Der Dialog im Denken Martin Bubers und Paulo Freires

von Hanna Zielinska

Unser ganzes Leben ist ein ständiges Fragen und Suchen nach Antworten. Die Suche dauert von den ersten Tagen des erwachenden Geistes bis zum Tod. Doch die gefundenen Antworten können allerdings nicht für immer gelten. In einem gewissen Sinne ist das Leben am einfachsten, wenn alle Antworten gegeben sind, aber zugleich ist es dann auch am ärmsten. Meines Erachtens ist der Vorwurf, die Schule liefere eigentlich nur fertige Antworten, nicht ganz grundlos. Gewiss brauchen kleine Kinder solche Antworten, aber reifenden, suchenden Jugendlichen fehlt bestimmt etwas, wenn sie in einem formellen Bildungssystem stecken, in dem der Lehrer bei den Schülern nur fertiges Wissen „einlagert“.

An dieser Stelle steht die Frage, ob Erwachsene, die auf solche Art und Weise vorgebildet worden sind, in einen Dialog treten können; denn die These meines Beitrages lautet: Nur über den Dialog ist der Mensch imstande, sich aus einer mit falscher Geduld ertragenen Unterdrückung und aus einer in blindem Vertrauen hingenommenen eindimensionalen Weltsicht zu lösen, um seine Stellung in gesellschaftlichen Einrichtungen kompetent einzunehmen, insbesondere in Schule und Familie.

Der Dialog gibt aber auch Kraft, den gegenwärtigen Platz in Frage zu stellen, die natürlichen Entwicklungsmöglichkeiten zu nutzen, etwas zu unternehmen und nicht weiter still zu halten. Nur eine hoffnungsvolle, offene Einstellung zum Dialog lässt es immer wieder zu, ein wahres „Leben aus dem Wesen heraus“ zu führen und in der vielgestaltigen Wirklichkeit etwas aufzubauen.

Wenn wir über den Dialog nachdenken oder vom Dialog sprechen, meinen wir üblicherweise ein Gespräch zwischen mindestens zwei Personen. Sie treten in den Dialog, indem sie das Anderssein ihrer Welten darbieten oder indem sie sich als zugehörig zu einer Gruppe mit bestimmten Interessen oder Anschauungen darstellen. Wenn wir in einen Dialog treten, nehmen wir seine Regeln an, die für alle Teilnehmer gleich sind, also die gleichen Chancen bieten, jemanden zu treffen und uns selbst zu präsentieren. Wir treten in den Dialog ein, ohne befürchten zu müssen, dass eine Seite aufgrund faktischer Überlegenheit oder starken Dominanzstrebens eines der Gesprächspartner die Oberhand gewinnt. Das Ergebnis eines Dialogs kann sich immer erst in seinem Vollzug einstellen, aber nie schon vorher bestimmt sein, denn das widerspräche seinem Sinn.

Der Dialog ist immanenter Teil jedes Menschenlebens und des Bewusstseins davon, was das eigene Leben und das Menschentum im Prinzip sind. Er erschließt die Einsicht, worin das menschliche Dasein in der auf mehreren Ebenen liegenden, komplizierten und unsicheren Welt und zugleich die Existenz als „irgendeiner“ bestehen - gleich vom Anfang an und bis zum Ende. Der Dialog ist immer kreativ, indem er neue fruchtbare Vorstellungen des Menschen in der Konfrontation mit der Welt und mit anderen Menschen (oder besser gesagt: mit der Welt in einem anderen Menschen) erzeugt, die uns bereichern, uns neue Horizonte entdecken lassen, uns eine Möglichkeit zum Nachdenken über uns selbst und Möglichkeiten zu persönlicher Entwicklung und Änderung gibt.

