Wer haut den Lukas? - Gewalt als pädagogische Herausforderung

von Andreas Schauder

Vorbemerkung

Die Gewaltproblematik scheint mehr denn je aktuell in der Praxis der schulischen und außerschulischen Jugendarbeit zu sein, immer mehr Projekte im Sinne einer Gewaltprävention werden kreiert und realisiert. Gleichzeitig findet eine Auseinandersetzung mit den Fragen und Hintergründen gewalttätigen Handelns statt, dies sowohl in der eigenen Auseinandersetzung mit der eigenen persönlichen Betrachtungsweise von Gewalt und dem eigenen Verhalten, als auch in der Frage nach den gesellschaftlichen Zusammenhängen von Gewalt.

Eine weitere Ebene der Annäherung an die Phänomenologie der Gewalt ergibt sich aus der Perspektive der Kinder und Jugendlichen, mit denen - mehr oder weniger erfolgreich - pädagogisch gearbeitet wird und den Fragen nach den institutionellen Determinanten, innerhalb derer diese Pädagogik verwirklicht wird.

Der folgende Beitrag versucht, den Begriff der Gewalt aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu reflektieren und den Fragen nach pädagogischen Konsequenzen nachzugehen. Die Ansätze Paulo Freires und seine Forderungen an eine befreiende Pädagogik bilden in diesem Zusammenhang die Grundlage eines Präventionsansatzes, der ein erweitertes Verständnis der Gewaltproblematik impliziert.

Gewalt als Teil des menschlichen Seins

„...ich erklärte aber, dass ich künftig bei der geringsten Beleidigung einem oder dem anderen die Augen auskratzen, die Ohren abreißen, wo nicht gar ihn erdrosseln würde.“ (Johann Wolfgang v. Goethe)

Eine Annäherung an den Begriff der Gewalt und den Versuch einer eindeutigen Definition ist in vielerlei Hinsicht schwierig, da es die Gewalt nicht gibt. Jede gewaltsame Situation in der Beziehung zwischen Menschen hat ihren besonderen Hintergrund und ihre Ursachenzusammenhänge. Der Gewaltbegriff in seiner Mehrdeutigkeit und Vielschichtigkeit kann zunächst einmal als Phänomen des Menschseins betrachtet werden, ein Phänomen, das so alt ist wie die Menschheit selber. Gewalt stellt eine Konstante in der Anthropologie dar, sie gehört „zur hässlichen Tradition des Menschseins“. Gewalt in dieser Betrachtung versteht sich als destruktive Verhaltensform von Menschen gegenüber ihrer Umwelt, die in Korrespondenz zu den jeweiligen Machtverhältnissen einer Gesellschaft steht. Kurz: Was unter Gewalt verstanden wird, ist abhängig von der bestehenden Ordnung, ihren Werten und den verhaltensbestimmenden Normen.

Nicht zu vergessen ist jedoch, dass neben der tatsächlichen Gewalt im Alltag, der unendlichen Aneinanderreihung von kriegerischen Auseinandersetzungen,der Unterdrückung und Marginalisierung von Schwächeren auch die Fähigkeit des Menschen, gewaltpräventive und konfliktlösungsorientierte Handlungs- und Verhaltensweisen sich entwickelt haben. Der „hässlichen Tradition“ steht somit das erlernbare Vermögen des Individuums gegenüber, gewaltfreie und lösungsorientierte Strategien zu entwerfen und zu leben, konkrete soziale Kompetenzen umzusetzen. Darin finden sich die Ziele und die Forderungen an eine zivilisierte und aufgeklärte pädagogische Konzeption, die zu gewaltpräventivem Handeln führen soll.

Eine Unklarheit bezüglich des Gewaltbegriffes besteht - auch in der Fachliteratur - in der unzureichenden Abgrenzung zu aggressiven Verhaltensweisen von uns Menschen. Aggression im Kontext pädagogischer Überlegungen versteht sich m.E. im Sinne einer angeborenen, möglichen Verhaltensvariablen des Menschen, die nicht per se zu einem gewalttätigen bzw. destruktiven Verhalten führen muss. Nicht die Abschaffung der Aggression sollte nach diesem Verständnis das Ziel pädagogischer Interventionen sein, sondern der bewusste Umgang damit. Ruth Cohn differenziert Aggressionen folgendermaßen: „Aggressionen sind. Sie sind

