menschlichkeit verlieren sie, wenn sie zusätzlich zu minderwertigen Menschen, zu Opfern und zu bedauernswerten Geschöpfen konstruiert werden, wenn ihnen das genommen wird, was ihr Mensch-Sein im Kerne ist: ihre Kulturfähigkeit. So schreiben Almosen Menschen in ihrer Opferrolle fest, sie helfen vielleicht für den Augenblick, doch diese Hilfe macht die nächste Hilfe schon erforderlich. Damit aber verlieren sie ihre Handlungsfähigkeit und werden Abhängige, sie werden Minderwertige und Opfer.

Es gibt mittlerweile vielfältige Ansätze, die Abstand vom Almosen nehmen; insbesondere in der Entwicklungsarbeit wird dies immer wieder praktiziert. Es gibt aber auch Vorstellungen des pädagogischen Hybrids, der Sozialpädagogik, die vom Defizit zur Kompetenz der Betroffenen vorstoßen wollen. Doch gerade darin wird Pädagogik noch immer als Rettungspädagogik verstanden, die von außen entworfen in die Kulturen der Betroffenen getragen wird. Auch hier wird zunächst einmal Handlungsunfähigkeit unterstellt, die es für die Betroffenen neu zu entdecken gilt. Doch soll diese neu zu findende Handlungsfähigkeit dabei zumeist auf gesellschaftlich verbindliche Normen und Lebensentwürfe festgelegt werden.

Dabei käme es vielmehr darauf an, von den Menschen auszugehen und deren Möglichkeiten zu verbessern, in ihrer prekären Situation das Wissen und Können der Pädagogik, das Teil ihrer Umwelt ist, sich besser anzueignen als zuvor. Was sie schließlich daraus machen wäre ihre Entscheidung und läge in ihre Verantwortung.

Es wäre ein Akt tiefer Menschlichkeit, das Können und Wissen der Pädagogik, das als Mittel der Umwelteinrichtung ungleich verteilt sein kann (Bildung!), bewußt und gegen die sonstigen Verteilungswege neu zu verteilen und jenen mehr davon zur Verfügung zu stellen, die bisher zu wenig davon haben. Diese Menschen könnten dann Pädagogik zu ihrem Werkzeug machen, mit dem sie sich in ihrer Umwelt besser einrichten könnten als zuvor. Um diesen Akt tiefer Menschlichkeit wirklich zu verstehen muß das Menschenbild und das dialogische Prinzip von Paulo Freire eingeführt werden, um den bisherigen Diskussionsstand noch einmal grundlegend zu erweitern und genauer zu fassen.

Das dialogische Prinzip

Eine der zentralen Aussagen des pädagogischen und philosophischen Werkes von Paulo Freire war und ist, daß Befreiung nur mit dem Volk und nicht für das Volk gelingen kann (Freire 1973). Nur ein Pädagoge, der sich der Lebenswelt der Menschen öffnet und sich von diesen für deren eigene Interessen mit seinem Wissen und Können aneignen lässt, wird seinem Auftrag gerecht. Das aber beinhaltet ein tiefes Vertrauen den Menschen gegenüber; ein Vertrauen in ihre kulturellen Fähigkeiten und ein völliges Akzeptieren der Wege, die sie zunächst für sich entworfen haben, auch wenn diese aus Sicht der Pädagogen völlig unzureichend sind. Dies meint aber auch ein Akzeptieren der Wege, die Menschen, nach einer Analyse ihrer Situation, zukünftig gehen wollen.

Freire war davon überzeugt, daß es des Menschen Bestimmung sei, in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt seine eigene Menschwerdung zu erreichen. Als Voraussetzung hierfür sieht er allerdings die "conszientizacao", die Bewußtwerdung der eigenen Realität. Das meint die Auseinandersetzung mit dem Eingebundensein in ein System der Unterdrückung und Diskriminierung, das sogar zur Übernahme jener Bilder führen kann, die von Herrschenden für Unterdrückte und Diskriminierte entworfen werden. Das kann die Akzeptanz der eigenen Minderwertigkeit, die Erkenntnis eigener Faulheit und Asozialität sein; es kann aber auch zur Übernahme von Mustern der Verwahrlosung und der Kriminalität führen.

