Begegnungen und Angst

Internationale/ interkulturelle Begegnungen zwischen Gruppen aus Deutschland und Israel

von Rudi-Karl Pahnke

Angst schneidet schneller das Herz

Als die Pflugschar den Boden schneidet

Erich Fried

1. Begegnungen und Angst

„Angst gehört unvermeidlich zu unserem Leben. In immer neuen Abwandlungen begleitet sie uns von der Geburt bis zum Tode.“[1]

Sie ist mehr oder weniger immer präsent –  auch in den beglückenden, oft herausfordernden, aber mitunter auch belastenden, in jedem Fall aber uns selbst verändernden Begegnungen mit Menschen anderer Kulturen, Sprachen, Religionen/ Weltanschauungen. In spezieller Weise gilt das auch für Begegnungen zwischen Deutschen und Israelis.

Ängste bestimmen das Leben jedes Menschen in jeder Nation- jedoch unterschiedlich nach Lebensalter, Lebensgeschichte, Lebenshintergrund, Lebenslagen, Kultur, Religion, politischer Situation u.a.m.

Das hängt  u.a. ursächlich mit dem bewussten und unbewussten Wissen um die Zerbrechlichkeit, Sterblichkeit und Leichtverletzlichkeit des Menschen zusammen. Es gibt kein menschliches Leben ohne Angst.[2]

Angst und die unterschiedlichen Formen der Ängste werden als unterschwelliges oder direktes Thema interkultureller Begegnungen oft überspielt. Stattdessen wird das Vergnügliche, das Interessante,  Herausfordernde, das unumgänglich für eine multikulturelle Zukunft zu Lernende ins Zentrum gerückt. Da wird in mancher Perspektive dann und darum die Multikulturalität vor allem zu einem schönen Fest, zu einem wunderschönen Karneval der Kulturen, zu einem immerwährenden Straßenfest (W. Heitmeyer).

Denn  professionelle und verantwortliche Pädagogen, Sozialwissenschaftler, Sozialarbeiter, Politologen, Theologen, Leiter von Begegnungen und Begegnungsgruppen haben es allesamt zu Recht verinnerlicht, dass die Zukunft des Menschen inter- bzw. multikulturell sein wird. Folglich gibt es  zur Bejahung und zum positiven Integrieren des Lernens  von Interkulturalität keine Alternative.

Jedoch wenn es ernst wird bei der Begegnung der Kulturen, wenn wir anderen Menschen in ihrer tiefen und realen Andersartigkeit sehr nahe begegnen und erleben, dann stellen sich neben der offenen und freudigen Spannung immer auch unterschiedliche Ängste, Abwehr und Verweigerungen ein – und wenn nicht bei uns selbst, dann sicher bei einem Teil jeder Gruppe von Menschen, mit denen wir unterwegs sind oder bei den Partnern der Begegnung.

Unsere Begegnungen und die Bejahung der Interkulturalität sind gefährdet, wenn wir  Ängste, Abwehr und Verweigerungen überspielen, wenn wir so tun „als ob“. Dann leisten wir u.U.  illusionären Verzerrungen der Realität Vorschub, die sich sehr problematisch auf das Mit- oder Gegeneinander der Kulturen auswirken können.

Wir erleben in uns selbst und in den unterschiedlichen Gruppen von Menschen je nach Kultur sehr spezifische Angstformen, aber auch immer die Grundformen der Angst und ihre unterschiedlichen Auswirkungen :

  • Die Angst vor Ich-Verlust und Abhängigkeit,
  • die Angst vor Ungeborgenheit und Isolierung,
  • die Angst vor  Wandlung,
  • die Angst vor Notwendigkeiten und Unfreiheit.[3]

Diese Grundformen der Angst kennen mehr oder weniger alle Menschen,  aber diese können auch so stark in einem Menschenleben oder sogar in einer Gesellschaft oder Kultur werden, dass  dann von schizoiden, depressiven, zwanghaften oder hysterischen Persönlichkeiten gesprochen wird.   

Fritz Riemannhat völlig zu Recht sogar von der deutschen, westlichen Gesellschaft als von einer schizoiden Gesellschaft gesprochen. Andre Gesellschaftsformen lassen sich, zwar anders charakterisiert, aber durchaus auch je in diesem Verstehensmodell verorten.