  1. aktives zielgerichtetes Eingreifen in Vorgänge;
  2. Entladung emotionaler Spannungen;
  3. Kampf gegen Destruktivität;
  4. Feindseligkeit.“

Hier wird deutlich, dass Aggressionen nicht gleich Gewalthandeln bedeuten müssen, dass sie - im Gegenteil - dem zielgerichteten Eingreifen gegen Destruktivität dienlich sein können. So ist jeder Mensch aufgefordert, seine eigenen aggressiven Verhaltensweisen zu reflektieren und sich mit ihnen auseinander zu setzen. Die Akzeptanz des eigenen Aggressionspotentials ist Voraussetzung für einen kultivierten, sozialverträglichen Umgang damit.

Gewalttätiges Handeln und Aggressionspotentiale sind ein Teil des menschlichen Seins, gehören zu uns, wie eine Krankheit ein Teil des Lebendigseins ist. So wird der Begriff - außer in strafrechtlichen Definitionen - immer ein unscharfer bleiben. Was von einer Person als Gewalt erlebt wird, kann von der nächsten schon als „normal“ oder „harmlos“ angesehen werden. Zur Gewalt gehört auch das, was wir schon gar nicht mehr als solche wahrnehmen und somit als Nicht-Gewalt oder versteckte Gewalt zählt, etwa die Verkehrstoten, die in keiner Gewaltstatistik auftauchen.

In einer Zeit, in der auch in Deutschland die Kriegführung als außenpolitisches Instrument ohne große Diskussionen akzeptiert wird, scheint der Gewaltbegriff mehr und mehr schwieriger einzuordnen. Gewalt ist nicht nur das, was die Gesellschaftsordnung per Gesetz definiert. Gewalt entsteht im entsprechenden gewaltakzeptierenden Klima. So gewöhnen wir uns an die Allgegenwärtigkeit von Gewalt im Alltag (in den Medien, in den kommerzialisierten virtuellen Welten der Film- oder Videobranche oder in der Politik), sodass selbst ein Krieg in Europa nicht zu einem kollektiven Aufschrei der ehemals friedensbewegten Kreise führt, oder wenn doch, so leise, dass es kaum vernommen wird.

Ein Charakteristikum von Gewalt in ihren verschiedensten Erscheinungsformen muss - insbesondere in Hinblick auf eine pädagogische Auseinandersetzung mit dem Thema - immer wieder problematisiert werden: Gewalt ist primär ein männliches Phänomen. Ohne die besonderen Formen weiblicher Gewalt außer Acht zu lassen, ist augenfällig, dass sowohl in Täter- wie auch in Opferstatistiken in erster Linie Männer von den Folgen gewalttätigen Handelns betroffen sind bzw. Gewaltausübende sind. Eine Ausnahme stellt dabei die sexuelle Gewalt, Ausbeutung und Nötigung dar, bei der primär weibliche Opfer von männlicher Gewalt betroffen sind. Dies spiegelt die gesellschaftlichen Machtverhältnisse wider, die von einer Männerdominanz geprägt in patriarchalischen Strukturen funktioniert. Der so häufig zitierte Gender-Aspekt in gesellschaftlichen Entwicklungsfragen muss stärker in die pädagogische Diskussion um Gewaltfragen einfließen, nicht nur auf der Ebene theoretischer Erläuterungen, sondern in den konkreten Realisierungsformen der pädagogischen Praxis und anderen Bereichen.

Die aktuelle Diskussion über die Jugendgewalt

„Die Gesellschaft muss schon einen Blick darauf werfen, denn sie ist es ja, die sie hervorbringt.“ (Victor Hugo)

Es vergeht heute kaum ein Tag, an dem nicht von Jugendgewalt, Bandenkriminalität oder ähnlichem berichtet wird. Die Ereignisse scheinen sich zu überschlagen: körperliche Gewalt und Erpressung auf Schulhöfen, ausländerfeindliche und rechtsradikale Gewaltakte von Jugendlichen auf offener Straße, steigende Gewalt- und Diebstahlsdelikte von Jugendlichen, Waffenbesitz und entsprechende Anwendung schon bei Kindern. Die Schlagzeilen des Amoklaufs eines Schülers in Littleton, bei dem 12 Schülerinnen und Schüler sowie ein Lehrer den Schüssen zweier amoklaufenden Schüler zum Opfer fielen, haben aufgeschreckt und die Angst geschürt, dass es auch in unseren Schulen bald solche Zustände geben kann.