Der Pädagoge darf aber den Menschen nicht ihre Realität erklären, er darf nicht die Situation für sie aufdecken; "conszientizacao" ist der Weg eigenen Erkennens. Das Vertrauen, auf das Freire baut, ruht auf dem Wissen, daß die Menschen für ihre eigene Situation und zur Aufdeckung derselben zuständig und dies zu bewältigen auch in der Lage sind. Hierzu können sie sich aber Werkzeuge, kulturelle Güter, aneignen, die sie bei ihrer Decodierungsarbeit unterstützen. Aspekt dieser Umwelt, mit der sich Menschen auseinandersetzen können und müssen, in der sie Werkzeuge für ihr kulturschaffendes Handeln finden, ist dabei auch Pädagogik als ein System und die Pädagogen als menschliche Umwelt.

Freire hat sehr viel Wert auf Vertrauen und Demut gelegt, die der Pädagoge der Würde seiner Gegenüber entgegenbringen muß. Den Pädagogen nötigt dies Achtung vor den Fähigkeiten insbesondere sozial Benachteiligter und Unterdrückter ab.

Unterdrückung hat Freire als einen Zustand begriffen, der im Unterdrückten die Unterdrückung real werden lässt, da dieser daran glaubt, daß er minderwertig und unfähig sei. Eine jede Pädagogik, die dies nicht grundsätzlich in Frage stellt, verstärkt damit Unterdrückung. Dies tut auch eine Pädagogik, die zwar die Unterdrückung aufheben will, aber anstatt dessen neue pädagogische und soziale Entwürfe von außen aufnötigen will - auch wenn diese noch so gut gemeint sein mögen.

Der Mensch muß in der Arbeit an seiner Menschwerdung immer wieder Grenzen überschreiten, die ihm gesetzt werden; nur im Grenzgang, im Überschreiten von Grenzen, wird er sich seiner Menschlichkeit bewußt und setzt diese wirkungsvoll in Szene. Eine Pädagogik, die ihm aus sich heraus dabei neue Grenzen zieht, ihm eigene Entwürfe oktroyieren will, gefährdet von daher seine Menschlichkeit bzw. nimmt ihm die Chance zu deren Verwirklichung. Sie zieht Grenzen innerhalb derer er sich nach moralischen und normativen Vorstellungen der Pädagogen zu entfalten habe.

Um sich den Menschen auf gleicher Höhe zu nähern und ihnen Chancen zu eröffnen zu sich selbst zu finden, zu Wesen für sich zu werden, muß der Pädagoge Partner und Freund sein, der in den Anderen Menschen erkennt, die Experten ihrer eigenen Realität sind, von denen der Pädagoge lernen kann wie man zusammen an der Realität arbeitet um diese zu transformieren. Er muß gewissermaßen "Erleichterer", "Einrichter", "Anstoßer" sein (in Südamerika haben sich hierfür spezielle Begriffe herausgebildet: "facilitador y empujador"), der mit den Betroffenen Dinge so organisiert, daß diese besser als vorher sich mit ihrer Umwelt arrangieren können.

Hierzu muß er es erdulden und ertragen, daß er Werkzeug und Instrument der Menschen wird, mit dem diese an ihrer Situation arbeiten und feilen. Dies aber geht nur, indem der Pädagoge zusammen mit den jeweiligen Menschen deren Realität zu dekodieren und den Unterdrücker im Unterdrückten offen zu legen sucht. Erst daraus erwachsen Strategien für veränderte Handlungsweisen.

Dies bedarf der Anerkennung des Anderen als wissendes und zur Veränderung fähiges Wesen, der Anerkennung des Anderen als kulturschaffendes Wesen. Axel Honneth hat die Sphären der Anerkennung, die für eine partizipative Pädagogik essentiell sind, herausgearbeitet: es ist die emotionale Achtung (Liebe); es ist die rechtliche Anerkennung sich selbst und anderen gegenüber (gleiche Rechte) und es ist die wechselseitige Anerkennung zwischen soziokulturell unterschiedlich individuierten Personen (Solidarität) (Honneth 1992).

Annedore Prengel hat, auf der Basis dieser Definition, die Meßlatte für pädagogische Institutionen entworfen: "Das gesellschaftlich wertvolle Gut, das Schulen und andere pädagogische Einrichtungen aus eigener Machtbefugnis und eigenen Ressourcen zu verteilen haben, heißt intersubjektive Anerkennung jeder einzelnen Person in ihrer je einmaligen Lebenslage" (Prengel 1993, 61).