Eine solche Rolle spielt der Dialog im Erziehungsverhältnis. Er findet statt, wenn zwei konkrete Personen in ein Gespräch miteinander über sich und die Welt treten. Er findet nicht statt, wenn das Erziehungsverhältnis nur institutionell ist, wie z.B. im Falle eines despotischen Vaters oder eines Sozialpädagogen, der nicht akzeptiert ist oder nur Angst statt Respekt bei den Schülern auslöst. Für das Gelingen des Dialoges zwischen Lehrer und Schüler können situationsgerechtes Sprechen und aufmerksames Zuhören gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die alltäglichen Paradoxien und die Zerrissenheit jeder Existenz erschweren das Nachdenken über Erziehung im Sinne eines Prozesses, mit dem die Fülle des Möglichen erreicht werden könnte. Das hat schon Paulo Freire bemerkt, und kritische Pädagogen haben es in ihren Arbeiten weiter entwickelt - hauptsächlich Giroux und McLaren -, die soziale Erfahrungen (nicht nur bei Befreiung von der Kolonialherrschaft) als überlastet zeigen von Kampf und Zwiespalt, von Widersprüchen und Ungewissheit.

Zaghafte Vorstellungen von der Welt und von vormoderner Erziehung passen nicht in eine postmoderne Perspektive mit konkurrierenden und differenten Konzepten, in denen sich das Subjekt nur in einem bestimmten, konkreten Augenblick mit seinen Bedingtheiten und seiner eigenen Geschichte wiederfindet, wobei nur Unbeständigkeit sowie die Notwendigkeit zu Umgestaltung und Anpassung sicher sind. Es ist auch nicht möglich, die Grundlagen der Gesellschaftsordnung in einem unfehlbaren Verstand zu finden; sie sind vielmehr in den subjektiven Empfindungen gegenüber einem anderen Menschen und seiner Welt zu suchen.

Ist es nun so, dass die Veränderungen beim Werden eines Subjektes und die Einsicht in die Subjektivität seiner eigenen Gefühle ihren Platz im Dialog finden? Ist der Dialog gerade die Verständigungsform auf den anfänglich unbekannten Zielpunkt hin, und zwar mit Hilfe der Gegenüberstellung von Gedanken, Empfindungen, einzelnen Geschichten und allgemeineren menschlichen Erfahrungen? Diese Unterschiede oder die erst im Dialog auftauchenden - verschärften oder abgemilderten - Widersprüche erlauben es, sich in gegebener Situation selbst abzusondern, um sich seiner eigenen Opposition zur Welt und des Spannungsverhältnisses zu einem anderen bewusst zu werden. Es kann sein, dass gerade der Dialog eine Klammer ist, die die menschliche Selbstsuche von der Antike bis zur Gegenwart verbindet.

Wenn man sich mit dem Dialog befasst, kann man die Vertreter dieser Tradition aus der jüdisch-christlichen Kulturströmung nicht unbeachtet lassen. Unter vielen bekannten Namen, wie F. Ebner, F. Rosenzweig, E. Levinas, H. Cohen, J. Madera, G. Marcel rückt Martin Buber in den Vordergrund. Er wird ein Lehrer und Meister des Dialogs genannt.

Martin Buber, jüdischer Religionsphilosoph und Lehrer, wurde 1878 in Wien geboren,wuchs in Lwow auf und starb 1965 in Jerusalem. Er erlebte die beiden Weltkriege, befand sich jahrelang außerhalb der Glaubenseinflüsse seiner Vorfahren, wohnte den größten Teil seines Lebens in Europa, siedelte aber 1938 nach Palästina um und zog mit integrativer Absicht in ein arabisches Viertel Jerusalems. Um die Versöhnung zwischen Arabern und Juden zu fördern, errichtete er testamentarisch eine Stiftung für arabische Studenten in Israel.