Es entsteht der Eindruck, dass Pädagoginnen und Pädagogen heute in einer extremen Form mit dieser Problematik konfrontiert sind. Sicherlich ist auffällig, dass in Polizeistatistiken eine quantitative Zunahme jugendlicher Gewaltdelikte zu verzeichnen ist. Die Frage ist nur, ob es tatsächlich eine starke und ungewöhnliche Vermehrung jugendlicher Gewalt gegeben hat oder gibt, oder ob wir aktuell stärker sensibilisiert sind, dieses Phänomen zu erfassen und zu erklären versuchen.

Bedenklich erscheint mir die Fokussierung des Gewaltphänomens auf die Jugendlichen in unserer Gesellschaft. Gewalt als Symptom ist nicht ein plötzlich auftretendes Unwetter, das über Nacht entsteht und eine Spur der Verwüstung hinterlässt. Gewalt ist wie schon erwähnt ein Teil unserer gesellschaftlichen Realität und spiegelt letztlich (Fehl-)Entwicklungen in Bezug auf Angelegenheiten der Jugendlichen wider. Die zu starke Reduzierung des Gewaltphänomens auf die Jugendlichen lenkt ab von den Fragen, inwieweit wir Erwachsenen den Kindern und Jugendlichen mit guten oder mit schlechten Beispielen vorangehen, sei dies in der Politik, im Sport, in der Wirtschaft, in der Schule oder im Elternhaus.

Insofern ist die erweiterte Fragestellung nach den Hintergründen jugendlicher Gewalt eng verbunden mit den Fragen nach den offen oder versteckt vorhandenen Gewaltformen in der Erwachsenenwelt, die von allen - und nicht nur von Sozialwissenschaftlern und Pädagogen - diskutiert und verbessert werden müssen.

Der Ruf nach dem Erziehungsauftrag der Schule wird schnell laut seitens der Führungskräfte des Polizeiwesens und der Politik. Ohne Zweifel nimmt die Schule eine zentrale Stellung in der Sozialisation unserer Kinder ein, die eindimensionale Sichtweise auf die schulpädagogischen Forderungen an eine Gewaltprävention ist jedoch belanglos, wenn sie nicht durch einen umfassenden, interdisziplinären Diskurs über soziale Fragen und deren konkrete Problembereiche nicht nur diskutiert sondern auch konkret - im Sinne einer Verbesserung - ersetzt wird. Und dies auf allen Ebenen gesellschaftlicher Einrichtungen: der Politik und des kommunalen Gemeinwesens, der Schule und der Familien.

Gewalt als Symptom

Als Jugendlicher stemmte ich manchmal einen Sessel mit den Zähnen hoch, in der Hoffnung, dass meine Schwächen von so viel Stärke widerlegt werden. (Peter Turrini)

Gewaltphänomene spiegeln jedoch nicht nur die gewaltakzeptierende Haltung und das gewaltbegünstigende Klima in unserer Gesellschaft wider, sie sind auch häufig Indikator für den problematischen Zustand des Innenlebens von jugendlichen Gewalttätern. So sind mir in meiner sozialpädagogischen Tätigkeit mit sog. dissozialen Jugendlichen eine große Zahl junger Menschen begegnet, die - als Gewalttäter verurteilt oder zumindest aktenkundig geworden - im Rahmen therapeutischer Betreuung mit ihrer eigenen Gewaltbereitschaft und deren Anwendung konfrontiert werden. Nach intensiven Gesprächen mit den Jugendlichen und der Kenntnis des sozialen Umfeldes von Familie, Schule und Gleichaltrigengruppe unternehme ich den gedanklichen Versuch, mich selbst anstelle des Jugendlichen zu setzen und mich zu fragen, welche Formen und Strategien der Konfliktlösung ich wohl anwenden würde, nachdem ich diese Sozialisation durchlaufen hätte. Mir fällt es mehr und mehr schwer, jugendliche Gewalttäter (bis hin zu einem damals 17jährigen Mörder) primär als Täter zu betrachten. Dies ist stimmig in Hinblick auf die juristisch relevante Straftat, die sie begangen haben. Unstimmigkeiten treten dann auf, wenn es um die Frage geht, wer dafür verantwortlich ist, dass die jugendlichen Kriminellen so geworden sind, wie wir sie heute erleben und sie als therapeutisches Klientel und sozialpädagogischen Fall „bearbeiten“.