Dies setzt aber auch voraus, daß die Haltung der Unterdrückten als ihre jeweilige Reaktion auf ihre Situation begriffen wird, als Aspekt ihres Versuches sich ein Stück Menschenwürde zu erhalten. Sie ist als solche zu akzeptieren und sie ist zugleich als Ausgangspunkt der gemeinsamen Arbeit zu begreifen. Anerkennung als Liebe und als Solidarität verstanden heißt, daß Pädagogik die Menschen in ihren Versuchen sich trotz oder wegen marginalisierter und benachteiligter Lebenssituationen wie auch immer einzurichten nicht noch zusätzlich dadurch diskriminieren darf, indem sie diese Versuche direkt oder indirekt anprangert, sie als unzureichend einstuft, sie stigmatisiert und letztlich verwirft.

Um Anerkennung real werden zu lassen hat Freire das dialogische Prinzip entworfen, das man in der neudeutschen Pädagogensprache auch als "Betroffenenorientierung" begreifen kann. Diese Betroffenenorientierung bedarf einer Pädagogik, die jenseits von Fremderziehung nur als Selbsterziehung denkbar ist und Erfahrungen und Kompetenzen des Einzelnen aktiviert. Eine selbsterzieherische Pädagogik ist keine Pädagogik für Arme, die sie zu pathologischen Sozialfällen herabwürdigt und sie zum Ding, zum Klienten macht, sondern sie ist eine Pädagogik der Armen, die von ihnen wesentlich gestaltet ein Kampf um die Wiedergewinnung ihrer Menschlichkeit ist, um Wesen für sich selbst zu werden. Eine solche Pädagogik bedarf auf Seite der pädagogischen Begleiter eines Verstehens der Realität, durch die Armut und Benachteiligung, mithin auch Strassenkarrieren, hervorgerufen und verfestigt werden, in der Menschen leben und in der sie Wege zur Bewältigung ihrer Situation finden müssen.

Freire nannte diesen verstehenden und zugleich aktivierenden Prozeß im Gegensatz zur Bankiers-Methode der Erziehung, die von außen Bildungsziele und pädagogische Inhalte in die Klienten einlagert, eine problemformulierende Methode, die in der Lebenswelt Betroffener im Dialog zwischen pädagogischem Begleiter und ihnen Probleme aufdeckt und so zur Arbeit an ihnen führt. Im neueren pädagogischen Diskurs hat dies Parallelen zur lebensweltorientierten Sozialarbeit. Diese basiert nicht auf einem normativen Rahmen, der richtigem Leben seine Ziele gibt, sondern sie ruht auf dem Eigensinn lebensweltlicher Unterschiede.

Pädagogik und vor allem Sozial-Pädagogik muß dabei klären und verstehen, welche Handlungsmöglichkeiten und Kompetenzen vorhanden sind und erweitert werden können, was Betroffene wollen und können; Betroffene sind dabei als lebenserfahrene Menschen zu erkennen. Das Material für die pädagogische Intervention liefern sie selbst, es wird zur Grundlage des Hilfeprozesses und mobilisiert Eigenkräfte. Dieser Verstehensprozeß baut auf den dialogischen Prozeß wie er von Paulo Freire beschrieben wurde (Freire 1973, 72): "Weil Dialog Begegnung zwischen Menschen ist, die die Welt benennen, darf er keine Situation bilden, in der einige Menschen auf Kosten anderer die Welt benennen. ... Er darf nicht als handliches Instrument zur Beherrschung von Menschen durch andere dienen. Die Herrschaft, die der Dialog impliziert, ist die Beherrschung der Welt durch die im Dialog Befindlichen."

Der pädagogische Begleiter muß den Betroffenen ein offener Dialogpartner sein, einziges methodisches Instrumentarium ist seine Dialogfähigkeit: "In einer humanisierenden Pädagogik", so Freire, "ist die Methode nicht länger ein Instrument mit dessen Hilfe manipuliert wird. Ihr einzig wirksames Instrument ist der dauernde Dialog" (Freire 1973, 54). Indem im dialogischen Prozeß Kompetenzen schrittweise aktiviert und freigelegt werden, beginnt der Betroffene sie wieder für sich anzuwenden. Die Zielsetzung dieses Prozeß ist Lebensbewältigung als eine adäquate Reaktion auf Armut und Not. Lebensbewältigung meint die Aktivierung von Kompetenzen und Fähigkeiten, existentielle, institutionelle und persönliche Hilfen für sich selbst zu instrumentalisieren, um den eigenen Lebensentwurf umzusetzen.