Buber schrieb in mehreren Sprachen, die er so gut beherrschte wie seine Muttersprache. In seinen Texten bemüht er sich um das Gespräch, den Dialog mit seinem Leser. Er bewegt ihn zu aufmerksamem Innehalten bei seinen Überlegungen und Erfahrungen sowie zur Reflexion über die Ähnlichkeit von Erfahrungen des Lesers und des Autors. Wenn man die Anzahl der Veröffentlichungen, Übersetzungen, Zitierungen durch Vertreter verschiedener Sachgebiete und die Anzahl der verkauften Exemplare seines kleinen, aber wohl wichtigsten Buches „Ich und Du“ berücksichtigt, kann man behaupten, dass sich das Gespräch mit dem Leser immer wieder ereignet. Sowohl die erstmals im Jahre 1923 veröffentlichte Arbeit als auch alle späteren Veröffentlichungen Bubers handeln von verschiedenen Dimensionen menschlicher Beziehungen. In der zwischenmenschlichen Kommunikation ist die Art und Weise, wie die Menschen miteinander umgehen, von großem Belang - entweder persönlich oder unpersönlich oder irgendwo dazwischen. Diese Perspektive stellt für Buber die Grundlage für die Verständigung bei interpersonalem Kontakt dar. Im Umgang mit der realen Welt unterscheidet er zwei Aspekte, indem er die Interaktion mit Gegenständen/Objekten, d.h. mit Sachen und Menschen, trennt von der Interaktion eines vollständigen menschlichen Wesens , d.h. mit anderen in der Fülle existierenden, jedoch einmaligen menschlichen Wesen.

Der erste Beziehungsaspekt verlangt von uns die Kenntnisse allgemeiner, „objektiver“ Theorien der in der Welt herrschenden Kausalzusammenhänge. Der zweite Beziehungsaspekt umfasst, dass ich authentisch immer derselbe bleibe und ein anderer anwesend ist. Für die Fülle menschlichen Daseins und die Authentizität menschlicher Beziehungen zu einem anderen sind beide Beziehungsaspekte erforderlich. Jeder Mensch lebt in Beziehungen Ich-Das, aber sich allein mit dieser Beziehung zufrieden zu geben, schließt den Weg zur Personwerdung aus, der erst durch die Beziehung Ich-Du erschlossen wird. Die Unterschiede von Das und Du sind von großer Bedeutung. Auf eine klar einsichtige und interessante Weise stellt das der amerikanische Sozialpsychologe John Stewart dar, der von Bubers Philosophie fasziniert war und sie als Inspirationsquelle für seine eigenen Forschungen betrachtete. Stewart entwickelt Bubers Gedanken weiter, indem er darstellt, dass Personen sich durch fünf Eigenschaften von anderen Existenzen unterscheiden:

  1. Jede Person ist ein einzigartiger, unberechenbarer Teil einer Kommunikationssituation.
  2. Eine Person ist mehr als eine Kombination beobachtbarer, messbarer Elemente. Was daran unmessbar bleibt, nennen wir „Gefühle“, „Emotionen“ oder „Geist“.
  3. Personen können wählen: Statt einfach nur zu reflektieren, können wir antworten. Wir sind weder imstande, die Zeit zurück zu stellen, noch, auf einen anderen Planeten umzuziehen, aber unsere Zukunft ist nie vollständig durch unsere Vergangenheit determiniert.
  4. Personen können reflektieren. Wir sind uns nicht nur dessen bewusst, was uns umgibt, sondern können uns auch unserer Bewusstheit bewusst sein.
  5. Personen sind adressierbar - in dem Sinne, dass man zu uns und mit uns und nicht nur über uns sprechen kann, und wir können etwas darauf erwidern.

Diese fünf Eigenschaften menschlichen Wesens treffen auf jeden von uns zu: Wir sind einzigartig dank unserer genetischen Ausstattung und unserer Lebenserfahrungen von Kindheit an. Die Unmessbarkeit ist immer noch eine Tatsache - trotz mannigfaltiger Beschreibungsmethoden für die menschliche Persönlichkeit, für ihre Emotionen, ihre Erkenntnisschemata und ihre anderen individuellen Züge. Der Mensch trifft immer wieder eine Wahl und kann auf eine konkrete Handlung mit verschiedenen Reaktionen antworten. Aus dieser Perspektive ist das Verhältnis Ich-Das fast immer sicher und das Verhältnis Ich-Du häufig unsicher. Von den in der Welt bekannten Lebewesen kann nur das menschliche Wesen reflektieren.