Ein „Fall“ ist mir unter vielen besonders in Erinnerung geblieben: Florian , 17 Jahre alt, ist der Jugendanwaltschaft als stark gewalttätig bekannt, hat bereits in seinen jungen Jahren eine kriminelle Laufbahn hinter sich, die in einem bewaffneten Raubüberfall auf ein älteres Ehepaar gipfelte. Im Laufe der gerichtlichen Verhandlungen kommt eine beachtliche Anzahl weiterer Delikte zum Vorschein - Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz, Erpressungen, Gewaltdelikte, Sachbeschädigungen -, ein gewalttätiger Jugendlicher also. Verfolgt man Florians Biographie, so kommt dabei wenig Erbauliches zum Vorschein: Seine Mutter ist Prostituierte, sein Vater unbekannt, Gewalterfahrung körperlicher und verbaler Natur begleiten Florian in seinem Leben von frühen Kindesjahren an, sie werden zu einer Selbstverständlichkeit für ihn. Gleich den ihn umgebenden Erwachsenen verfügt Florian über ein sehr eingeschränktes Verhaltensrepertoire, ist schnell reizbar und artikuliert sich schon bei kleinen Belangen unter Anwendung von Gewalt.

Seine schulische Karriere ist eine Odyssee, da keine Schule ihn ertragen kann oder will, mit Beendigung der Schulpflicht wird er ganz aus der Schule ausgeschlossen. Seine Aktivitäten auf der Straße sind meist illegal, Diebstähle, Erpressungen und Gewaltakte werden von ihm verübt, hinzukommt, dass er durch regelmäßigen Heroinkonsum versucht, seine Gefühlswelt zu betäuben und sich stark zu fühlen. In Florians Leben treffen alle negativen Erfahrungen mit seiner Umwelt gebündelt auf, er ist halt- und rastlos, hat nach eigenem Bekunden „nichts mehr zu verlieren“, hat sich so weit schon aufgegeben, dass selbst die Verurteilung nach dem Erwachsenenstrafrecht mit der drohenden Gefängnisstrafe ihn nicht vor weiteren Gewaltdelikten abschrecken kann.

Dieses Fallbeispiel erscheint extrem, wie aus dem sozialpädagogischen Lehrbuch, ist jedoch für die sozialpädagogische Praxis der Jugendarbeit keine Seltenheit. Im Gegenteil, Jugendliche wie Florian werden vermehrt in den Institutionen der Jugendhilfe angetroffen. Junge Menschen mit Problemen werden ausgeschieden aus dem legalen gesellschaftlichen Prozess, die institutionellen Angebote bleiben ihnen häufig verschlossen. Florians Hinauswurf aus der Schule bestätigt die von ihm gesammelten Erfahrungen mit der Erwachsenenwelt: Ich habe hier keinen Platz und keinen Wert. Florian ist also beides: Gewalttäter und Opfer von Gewalt.

Florian hatte von Anfang an keine Chance gehabt eine Persönlichkeit und ein Verhaltensrepertoire zu entwickeln, die ihn auf nichtkriminelle Bahnen bringen könnten. Gewaltanwendung heißt für ihn auch, Stärke zu gewinnen, im Mittelpunkt zu stehen, Aufmerksamkeit auf sich zu richten, Beachtung, die ihm ansonsten fehlte, sei dies auch durch fremde Richter, Therapeuten oder Sozialpädagogen.

Noch einmal: Von dieser extremen Biographie ausgehend möchte ich die Symptomatik der Gewalt unter einer anderen Perspektive betrachten und auf die gesellschaftliche, d.h. unsere gemeinsame Verantwortung gegenüber der Jugend hinweisen. In einem anderen Zusammenhang schreibt Walther Lechler : „Der Süchtige ist lediglich der Rauch, der zeigt, dass irgendwo ein Feuer brennt. Meistens bemühen wir uns, den Rauch zum Verschwinden zu bringen, aber nicht das Feuer, das ihn verursacht.“ Was hier in Bezug auf Süchtige proklamiert wird, sollte auch in der Betrachtung von Gewaltverhalten Jugendlicher verstärkt einfließen: Gewalt ist nicht nur Destruktivität, sie stellt auch einen Hilfeschrei einerseits dar, andererseits ist sie in der Personifizierung von Jugendlichen ein Symbol für die inhumanen und gesellschaftlich häufig verdrängten Lebensumfelder, in denen Kinder heranwachsen müssen.