Es geht folglich um eine Re-Organisation des Alltags, in der pädagogische Begleiter Diskurspartner, Makler, Mittler und Anwälte sind ("facilitadores y empujadores": Erleichterer, Einrichter, Anstoßer), Schlüsselpersonen zwischen Betroffenen und potentiellen Hilfsquellen, die sie diesen aufschließen helfen. Dabei sind sie zugleich aber auch Menschen, die sich zurückhalten. Das aber setzt Offenheit voraus: Offenheit der Einrichtung, Offenheit hinsichtlich der Problematik der Betroffenen und Offenheit hinsichtlich der Vielfalt möglicher Lösungswege.

Diese "Offenheit der Einrichtungen" aber ist entscheidend: eine partizipative Pädagogik wird nur dort möglich, wo die Einrichtungen es auch ermöglichen wollen und können. Solange diese von dem Gedanken einer nahezu ausschließlich bei ihnen liegenden Verantwortung für Erziehungs- und Bildungsprozesse überzeugt sind und ihre Tätigkeiten dementsprechend organisieren, solange sie sich als die Protagonisten der Prozesse verstehen, wird eine partizipative Pädagogik, wie sie hier skizziert wird, immer nur eine leere Hülse sein, die keine Realität formende Wahrheit beanspruchen kann. Erst wenn die Offenheit der Einrichtungen die Adressaten ihrer Tätigkeiten zu wirklichen Protagonisten werden lässt, dann wird das möglich. Duie bedarf eines ganzheitlichen Verständnisses der Einrichtungen und es ruht auf dialogischen und problemformulierenden Prozessen.

Die problemformulierende Methode bestätigt den Menschen als ein Wesen im Prozeß des Werdens, als unvollendet und unfertig (Freire 1973, 68). Dies beinhaltet auch ein Offenhalten der Biographie, es bedeutet vor allem auch eine Pluralität von Entfaltungschancen zu wahren, Gestaltungsmöglichkeiten der Menschen zu erweitern und die Biographie in Fluß zu halten.

Damit verabschiedet sich eine an Betroffenen orientierte Sozial-Pädagogik grundlegend von einem ihrer uralten Zöpfe: Eine Hilfe, die Menschen als Subjekte ihres Lebens und der Gestaltung der Lebenswirklichkeit ernst nimmt, muß mit dem verbreiteten Paradigma "Menschen dort abzuholen, wo sie stehen" aufhören, sie hat sich vielmehr auf den Standpunkt der Menschen zu begeben und von dort aus zu sichten, welche Perspektiven überhaupt erkennbar und entwickelbar sind, welche Umstände die individuelle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben fördern, hemmen oder unmöglich machen. Den Weg dorthin kennen aber nur die Betroffenen selbst!

Grundlegend für diesen Gedanken einer partizipativen Pädagogik ist allerdings ein Gravitationszentrum, um das sich menschliches Handeln und Umweltaneignung als Kulturgestaltung bewegen und bewegen muß. Das in Grundzügen skizzierte Konzept bedarf eines Fixpunktes, an dem sich die Entfaltungsmöglichkeiten menschlichen Handelns orientieren und dessen Ergebnisse in ihrer Wirkung auf die involvierten Menschen bewertbar machen. Das Glück der Einen darf nicht das Schicksal der anderen sein, die Freiheit der einen kann nicht die Unfreiheit Anderer bedingen.

Dem Gedanken einer partizipativen Pädagogik, die auf dem Menschen als kulturschaffendem Wesen ruht und den pädagogischen Dialog als Zentrum hat, ist das Konzept der menschlichen Entwicklung geradezu immanent. Menschliche Entwicklung meint dabei die Ausweitung menschlicher Gestaltungsmöglichkeiten ohne andere zugleich zu beengen.

Menschliche Entwicklung

Die Vereinten Nationen veröffentlichen seit dem Beginn der neunziger Jahre im Jahresabstand Berichte zur Menschlichen Entwicklung, in denen sie das Konzept menschlicher Entwicklung definiert haben (DGVN 2000). Menschliche Entwicklung wird darin als ein Prozeß begriffen, der die Wahlmöglichkeiten der Subjekte erweitert. Dies ist nur durch eine Ausweitung der Lebens- und Entwicklungschancen erreichbar.