Ein Bewusstsein von ihrer Existenz haben auch Tiere, nur besitzen sie kein Zeitbewusstsein. Der Mensch bewahrt seine Geschichte und gibt sie weiter. Er überlegt, was das Ziel und der Sinn des Lebens ist, wobei die Breite seines Daseins über die Qualität seines Lebens entscheidet. Die fünfte Eigenschaft, die Adressierbarkeit, ist die Möglichkeit, den vollständigen Kontakt zu einem anderen Menschen zu erwidern. Die Möglichkeiten, uns sprachlich auf unsere Umwelt zu beziehen, sind unterschiedlich. Bei leblosen Gegenständen und Pflanzen ist es so, dass wir nur darüber sprechen können; schon an ein Tier können wir uns redend wenden und manchmal sogar eine Rückmeldung von ihm bekommen, aber nur ein Mensch kann sich vollkommen mit uns austauschen, d.h. für uns so sein, wie wir für ihn sein können.

Indem wir die Eigenschaften, die den Menschen auszeichnen, bei uns selbst und beim anderen Menschen in Betracht ziehen und bestärken, werden wir die Kommunikation Ich-Du bestimmt begünstigen. Nach Bubers Verständnis gibt es eine Chance dafür, dass im Dialogverhältnis eine Zwischensphäre entsteht, die die beiden Subjekte verbindet. Sie stellt keine Hilfskonstruktion dar, sondern ist eben der authentische Platz der Personwerdung. Wenn z.B. zwei Menschen miteinander reden, gehört zu ihrem Gespräch - jedenfalls auf eine grundsätzliche Art und Weise - das, was sich in jeder ihrer Seelen abspielt, wenn der Mensch zuhört oder wenn er selbst das Wort ergreift. Diese Zwischensphäre ist jedoch lediglich eine verborgene Begleitung des phonetischen Ereignisses, deren Bedeutung weder in einem der Partner noch in beiden zusammen existiert, sondern nur in einem eigentümlichen Sein zwischen ihnen.

Auf solche Kommunikation lauern jedoch auch gewisse Gefährdungen. Buber zählt drei Haupthindernisse für den Dialog auf. Erstens ist es ein Mangel an Zusammengehörigkeit, eine innere Abschirmung und eine Spontaneität der Selbstdarstellung, die sich in einer Diskrepanz zwischen Sein und Schein äußert - oder, wie man auch sagt, zwischen dem Leben vom Wesen aus oder für das Image. Buber, der die allzumenschlich Schwäche, jemandem etwas vorzutäuschen, um äußere Akzeptanz zu gewinnen, einzuschätzen wusste, glaubt zugleich, dass das Leben vom Wesen aus eine tatsächliche Tapferkeit ist - im Gegensatz zur feigen Vortäuschung.

Die zweite Schwierigkeit entspringt aus unserer eventuell unvollständigen Wahrnehmung eines anderen Menschen. Buber assoziiert eine vollkommene Wahrnehmung des anderen mit einem kühnen und schwungvollen Versetzen des eigenen Daseins in das andere. Indem ich mir vorstelle, was der andere wirklich denkt und empfindet, knüpfe ich mit ihm einen Kontakt - ich bringe eine persönliche Anwesenheit zustande. Gelingt es mir nicht, mein Dasein im Geiste in das andere zu versetzen, fehlt eine wichtige Voraussetzung für ein dialogisches Verhältnis. Das dritte Hindernis für den Dialog ist eine Neigung zu Zudringlichkeit statt Offenheit. Unter Offenheit versteht Buber das Treffen und die Unterstützung dessen im anderen Menschen, was wir auch als richtig bei uns empfinden. Es verlangt den Glauben an den Menschen.