Gewalterfahrung und Gewaltprävention im schulischen Umfeld

„Jede Schließung einer Musikschule gefährdet die innere Sicherheit.“ (Otto Schily)

Nach einer aktuellen Studie zur Gewalterfahrung von Jugendlichen, die im Großraum Zürich durchgeführt wurde , stellt sich Jugendgewalt zusammenfassend wie folgt dar:

  • Mit großer Wahrscheinlichkeit ist von einer merklichen Zunahme von Jugendgewalt in den letzten Jahren auszugehen;
  • ca. jeder dritte Jugendliche im 9. Schuljahr ist mindestens einmal in seinem bisherigen Leben Opfer von Gewaltdelikten geworden; 5% der befragten Jugendlichen wurden in den letzten zweieinhalb Jahren mindestens fünf Mal Opfer eines Gewaltdeliktes;
  • ein beträchtlicher Teil von Opfererfahrungen ereignet sich im schulischen Umfeld;
  • Jugendliche, die als Kinder Gewalt durch ihre Eltern erlebt haben, weisen ein deutlich erhöhtes Risiko für eigene Gewaltausübung auf. Jugendliche, die einen fürsorglichen und liebevollen Erziehungsstil der Eltern erfahren haben, weisen ein reduziertes Risiko für eigene Gewaltausübung auf;
  • Von den meisten Formen von Gewalt und Drangsalieren ist der überwiegende Teil der Jugendlichen nicht betroffen. Eine Ausnahme bildet das Auslachen und Beleidigen, das die am stärksten verbreitete Form von „school-bullying“ darstellt;
  • generell kann bei gewalttätigen Jugendlichen von Defiziten an sozialen Kompetenzen ausgegangen werden.

In Bezug auf Präventionsmaßnahmen stellen die Autoren der o.g. Studie fest, dass „langfristig ausgerichtet Präventionsmaßnahmen in aller Regel auf die Förderung von Fähigkeiten und die Reduktion von Risiken ausgerichtet sind, die nicht nur Gewalt reduzieren sollen, sondern generell soziale Kompetenzen und Selbstverantwortung stützen sollen.“ Diese - nicht neue - Forderung, dass Schule die Aneignung sozialer Kompetenz für Schülerinnen und Schüler erfahrbar machen muss, erhält durch die gegenwärtige Diskussion um Gewaltvorgänge an den Schulen eine neue Aktualität. Wobei zu beachten ist, dass nicht die Schulen verantwortlich für die Primärerfahrungen von Gewalt bei Schülern sind, da nach Klaus Hurrelmann „die meiste Gewalt in die Schulen importiert wird.“

So erscheint es fraglich, welchen Erfolg ausschließlich auf die Schule gerichtete Präventionsmaßnahmen haben können. Auch hier zeigt sich, dass das Phänomen der Jugendgewalt in allen für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen relevanten Bereichen berücksichtigt werden muss. Schule ist dennoch eine der zentralen Sozialisationsinstanzen, an der Verhalten verändert werden kann, d.h. wo die reale Möglichkeit der gewaltpräventiven Maßnahmen realisierbar sind, wenn dies intendiert ist. Voraussetzung dafür ist, dass es nicht bei Absichtserklärungen bleibt, sondern dass konkrete Lernvorhaben mit dem Lernziel „Soziale Kompetenz“ auch durchgeführt werden. Die selbstkritische Auseinandersetzung von Schulen mit dem eigenen Anteil an Gewalterschei-nungen muss gestärkt werden, von einer Tabuisierung der Problematik im schulischen Umfeld sind noch nicht alle Lehrerinnen und Lehrer frei und Elternabende, in denen das Gewaltphänomen ausschließlich an dem Fehlverhalten der Schüler festgemacht wird und strukturelle Gewalt der Institution Schule nicht thematisiert wird, stellen keine Seltenheit dar.