Menschliche Entwicklung wird damit zu einem universellen Wert, der als Prozeß des Wachsens und Gestaltens begreifbar ist. Er ruht wesentlich auf einer Zunahme von Entscheidungsmöglichkeiten, die für menschliches Leben und menschliches Werden unabdingbar sind. Hierzu gehören politische, ökonomische, soziale und kulturelle Chancen, durch die Türen zu Kreativität und Produktivität geöffnet werden. Dies impliziert zugleich die Entfaltung menschlicher Kompetenzen wie Selbstachtung, Handlungsfähigkeit und das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die Anerkennung und Identität vermittelt.

Menschliche Entwicklung als Handlungsmodell basiert auf vier Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, damit Menschen sich ungehindert entwickeln können ohne zugleich andere in ihren Entwicklungschancen einzuschränken:

  1. Produktivität: Menschen müssen in der Lage sein, ihre Produktivität zu erhöhen und an der Erzielung von Einkommen und der Ausübung einer bezahlten Beschäftigung beteiligt sein.
  2. Gleichberechtigung: Menschen müssen einen gleichen Zugang zu Chancen haben; deshalb müssen Hindernisse für politische und ökonomische Chancen, wenn sie auftreten, beseitigt werden.
  3. Nachhaltigkeit: Der Zugang zu Chancen kann und darf nicht nur für die heutige Generation gelten, er muß auch für weitere Generationen gesichert sein.
  4. Ermächtigung: Entwicklung kann letztlich, und das ist das für den pädagogischen Diskurs Wesentliche, nicht für die Menschen verwirklicht werden, sondern ausschließlich nur durch sie: Sie müssen voll und ganz den Prozeß und notwendige Entscheidungen wesentlich selber treffen.

Menschliche Entwicklung, wie ich sie hier kurz skizziert habe, ist geprägt von freier Entfaltung menschlicher Kulturfähigkeit. Entwicklung ist dabei kein Ziel, das es zu erreichen gilt, sie ist ein Prozeß, ein Weg, in den Menschen involviert sind und der nur von den Menschen selbst getragen und vorangetrieben werden kann. Zweifellos gibt es genügend Situationen und gesellschaftliche Verhältnisse, die diesen Prozeß einengen, verhindern, blockieren; es gibt immer wieder Momente und Institutionen, in denen andere Menschen über Menschen Entscheidungen treffen; auch in der Pädagogik ließen sich hier vielfältige Beispiele explizieren. Dies macht sicherlich dann Sinn oder ist sogar notwendig, wenn Menschen nicht mehr oder noch nicht in der Lage sind, die Folgen von Entscheidungen abzuschätzen. Doch diese Momente sind durch außergewöhnliche Situationen, durch Krankheit und Alter definitorisch äußerst eng gefasst.

Jenseits dieser eng gefassten Situationen geht es aber um das Folgende: Um Menschen ihre Würde zu lassen bzw. wieder zu geben und sie zu Wesen für sich werden zu lassen, muß ihnen die Chance zur menschlichen Entwicklung als einem Prozeß eröffnet werden. In der neueren pädagogischen Debatte hat sich der Begriff des "Empowerments" eingebürgert, der nichts anderes meint als Ermächtigung. Eine partizipative Pädagogik als ein Werkzeug verstanden, das sich die Menschen für ihre eigene wie auch immer geartete Lebenssituation aneignen können, um ihre Situation zu verändern, will dazu beitragen, daß Menschen sich vermehrt selber "bemächtigen" am Prozeß menschlicher Entwicklung teilzunehmen. Eine solche Pädagogik stellt, wenn sie in Anspruch genommen wird, Methoden und Wissen für eine bessere Kommunikation, für eine stärkere Solidarisierung, für eine lebendige Demokratisierung und für eine selbstbestimmte Kultur zur Verfügung.

Diese "Empowermentprozesse" setzen konsequent auf die Kompetenzen und Stärken der Menschen, auf die Tatsache, daß sie kulturschaffende Wesen sind. "Das Potential und die Fähigkeiten", schreibt Wolfgang Stark, "das eigene Leben und die sozialen Zusammenhänge gemeinsam zu gestalten, die Ressourcen zu nutzen und zu erweitern, ist bei uns allen und in vielen sozialen Situationen vorhanden" (Stark 1996, 17).

Es geht einer partizipativen Pädagogik deshalb darum, Menschenkräfte in Selbstorganisation zu entwickeln, soziale Netze als Kommunikationsorte und Kultur als Identitätsofferten zu entwerfen. Empowerment als Methode bringt die Kulturfähigkeit des Menschen auf den Begriff: Die Idee des Empowerment ist geprägt, "von welchem Ausgangspunkt auch immer, einen Prozeß der Gestaltung und Gestaltbarkeit sozialer Lebensräume zu beginnen" (Stark 1996, 11), der ausschließlich von den Menschen gestaltet wird und wobei sie sich der Pädagogikofferte bedienen können. Es sollen dabei vor allem Optionen erweitert werden, die menschliche Entwicklung fördern und nachhaltig sichern.