Für die Einwirkung auf einen Menschen, auf seine Anschauungen und seine Lebensweise gibt es hauptsächlich zwei verschiedene Arten. Die erste Art besteht darin, dass man dem anderen sich selbst und die eigenen Anschauungen auf eine Weise aufzwingen will, die ihn glauben lässt, das Ergebnis sei seine eigene, durch den Einfluss lediglich angeregte Überzeugung. Mit einer zweiten Methode der Einwirkung hat man es zu tun, wenn sich jemand bemüht, in der Seele des anderen das zu finden und zu entwickeln, was er für sich selbst für richtig anerkannt hat. Da es richtig ist, muss es als eine der Möglichkeiten gelten, d.h., möglicherweise auch im Mikrokosmos eines anderen schlummern. Man braucht diese Möglichkeit nur zu wecken, und zwar nicht durch eine Belehrung, sondern durch das Treffen, durch die existentielle Kommunikation zwischen dem Seienden und dem potentiell Werdenden. Die erste Art der Einwirkung zeigt sich am meisten in der Propaganda, die zweite in der Sphäre der Erziehung.

Wenn man die Annahmen in dem Alphabetisierungsprogramm von Paulo Freire und der von ihm entwickelten Bildungsphilosophie analysiert, findet man ein hohe Übereinstimmung mit den dargestellten Ansichten Martin Bubers. Freire hat das Konzept einer Pädagogik der Befreiung entwickelt, das eine vollständige Bearbeitung der Kommunikationsprozesse und Kommunikationsarten bildet, die zur Befreiung der Individuen und der Gesellschaft führen. Seiner Meinung nach ermöglichen der Dialog und die Kommunikation eine elastische, dynamische und stetige Vergegenwärtigung des Lebens- und Bildungskonzepts, d.h. letztlich: der Menschwerdung.

Paulo Freire wurde 1921 in Recife im Nordosten Brasiliens geboren. Da sein Vater die Arbeit verlor, erlebte Freire als kleiner Junge den ökonomischen und gesellschaftlichen Absturz seiner Familie. Er lernte wirklichen Hunger und seine zerstörenden Wirkungen kennen. Seine Schulleistungen verschlechterten sich rapide.Allem Anschein nach waren diese frühkindlichen Erfahrungen für seinen weiteren Lebensweg prägend. Sie determinierten die Aufnahme des Kampfes gegen Hunger, Rückständigkeit und Perspektivlosigkeit der Menschen im nur formal vom Kolonialismus befreiten Brasilien. Der politische Akt zur Beendigung des Kolonialismus bedeutete noch lange nicht die Befreiung der einzelnen Individuen und der Gesellschaft von einer sich selbst unterwerfenden Denk- und Verhaltensweise, die seit mehreren Generationen wirksam gewesen war. Die Überwindung der postkolonialen Binnenstrukturen, die in den Menschen im ökonomischen, psychischen und physischen Bereich noch vorherrschen, sowie der äußeren Strukturen, die in die Wirtschaft und die Gesellschaftsverhältnisse des Landes noch eingeschrieben sind, ist eine komplexe, langfristige Aufgabe. Nach Freires Auffassung ist es bedeutsam, den Dialog mit den Menschen zu beginnen und zugleich mit dem Dialog umgehen zu lernen. Die Zweigleisigkeit dieses Verfahrens ist eine unerlässliche Bedingung für das Streben nach Befreiung. Die Möglichkeiten des Dialogs sind endlos, aber die Fähigkeiten des Lesens und Schreibens verbreiten die Möglichkeiten für Kommunikation und Entwicklung ebenfalls unbegrenzt.

Freire entwarf ein Alphabetisierungsprogramm als Einleitung zur Demokratisierung, ein Programm mit Menschen als Subjekten, ein Programm in der Form einer künstlerischen Betätigung, das zugleich weitere künstlerische Tätigkeiten freisetzt, ein Programm, in dem die Lehrenden eine Unruhe und eine Lebendigkeit erzeugen, die für waches Suchen und die Entfaltung von Erfindungsgabe notwendig sind.