Die Ängste jedes Menschen haben immer eine Geschichte, für die die Kindheit von großer Bedeutung ist.[4] Jede Angst, die wir erleben oder die in uns plötzlich entsteht, hängt mit unserer Lebensgeschichte zusammen.

Es ist für die Leitung von Begegnungen – für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren und Fachleute der Jugendarbeit notwendig, sich darüber klar zu sein, dass in internationalen oder interkulturellen Begegnungen zwischen Deutschen und Israelis, Juden und Arabern, nicht nur Neugierde und die Freude über neue Entdeckungen und Wahrnehmungen eine Rolle spielen, sondern auch Unsicherheiten und Ängste – je nach Gruppe und je nach Individuen.

Das Thematisieren der bewussten, der unbewussten oder verborgenen Ängste voreinander ist eine große Chance für eine Intensivierung und eine neue, andere Qualität von Begegnungen.

„Ein Leben ohne Angst gibt es nicht im Bereich des Menschlichen. Aber die Angst hat nicht nur einen bedrückenden und quälenden Aspekt, sondern sie enthält auch immer einen Reifungsimpuls: Der Mut, etwas neu zu wagen, sich der Angst zu stellen, lässt uns neue Erfahrungen mit uns selbst und mit der Welt machen und gibt uns die Chance, unsere Kindheitsängste zu überwinden. So kann Angst zum Antrieb für neue Entwicklungen werden, und das scheint uns ein tröstlicher Aspekt zu sein, wenn sie damit auch nicht aus der Welt geschafft ist. So viel ist sicher, dass das fortgesetzte Ausweichen vor einer Angst keine Hilfe ist – sie staut sich dann nur um so intensiver in uns auf.... Jede Angstbewältigung ist ein kleiner Sieg, der uns stärker macht. Oft brauchen wir nur die Angst bewusst anzusehen, damit sich das Gefürchtete klarer erkennen lässt, das durch das Wegblicken vor Angst uns viel bedrohlicher erscheint als es meist ist.“[5]

2.  Angst vor Aggression und Terror –nicht nur nach dem 11.9. 2004

Die Welt macht mir Angst

Sie ist schwächer als ein Gedicht

Erich Fried

 

Ängste haben  immer einen psychisch-lebensgeschichtlichen, aber auch einen individuell und  globalgesellschaftlich/ politisch sehr realen Hintergrund.

Der 11.9.2001 (und anderer Mordterror der Gegenwart) hat das Bewusstsein vieler Menschen und auch der Politiker verändert. Mit diesem Anschlag besonders im Zentrum der Weltmacht Amerika hatte man nicht gerechnet, d.h. mit dieser Bereitschaft vor allem auch junger Menschen, mit dem eigenen demonstrativen Selbstmord als mörderische Bombe wahllos viele andere Menschen zu morden, d.h. in den eigenen Tod mitzureißen.

„Diese Art des Terrorismus zeichnet sich gerade dadurch aus, eine möglichst große Zahl von Menschen in so genannten weichen Zielen umzubringen – egal, ob in Diskotheken, Vorortzügen oder Bürogebäuden.“[6]

Das Phänomen aber war  ja eigentlich schon längst bekannt. Die japanischen Kamikaze-Flieger im 2. Weltkrieg waren junge Männer, die palästinensischen Selbstmord-Mörder und Selbstmord-Mörderinnen sind in der Regel sehr junge Menschen, die zum Selbstmord bereiten Tamil Tigers „sind stark motivierte junge Männer und Frauen“[7]

Sehr viele Begegnungen in Israel und Palästinensern sind seit dem Beginn der zweiten Intifada im Jahre 2000 kurzfristig oder prinzipiell abgesagt worden – aus Angst vor Anschlägen. Ich selbst habe in mehreren Begegnungen in Israel erlebt, wie deutsche hochmotivierte Gruppen von zukünftigen Multiplikatoren durch sehr nahe Selbstmordanschläge in ihrer Balance völlig verändert und verunsichert wurden und jeder einzelne sich gefragt hat, ob er es verantworten könne, mit einer Gruppe Jugendlicher nach Israel zu fahren.

Welche Verantwortung können Leiter/innen von Begegnungen tragen?

Wer trägt mit ihnen ihre Verantwortung?

In solchen Situationen helfen und halfen Durchhalteparolen nicht gegen die Angst – und auch nicht die Einsicht, dass das Autofahren in Deutschland wahrscheinlich gefährlicher ist als das Autobusfahren in Israel.