Partizipative Pädagogik lebt vom Gedanken einer menschlichen Entwicklung und somit von der Idee der Selbstbestimmung, die es noch kurz zu definieren gilt: Menschen analysieren ihre Situation und machen Vorschläge zu deren Veränderung; hierfür erhalten sie Mittel und Möglichkeiten, um mit eigenen Leistungen und in eigener Verantwortung die Maßnahmen zu deren Erreichung durchzuführen. Der Pädagoge ist dabei Begleiter und Partner, er stellt sein Wissen und Können zur Verfügung.

Straßenpädagogik als partizipative Pädagogik

Die soeben skizzierte Prozesshaftigkeit ist nur denkbar als "eigenständiger Weg jedes einzelnen Kindes" (Prengel 1993, 190). Niemand weiß, wann ein Jugendliche in einer besonderen Lebenslage sagt, ich will jetzt doch wieder in die Schule gehen oder sich endgültig für eine Alternative entscheidet. Das kann auch nicht durch eine noch so "sanfte Beeinflussung" des Pädagogen herbeigeführt werden. Die Unbestimmbarkeit des Menschen durch äußerliche Zwänge, die lediglich seine prinzipielle Kulturfähigkeit als Prozeß akzeptiert, steht dem entgegen. Den ersten Schritt selber zu tun ist hingegen wirkliche Aneignung und führt dazu sich als Wesen für sich zu begreifen und zu erleben.

Dennoch bedürfen gerade jene Jugendlichen, die sich zunächst einmal für eine Strassenkarriere entschieden haben um für sie belastenden Situationen zu entgehen, einer gewissen Ansprache, um zum einen die Hintergründe ihrer Entscheidung zu analysieren und um zum anderen daraus Konsequenzen für die Gestaltung ihrer Zukunft zu ziehen. Das aber bedarf einer grundsätzlichen Überzeugung: "Kindern und Jugendlichen sollte nicht gezeigt werden, was aus ihnen werden soll, sie brauchen vielmehr Begleitung und Unterstützung auf dem schwierigen Weg der Gestaltung ihres eigenen Lebens" (Prengel 1993, 191).

Es geht einer partizipativen Pädagogik vor allem um die Autonomie der Subjekte! Dabei müssen sie zu Protagonisten ihrer eigenen Realität werden, in der sie ohnehin im Mittelpunkt stehen, da es ihre Welt ist, um die es geht. Protagonismus von Kindern und Jugendlichen meint, daß diese die Hauptdarsteller sind und Lösungen für ihre Situation wesentlich von ihnen gestaltet werden. Damit aber nimmt eine solche Vorstellung Abschied von dem oben skizzierten europäischen Kindheitsbegriff. Das Kind und der Jugendliche werden hingegen als Wesen entworfen, die durchaus fähig sind Eigenverantwortung und Eigengestaltung ihres Lebens zu tragen.

Sozialpädagogik hat aber zumeist mit dem Gedanken der Rettung auf der Straße liegender junger Menschen reagiert, stattdessen müsste sie eine neue „Straßenpädagogik“ entfalten, die von den Menschen ausgeht und diese als Protagonisten sieht. Dafür muß die Sozialpädagogik zunächst einmal den Blick nach Lateinamerika richten und lernen, wie man die Straße als das wahrnimmt, was sie den Menschen bedeutet, nämlich Lebensraum zu sein (v. Dücker 1998).

Was der Sozialpädagogik zumindest theoretisch klar ist, daß Sozialarbeit als Normalisierungsarbeit vor allem auch milieustabilisierende Alltagsarbeit ist, die den Individuen eine soziale Aktivierung ihrer Fähigkeiten im Milieu erst ermöglicht (Böhnisch 1994, 233), wird dort praktiziert, indem man mit den Menschen auf der Straße arbeitet und dort mit ihnen zusammen Perspektiven entwickelt, sie also nicht abholt sondern bei ihnen bleibt, sie für einige Zeit begleitet.