Nach Freires Auffassung sollte man zuerst von den Menschen lernen, die alphabetisiert werden sollen, und erst danach mit ihnen zusammen die Welt entdecken, die eine Koordinatorenwelt ist, d.h. die Welt der Lehrer, die das alphabetisierende Programm realisieren. Nach solcher Vorbereitung kann man damit anfangen, das Alphabet beizubringen sowie die Fähigkeit zum Unterscheiden zu entwickeln, was die Natur im Vergleich mit der Kultur ist, und das nicht in einem mechanischen, unreflektierten Sprachunterricht. Freire nahm an, durch das lernende Subjekt zu seinem Inneren und zur Art und Weise seines Weltverständnisses zu gelangen und so durch die Interessierten selbst zu erkennen,welches Wissen hier nötig ist und wie es vermittelt werden kann. Allgemeinwissen galt übrigens als seriös und wurde als Schlüssel und nicht als Hindernis zur Welterkenntnis betrachtet.

Die einzelnen Phasen des Alphabetisierungsprogramms von Paulo Freire:

Die erste Phase bestand im Kennenlernen des Gruppenwortschatzes während informeller Gespräche zu verschiedenen Themen. Die Teilnehmer der Gruppen lernten von einander. Dabei wurden Frustrationen und Hoffnungen, Misserfolge und Zuversicht, Realitäten und Sehnsüchte sowie der Wille zum Lernen, Lesen und Schreiben erörtert. Wichtig waren nicht nur Wörter mit hohem emotionalen Gehalt (gewöhnlich verbunden mit existentiellen Problemen), sondern auch typische Formulierungen und Sprüche aus der Gruppe und erste Fassungen von neuen Erfahrungen.

Die zweite Phase ist die Wahl der sog. „Abrufwörter“ aus dem in der ersten Phase gelernten Wortschatz der gegebenen Gruppe, und zwar nach folgenden Kriterien:

  1. Phonetischer (sog. lautlicher) Reichtum
  2. Phonetische Schwierigkeiten (die phonetischen Schwierigkeiten der Sprache sollen durch ausgesuchte Wörter repräsentiert werden, die von den einfachsten bis zu den schwierigsten geordnet sind)
  3. Wörterpragmatik (Schlagwörter der sozialen, kulturellen und politischen Realität)

Die dritte Phase ist die Kode-Schöpfung, d.h. eine Repräsentation der für die Gruppe typischen Existenzsituationen als Rollenspiel mit dem Ziel, solche typischen Problemsituationen unter Leitung des Koordinators symbolisch zu bewältigen. Gespräche beim Lesen und zum Verstehen der Kodes fordern die Teilnehmer zur Diskussion heraus, was zugleich zum Erreichen einer kritischen Bewusstheit bei den ersten Lese- und Schreibversuchen hilft. Die Kodifikationen sind so formuliert, dass sie jedem eine naheliegende Situation darstellt und gleichzeitig für Exkurse über Regions- und Landesprobleme offen bleibt.

Das so bearbeitete Alphabetisierungsprogramm zielt zugleich auf Befreiung der Menschen von ihrer überkommenen nachteiligen und einschränkenden Denk-weise. Dank dessen kommt es in den Menschen zu einem Durchbruch; sie nehmen mit der Welt und mit sich selbst einen Dialog auf, der sich schnell ausbreitet und dadurch das Leben unvergleichlich reicher und freier macht.

Das musste den politisch Verantwortlichen in Brasilien so gefährlich erscheinen, dass Freire nach den ersten Erfolgen seines Alphabetisierungsprogramms und dem Putsch im Jahre 1964 als Revolutionär, der die alte Ordnung gefährdet, gefangen genommen und dann für viele Jahre ausgewiesen wurde. Daran kann man deutlich sehen, dass die Möglichkeit zum Dialog fehlte und die Repressionen real waren. Die hier kurz skizzierten Gedanken Martin Bubers und Paulo Freires lassen keinen Zweifel über die Ähnlichkeit in den Grundannahmen des Dialogverständnisses für das Leben der Menschen. Freire wird mit Recht als Schöpfer einer Dialogpädagogik bezeichnet.