Die Grundvorstellung schulischen Lernens muss verstärkt neben den wissensvermittelnden Aspekten in der Praxis durch solche erweitert werden, welche die Entwicklung der sozialen Kompetenz bei der Schüler- und der Lehrerschaft fördert. Lernen als gemeinsamer Prozess, als „kulturelle Aktion“ , in der auch bisher eher vernachlässigte Themenbereiche ihren Platz finden, setzt ein Umdenken von Lehrerinnen und Lehrern, der Schulverwaltung, aber auch der Eltern voraus.

Gewaltprävention kann nicht gelehrt werden, sie kann nur gelebt werden. Das Schulhaus kann dann ein geeigneter Lebensort dafür sein, wenn der Mut zum Umgestalten der Schulpraxis vorhanden ist. Schule bereitet dann auf das gesellschaftliche Leben vor, wenn die gesellschaftliche Realität - nicht nur im Hinblick auf die Formen der Gewalt - im kleineren Kontext kritisch in Frage gestellt wird und Alternativen im System Schule für die Jugendlichen erfahrbar gemacht werden.

In einem Gespräch mit einer Schulleiterin, das den Mangel an Lehrerkräften an der entsprechenden Grundschule und den damit verbundenen Unterrichtsausfall zum Gegenstand hatte, wurde mir deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es keinen Grund zur Besorgnis gäbe, da der Unterricht in den Kernfächern ja garantiert sei. Unter Kernfächer fallen die Fächer Deutsch, Mathematik und Sachunterricht.

Diese Auskunft hat mich sehr nachdenklich gestimmt, da ich sehr daran zweifele, dass diese tradierte Auffassung von Kernfächern noch aktuell ist. Sind es nicht eben die musischen, kreativ-künstlerischen und sportlichen Aspekte, die in der Schule zu wenig beachtet bzw. schnell „geopfert“ werden? Sind wir Pädagogen nicht gerade heute dazu aufgerufen, von der jungen Generation zu lernen, welche Kernfragen sie haben, wo ihre Bedürfnisse schulischen Lernens liegen, welche Probleme in ihrer jugendlichen Welt es zu formulieren gilt?

Diese Zielformulierung, eingebettet in ein grundsätzliches, also auch gesellschaftlich getragenes Vorhaben der Gestaltung schulischer Bildung von Kindern und Jugendlichen, kann als eine zentrale Leitidee von gewaltpräventiven und kompetenzerweiternden Prozessen nur dann fungieren, wenn sie auf der konkreten Gestaltungsebene von Schulhauskultur auch umgesetzt wird. Die eingangs zitierte Feststellung des derzeitigen Innenministers Otto Schily gibt Anlass zu verhaltenem Optimismus, dass auch in den Reihen der politischen Gestaltungsträger die Notwendigkeit einer kulturellen und interkulturellen Bildung in der postmodernen Gesellschaftsordnung erkannt wird. Doch was nützt diese Erkenntnis, wenn sie ein Lippenbekenntnis bleibt? Gewaltprävention äußert sich im Handeln, in der gelebten „Aktion“.

Alte Volksweisheit

„Was Hänschen nicht lernt, ...“

Was kann getan werden?

Zweifelsohne bestehen aktuell eine Vielzahl von Projekten, initiiert von engagierten Lehrerinnen und Lehrern, Eltern und Schülern, die die Verhinderung der verschiedenen Formen der Gewaltausübung und die Schaffung eines friedlichen Klimas an der Schule zum Ziel haben. Diese Entwicklung ist sehr positiv und in vielen Schulen sind heute Streitschlichtungsverfahren mittels Mediation ein fest installierter Teil des schulischen Alltags. So bleibt die Erwartung, dass gewaltanwendendes Verhalten von den Jugendlichen in Zukunft weniger häufig zu beobachten sein sollte.

Dennoch stellt sich die Frage, wie sich Schulen auch im Unterricht und in dem bestehenden Fächerkanon fundamental mit den Ansätzen einer Gewaltprävention beschäftigen können. Die müßige Diskussion zwischen einigen Eltern und Schulvertretern, wer primär für gewalt-tätiges Verhalten von Schülern als verantwortlich zu bezeichnen ist, kann subjektiv nachempfunden werden, sie ist jedoch wenig fruchtbar in Hinblick auf eine Entwicklung einer gemeinsamen, gewaltablehnenden Haltung.