Die Straße als sozialer Ort, als besondere Lebenslage, bringt in unserem gesellschaftlich-kulturellen Kontext Protest und Suche von Kindern und Jugendlichen gegen Orte zum Ausdruck, die sie gerade verlassen haben: Familie und Heim. Konsequent wäre deshalb eine Sozialpädagogik, die dies akzeptiert und eine Hinwendung zur Straße wagt. Dies setzte aber auch ein anderes Bild des Kindes und Jugendlichen auf der Strasse voraus. Man kann und darf diese Menschen nicht mehr als gefallene oder vernachlässigte Wesen begreifen, die in Gefahr stehen zu verwildern; man muß diese Menschen vielmehr als durchaus autonome Subjekte sehen, die sehr wohl Entscheidungen für sich selber treffen können und es auch tun. Sie sind eben durchaus die Hauptdarsteller, die Protagonisten, in ihrem Leben: Ihre Situation, auf der Strasse zu sein und sich gewissen Dingen zu entziehen, ist ja bereits Ausdruck ihrer prinzipiellen Gestaltungs- und Kulturfähigkeit; es demonstriert ihren Wunsch sich zu entwickeln. Ihr Strassenleben ist deshalb auch als Reflex ihres Versuches zu sehen, Alternativen zu belastenden Situationen finden. Daran muß eine partizipative Pädagogik als Strassenpädagogik ansetzen.

In einem eher journalistischen Buch wird ein überraschend positives Bild des „deutschen Strassenkindes“ entworfen: „Wir sollten auch die Kreativität und die Fähigkeiten anerkennen, die diese Kinder und Jugendlichen, die ihren Lebensmittelpunkt weitgehend auf die Straße verlagert haben, besitzen. Hier sollte man vielleicht mit der Hilfeleistung ansetzen, an dem, was sie können. Man müßte überlegen, wie ihnen Ressourcen aufgeschlossen werden können, mit denen sie weiter umgehen, also ihre positiven Seiten und ihre Kreativität und ihre Lebensstärken fördern, die sie sich ja auch auf der Straße aneignen. Das erfordert eine unheimliche Kreativität, wie die ihr Leben meistern müssen. Darum sollten wir uns kümmern. Mit Mitleid kommen wir nicht weiter.“ (Heins 1996, 142)

Eine solche Wendung zum Subjekt, wir müssen eben von den Menschen ausgehen, bedarf einer anderen Vorstellung von Normalität. Darin geht es um eine Re-Organisation des Lebens und nicht um eine Re-Sozialisation sozial Auffälliger. Diese aber baut auf den Fähigkeiten der Menschen auf und will deren Stärken fördern und nicht Defizite therapieren.

Paulo Freire hat immer die Auffassung vertreten, daß die Menschen sehr wohl zu den Gestaltern ihrer eigenen Geschichte werden können (Freire 1973). Sie müssen sich nur ihrer eigenen Abhängigkeit und zugleich ihrer eigenen Fähigkeiten, diese zu überwinden, bewußt werden. Befreiung und Überwindung der Armut ist durch bewußt eingeleitete Lernprozesse und das eigene Erkennen der beengenden Verhältnisse möglich.

Deshalb ist in Lateinamerika eine „Erziehung auf der Straße“ das Grundprinzip einer vom Lebensfeld des Straßenkindes ausgehenden Pädagogik: „Für die auf der Straße lebenden Kinder muß daher die Straße Lernstoff bleiben und die Problematik eines menschlichen Lebens auf der Straße ständig thematisiert werden“ (v. Dücker 1998, 85). Das läßt sich auf unsere Situation übertragen: Die eigene Lebenssituation muß Kindern und Jugendlichen in besonderen Lebenslagen bewußter werden, sie darf keinesfalls ausgeklammert bleiben. Aus der Analyse der eigenen Situation heraus können diese Kinder und Jugendlichen dann für sich selbst neue Lösungen entwerfen und eigenverantwortlich an deren Verwirklichung herangehen.

In diesem Prozeß, und das ist das eigentlich Schwierigste, muß der „Erzieher“ die Probleme seines „Zöglings“ zum eigenen Lernziel erklären. Er wird zum „Schüler-Lehrer“ bzw. der Betroffene wird zum „Lehrer-Schüler“ (Freire 1973). So aber erhält Straßenpädagogik eine völlig neue pädagogische Dimension: „Die StraßenpädagogInnen werden mit einem ihnen bislang fremden, so noch nicht gelebten Lernstoff konfrontiert, der ausschließlich von den Problemen, aber auch von den gemachten „Erfahrungen“ der Kinder bestimmt ist“ (v. Dücker 1998, 85). StraßenpädagogInnen werden zu Schülern des auf der Straße lebenden Kindes und des Jugendlichen; das aber heißt: von und mit dem Heranwachsenden lernen. Das nun aber macht die Kinder und Jugendlichen zu Protagonisten.