„Der radikale Mensch, der sich für die Befreiung engagiert, wird nicht zum Gefangenen eines ‚Sicherheitskreises’, in dessen Rahmen ihn auch die Wirklichkeit gefangen nimmt. Ganz im Gegenteil, je radikaler er ist, desto vollkommener tritt er in die Wirklichkeit ein; indem er sie besser kennen lernt, kann er sie auch entschlossen ändern. Er hat keine Angst, der enthüllten Welt von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen, ihr zuzuhören und sie anzusehen. Er hat keine Angst, Menschen zu treffen oder mit ihnen in einen Dialog zu treten. Er betrachtet sich selbst nicht als Besitzer von Geschichte oder gar von Menschen, sondern engagiert sich im Kampf an ihrer Seite.“

„ ... ausschließlich durch die Kommunikation kann das Leben des Menschen sein Gewicht behalten. [...] Authentisches Denken, das Denken, das für die Wirklichkeit Sorge trägt, hat keinen Sicherheitsverwahrungsort im Elfenbeinturm, sondern lediglich in der Kommunikation“.

Martin Buber unterscheidet bei menschlichen Beziehungen zwischen Ich-Du und Ich-Das und betrachtet dabei die Beziehung Ich-Du als die wertvollere. Indem Freire die Situation der Unterdrückten analysiert, entdeckt er die Mechanismen, mit denen die Unterdrücker (und nach generationenlangem „Training“ die Unterdrückten selbst) für die Fortdauer der Unterdrückung auf dem Objektniveau des „Das“ sorgen. Das Alphabetisierungsprogramm Freires zielt darauf, dass aus jedem Individuum ein Subjekt seiner selbst gemacht wird, das die Rolle eines „Du“ übernehmen kann. „ ... Menschen stimmen selten ihrer Furcht vor der Freiheit zu, sie versuchen eher, sie zu tarnen ... “.

Buber sieht in jedem seine Außergewöhnlichkeit, die sich im Dialogverhältnis widerspiegelt. Nachdem Freire in seinem Treffen mit Unterdrückten ihr Gefühl der Bedeutungslosigkeit erfahren hat (die sie selbst hervorheben, indem sie behaupten, sie seien niemand und es hänge nichts von ihnen ab), unterstreicht er in seiner Bildungsphilosophie, welche Bedeutung die Welt und das Wissen für einzelne Individuen haben, und bemüht sich sehr darum, ihr Bewusstsein zu wecken sowie ihre Möglichkeiten und ihren wahren, besonderen Platz in der Welt bewusst zu machen: „Ich habe die Hoffnung, dass aus diesen Seiten mindestens folgende Sache übrig bleibt: Mein Vertrauen auf das Volk und mein Glaube an die Menschen und an eine Weltschöpfung, in der es einfacher wird zu lieben.“

„Der Bauer fängt an, Mut zu gewinnen, um seine Abhängigkeit zu überwinden, wenn er sich dessen bewusst wird, dass er abhängig ist. Bis zu diesem Augenblick folgt er seinem Herrn und sagt: ‚Was kann ich machen? Ich bin ja nur ein Landmann’.“

Paulo Freire hält ebenso wie Martin Buber das Individuum für „unmessbar“, indem er in seinen Analysen der Unterdrückungsbeziehungen zeigt, wie die Unterdrücker die Unterdrückten zu total berechenbaren Individuen herabsetzen, wobei der Maßstab nur die Benutzbarkeit für ihre eigenen Ziele ist: - für die Leistungsfähigkeit oder Produktivität! „Man schaut auf die Unterdrückten wie auf die Pathologie einer gesunden Gesellschaft, die also diese ‘inkompetenten und faulen Menschen’ an ihre eigenen Muster anpassen muss ...“

Die auszeichnende Eigenschaft des Menschen ist bei Buber die Wahl. Freire entdeckt in der Unterdrückungssituation eine doppelte Verneinung der Wahlmöglichkeit durch den Mangel, über bestehende Wahlmöglichkeiten nichts zu wissen (Reduzierung auf eine eindimensionale Welt). Einer der Gesprächspartner Freires sagte: „Es kann sein, dass ich hier die einzige Person bin, die von Arbeitern abstammt. Ich kann nicht sagen, dass ich alles, was ihr gerade gesagt habt, verstanden habe, aber eins kann ich sagen - ich war sehr ‚naiv’, als ich den Kurs begonnen habe, und nachdem ich festgestellt hatte, wie sehr naiv ich war, begann ich, ‚kritisch’ zu sein,“