Die Erkenntnisse von Eisner, dass „elterliche Gewaltausübung während der Kindheit sich in einem höheren Risiko der eigenen Gewaltausübung im Jugendalter niederschlägt, während ein liebevoller Erziehungsstil eher gewaltmindernd wirkt lässt die Schlussfolgerung zu, dass „Erziehung“ als solche zu einem schulischen Thema, ja vielleicht sogar zu einem eigenen Unterrichtsfach gemacht werden sollte.

So wichtig es ist, in der siebten Klasse einer Hauptschule die Prinzipien eines Wirtschaftssystems zu erlernen, so wichtig, wenn nicht noch dringlicher, erscheint mir die Auseinandersetzung mit erzieherischen Fragen auch im Unterricht. Die Reflexion des eigenen Verhaltens, der eigenen Erfahrung mit Erziehungsstilen der Eltern sollten keine Tabuthemen bleiben. Schulausbildung könnte somit einen wichtigen Beitrag zum Erlernen und Praktizieren gewaltfreier und kooperativer Erziehungsstile leisten, vorausgesetzt, dass ihr Stil und ihr Schulklima ebenfalls nach diesen Prinzipien gestaltet werden.

Es ist evident, wie das eigene erzieherische Verhalten von den Verhaltensweisen des eigenen Elternhauses geprägt sein wird, im guten wie im schlechten.In der Schule kann und muss als Vorbereitung für das spätere Leben der Schülerinnen und der Schüler die Grundlage für eine bewusste Erziehungshaltung gelegt werden. Wo sonst als in der Schule besteht besser die Möglichkeit, den Teufelskreis von elterlicher Gewalt (vielleicht verursacht durch Überforderung, Unwissenheit, Nachahmung ihrer eigenen Erziehungsmuster, usw.), die sich später auf ihre Kinder übertragen kann, mit pädagogischen Mitteln in breiter Form zu durchbrechen?

Die problemformulierende Auseinandersetzung - im Sinne Paulo Freires - wird nie losgelöst von einem gesamtgesellschaftlichen Diskurs stattfinden können. Insofern sind exemplarische Lernprozesse und die Reflexion erzieherischer Verhaltensweisen mit den Schülerinnen und Schülern nicht nur für die Gestaltung schulischer Lernvorgänge bedeutsam, sondern auch in Hinblick auf gesellschaftliche Veränderungen, die von den jungen Generationen ausgehen werden. Die intensive Auseinandersetzung mit Gender-Aspekten, die kritische Hinterfragung von maskulinen und femininen Verhaltensweisen in der Tradition unserer Gesellschaft, sollen einen zentralen Stellenwert erhalten.

Neben der Betonung der Notwendigkeit, dass Schülerinnen und Schüler in diesen Prozess integriert sein müssen, hätten auch Eltern die Möglichkeit, sich stärker an diesem pädagogischen Diskurs und dem gelebten „Projekt Schule“ zu beteiligen. Die Initiative sollte von uns Professionellen in der Bildungsarbeit eingeleitet werden. Die Institution „Schule“ allein wird nicht in der Lage sein, die Problematik der (Jugend-)Gewalt zu lösen, sie kann aber diesbezüglich eine zentrale Stelle in der Diskussion vor Ort erobern.

Anfänge wagen

„... das lernt Hans immer noch.“

Dass Anfänge einer Entwicklung im o.g. Verständnis sehr klein und einfach sich gestalten können, möchte ich abschließend an einem Beispiel verdeutlichen: Im Umfeld einer kleinen, ländlichen Grund- und Hauptschule gründete sich durch das Engagement aktiver Eltern ein Förderverein für die Schule mit dem Ziel, schulische Vorgänge flankierend zu unterstützen. Nach einer beachtlichen Anzahl von Projekten, der Einrichtung einer Kernzeitbetreuung und anderen Vorhaben wurde von den Verantwortlichen erkannt, dass es ein sehr positives Echo von Schüler-, Lehrerschaft und Eltern auf diese Initiative gibt. In einer Umfrage unter den Schülern ermittelte der Verein, welche Anliegen die Schülerinnen und Schüler für ein unterrichtsergänzendes Angebot haben. Das Ergebnis war bunt und vielfältig, vom Breakdance- bis zum Computerkurs wurden viele Wünsche von den Kindern und Jugendlichen geäußert.