Eine so verstandene Strassenpädagogik ist, bspw. in der Freiburger Strassenschule, längst ein Handlungsfeld, sie ist aber zugleich ein völlig unterentwickeltes pädagogisches Feld, das sich noch im Experimentierstadium befindet und dem zudem große Skepsis der etablierten Pädagogik entgegen schlägt. Schließlich werden dabei Kinder und Jugendliche zu den Gestaltern ihrer eigenen Schule, dies greift institutionelle Selbstverständlichkeiten an und stellt sie grundlegend in Frage. Dennoch scheint mir dies ein Weg der Zukunft zu sein, der vor allem auch für jene Bildung realisiert, die aus den Bildungsinstitutionen herausfallen, da diese sich deren Bedürfnissen und Situationen nicht öffnen. Erst wenn Kinder im Sinne von aktiven Gestaltern ihrer Umwelt zu Protagonisten der Schulen werden, die diese dabei wesentlich formen, wird sich dies grundlegend ändern.

Der Prozeß hoffnungsvoller Suche

Strassenpädagogik zeigt die Chancen einer partizipativen Pädagogik, die einen zentralen Topos von Paulo Freire Ernst nimmt: Es wäre ein schreiender Widerspruch, wenn sich das menschliche Wesen, das sich in unfertigem Zustand befindet und sich dessen bewußt ist, nicht in einen permanenten Prozeß hoffnungsvoller Suche einbrächte (Freire 1973).

Dazu gehört es aber zu begreifen, daß soziale Auffälligkeit, sei es nun die eruptive Jugendgewalt oder seien es Strassenkarrieren, keine Auffälligkeit darstellt, die es zu beseitigen gilt, sondern Zeichen einer Suche, eines Aufbruchs, sind, die zunächst einmal mit vorhandenen Mitteln gestaltet werden aber prinzipiell auch anders gestaltet werden können. In diesem Aufbruch nämlich zeigt sich, daß auch Kinder und Jugendliche zum Hauptdarsteller ihres Lebens werden wollen und auch können.

Literatur

  • Böhnisch, Lothar: Gespaltene Normalität, Weinheim 1994
  • DGVN (Hg.): Bericht über die menschliche Entwicklung, Bonn 2000
  • Dubet, Francois: Die Logik der Jugendgewalt, in: Trotha, Trutz von (Hg.): Soziologie der Gewalt, Opladen 1997, S. 220-234
  • Dücker, Uwe von (Hg.): Straßenkinder in Deutschland und Lateinamerika – ein interkultureller Vergleich aus sozial- und entwicklungspolitischer und methodisch-konzeptioneller Sicht, Frankfurt am Main 1998
  • Engler, Wolfgang: Das halbierte Gewissen, in: Kursbuch 113/1993, S. 117-128
  • Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten, Reinbek 1973
  • Greverus, Ina-Maria: Kultur und Alltagswelt, München 1978
  • Hanesch, Walter (Hg.): Stirbt die Soziale Stadt. Konzeption, Krise und Perspektiven kommunaler Sozialstaatlichkeit, Opladen 1997
  • Heins, Rüdiger: Zu Hause auf der Straße, Göttingen 1996
  • Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung, Frankfurt am Main 1992
  • Lutz, Ronald/Bernd Stickelmann (Hg.): Weggelaufen und ohne Obdach, Weinheim 1999
  • Lindner, Rolf: Straße, Straßenjunge, Straßenbande, in: Zeitschrift für Volkskunde, II/1983, S. 192-208
  • Miller, Max/Soeffner, Hans-Georg (Hrsg.): Modernität und Barbarei, Frankfurt am Main 1996
  • Prengel, Annedore: Pädagogik der Vielfalt, Opladen 1993
  • Schneider, Peter: Erziehung nach Mölln, in: Kursbuch 113/1993, S. 131-141
  • Stark, Wolfgang: Empowerment, Freiburg 1996
  • Thiersch, Hans: Straßenkinder - Arbeit mit Straßenkindern in der 3. Welt, in: Thiersch, Hans: Lebensweltorientierte soziale Arbeit, Weinheim 1992, S. 57-65