„Die Unterdrückung - allumfassende Kontrolle - ist quasi nekrophil. Sie wird mit Todesliebe, nicht mit Lebensliebe gefüttert.“

Unterdrückte können durch eine Existenzerfahrung entdecken, dass ihre gegenwärtige Lebensweise mit ihrer Berufung zur vollkommenen Menschwerdung nicht in Einklang gebracht werden kann. „Es wird oft von den Arbeitern [gemeint: den Bauern - (H.Z.)] unterstrichen, dass es keinen Unterschied zwischen ihnen und den Tieren gibt; wenn sie jedoch diesen Unterschied erkennen, fällt das zu Gunsten der Tiere aus: ‚Sie leben in einer größeren Freiheit als wir’“.

Die nächste von Buber herausgehobene Eigenschaft des Menschen ist seine Fähigkeit zur Reflexion. Freire kennt diese menschliche Eigenschaft als Grundlage für die Bewusstheit von seiner Existenz und seiner Tätigkeit in der Welt sowie als Grundlage für seine Änderung. „Menschsein heißt, mit anderen und mit der Welt in Beziehung zu treten. Es heißt, die Welt als objektive, von uns unabhängige und erkennbare Wirklichkeit zu erfahren. [...] Den Menschen unterscheidet von Tieren seine Einstellung der Welt gegenüber, eine gewisse Unabhängigkeit und Offenheit. Der Mensch ist nicht nur in der Welt, sondern auch mit der Welt. [...] Die Menschen sind in ihren Reaktionen auf verschiedene Reize oder auf denselben Reiz nicht nur auf ein Muster begrenzt. Sie entscheiden bewusst über ihre Verhaltensweise oder darüber, wie sie in bestimmten Situationen reagieren sollen.“

Martin Buber erklärt den Menschen für adressierbar. Davon, wie sehr Freire die Möglichkeit versteht, zum Menschen und vom Menschen zu sprechen, zeugt seine gesamte Bildungsphilosophie und die Praxis des von ihm geschaffenen Alphabetisierungsprogrammes:

„Die Bildung ist ein Akt der Liebe und deshalb auch ein Akt des Mutes“.

„Die Wahrheit ist dagegen so, dass die Unterdrückten keine Nebensache sind, sie leben nicht außerhalb der Gesellschaft. Sie waren immer im Inneren - im strukturellen Inneren, das aus ihnen das ‚Wesen für andere’ gemacht hat. Die Lösung bedeutet keine ‚Integration’ in die Unterdrückungsstruktur, sondern eine Umgestaltung dieser Struktur, so dass sie „Wesen für sich“ werden können.“

Resümierend kann man sagen, dass sowohl Buber als auch Freire um den Menschen „ringen“, um seine vollkommene und wahre Existenz, und ihre Methode ist, den Dialog dafür einzusetzen. Beide haben in ihrem Leben einen völligen Mangel an Dialog erfahren: Martin Buber wanderte aus dem nationalsozialistischen Vorkriegsdeutschland aus und Paulo Freire wurde durch die Militärjunta aus seinem Heimatland vertrieben. Der Dialog und die Freiheit, das sind für beide die hohen Güter, zu denen sie hinführen möchten. Für beide Denker sind das keine biologisch bedingten Eigenschaften der Menschen, sondern man muss sie einerseits lernen und andererseits erkämpfen. Es scheint, dass diese beiden Anstrengungen, nämlich Bildung und Kampf, für die Zukunft dauerhaft in alle menschlichen Lebensläufe eingeschrieben werden müssen.

Dr. Hanna Zielinska
Uniwersytet Mikolaja Kopernika
ul. Gagarina 11
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