In guter Kooperation mit der Schule besteht heute ein breites Programm und eine farbige Palette von Initiativen, in der Schülerinnen und Schüler ihre Schule einmal ganz anders erleben können. Ein Zirkusprojekt findet statt, ältere Jugendliche einer anderen Schule unterrichten den jüngeren Breakdance,in einem Bildhauerkurs am Nachmittag entsteht eine Vielzahl von Kunstwerken, eine Jazzmatinee lädt an einem Sonntagmorgen zum gemütlichen Verweilen von Eltern und ihren Kindern auf dem sonst um diese Zeit menschenleeren Schulhof ein.

Eltern und Lehrer, Nachbarn und Schüler kommen miteinander ins Gespräch, der Springbrunnen im Schulhof verwandelt sich in Kürze in ein Minifreibad, erfüllt vom Schreien und Lachen der planschenden Kinder. Auch mit diesen kleinen Anfängen können Grundlagen geschaffen werden, die Schulhauskultur neu auszugestalten: Ein kleiner Baustein, der gewaltpräventiv und kommunikationsfördernd dazu beiträgt, dass Schule mehr ist als Schule, nämlich ein Ort des Begegnens und des Lebendigseins.

Literatur

  • Brunner, Martin: Gewalt von Schülern, Zürich 1994, Bundesinstitut für Berufliche Bildung (BIBB), Bonn
  • Handlungsfähig statt handgreiflich, Bielefeld 1999
  • Cohn, Ruth C.: Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten Interaktion, Stuttgart 1975
  • Creighton, Allan u. Kivel, Pau: Die Gewalt stoppen. Ein Praxisbuch für die Arbeit mit Jugendlichen, Mülheim, 1993
  • Eisenberg, Götz u. Gronemeyer, Reimer: Jugend und Gewalt, Reinbek 1993
  • Eisner, Manuel et al.: Gewalterfahrungen von Jugendlichen, Aarau 2000
  • Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten, Reinbek, 1973
  • Gruen, Arno: Der Wahnsinn der Normalität, München 1994
  • Gruen, Arno: Anpassung als Sucht, in: Paulo Freire Gesellschaft (Hrsg.): Ohne Mythen und Tabus in der Drogenarbeit, München, 1996
  • Gruen, Arno: Der Verlust des Mitgefühls, München 1997
  • Guggenbühl, Allan: Die unheimliche Faszination der Gewalt, Zürich 1993
  • Guggenbühl, Allan et al.: Aggression und Gewalt an der Schule – Schulhauskultur als Antwort, Freiburg i.Br. 1998
  • Hanke, Ottmar: Gewaltverhalten in der Gleichaltrigengruppe von männlichen Kindern und Jugendlichen, Pfaffenweiler, 1998
  • Klosninski, Gunther (Hrsg.): Macht – Machtmissbrauch und Machtverzicht im Umgang mit Kindern und Jugendlichen, Bern 1995
  • Koch, Reinhard u. Behn, Sabine: Gewaltbereite Jugendkulturen, Weinheim u. Basel 1997
  • Krippendorff, Ekkehardt: Staat und Krieg, Die historische Logik politischer Unvernunft, Frankfurt am Main 1985
  • Lechner, W.: in: Jugendbildungsstätte Sonnenberg (Hrsg.): Wenn Theologie praktisch wird..., Stuttgart, 1983
  • Mitscherlich, Alexander: Die Idee des Friedens und die menschliche Aggressivität Frankfurt am Main 1970
  • Rogge, Jan-Uwe: Kinder brauchen Grenzen, Reinbek 1993
  • Tillmann, Klaus-Jürgen: Gewalt - was ist das eigentlich ?, in: Schüler 1995
  • Weidner, Jens, Kilb, Rainer u. Kreft, Dieter (Hrsg.): Gewalt im Griff, Weinheim und Basel 1997

Zeitschriftenartikel:

  • Außerschulische Bildung, Heft 3-4/1998: Jugend und Gewalt
  • Der Spiegel Nr. 47/1998: Ist Erziehung sinnlos ?

Andreas Schauder, Dipl.-Pädagoge, Höhere Fachschule für Sozialpädagogik, Luzern (Schweiz), E-mail: A.Schauder@t-online.de