Ich will es hier zuspitzen: Die Angst oder die Bearbeitung und Überwindung der Ängste spielen eine wichtige Rolle bei der Frage, ob intensive  Begegnungen in Israel oder in Deutschland momentan oder in naher Zukunft zustande kommen oder nicht. Die bewusste Thematisierung und Bearbeitung  ist die einzige echte und wirkliche Chance für die Weiterentwicklung der Begegnungsarbeit. Man muss die folgenden Worte aus Israel doch hören. Batya Gur schreibt über die Terrorerfahrung in Israel: „An den harmlosesten Orten unsres Daseins herrschen die Regeln des russischen Rouletts“[8]

Seit dem Beginn der zweiten Intifada sind sehr viele Menschen gestorben – auf israelischer und auf palästinensischer Seite. Dazu kommen auf beiden Seiten unzählige Verletzte und Menschen und Familien, die nun mit eigenen Behinderungen oder jener von Angehörigen zu leben haben. Das kann man nicht wegdiskutieren oder ausblenden und so tun, als wäre es kein Risiko, nach Israel zu reisen, als wäre es feige oder unmoralisch Angst zu haben.

Andererseits ist es schon so: Man vergisst es in der Regel sehr schnell die Situation, wenn man dort ist; denn man möchte mit den Menschen dort „normal“ leben und lebt normal – d.h. man geht in Cafés und in Buchläden. Aber eine Explosion mitten in der Nacht kann einen blitzschnell mit der bitteren Realität konfrontieren, wie es z.B. auch Joschka Fischer bei seinem Israel- und Palästina-Besuch 2001 erlebt hat.  

Es ist eben so – man weiß es, wenn man in der Region gelebt hat – dass man dort Menschen erleben und hören kann wie jenen Mahmud, einen jungen palästinensischen Mann, der durch israelische Soldaten gehindert wurde, sich und viele Israelis zu töten und nun in einem Interview im Gefängnis erklärt: “Um gleich am Anfang eines klarzustellen: Ich schäme mich, dass ich noch am Leben bin und es mir nicht gelungen ist, Dutzende Juden in den Tod zu reißen.“[9]

Die Realität Israel/Palästinas ist, dass dort wie überall Terroristen schwer zu bekämpfen sind. „Sie verkleiden sich als orthodoxe Juden, als Soldaten und Frauen mit Lockenperücke... Die Killer mit der Bombe agieren mitten aus der palästinensischen Bevölkerung heraus. Ihre grausamen Taten werden als Märtyrertum glorifiziert. Die Hamas ist nicht etwa eine geächtete Bande.“[10]

Henryk M. Broderschreibt: „Terroristen, die wahllos töten, Bomben in Cafés und Zügen deponieren, als Widerstandskämpfer zu bezeichnen, bedeutet zweierlei: eine Anbiederung bei den Tätern und eine moralische und politische Legitimierung der Taten.“[11]

Die Angst vor diesem mörderischen Terror ist die eine Seite der Angst. Dazu kommen aber noch viele andere Ängste, die plötzlich in den Begegnungsgruppen ganz real werden: vor Projektionen, Vereinnahmungen und problematische Identifikationen.

Junge Menschen aus Deutschland werden in Israel heute ja in der Regel fraglos akzeptiert – aber aus ihrem Inneren kommen dort u.U. plötzlich die Ängste vor dem Identifiziertwerden mit den Verbrechen der deutschen Geschichte oder die Angst, für die eine oder andere Seite vereinnahmt  zu werden und die Furcht, deshalb keinen eigenen Beitrag zur Verständigung und zum Frieden leisten zu können, weil man von Leid- und Hassgeschichten förmlich überschwemmt wird.

3.  Die Angst vor Überfremdung und Identitätsverlust

Angst was kommt

Denken vor Angst was kommt

Angst vor dem Denken was kommt

Angst vor dem Denken

Wenn es kommt

Kommt es wegen der Angst

Wegen der Angst vor dem Denken

Die mir Angst macht

Erich Fried

In interkulturellen/ internationalen Begegnungen stehen wir mit unserer Identität und unseren interkulturellen Fähigkeiten auf dem Prüfstand – wenn diese Begegnungen nicht als Show, als Vorführung gedacht, gemacht und inszeniert sind, sondern sehr unmittelbar und sehr direkt gelebt werden und geschehen. Da begegnen wir den anderen in ihrer Andersartigkeit.

Leiterinnen und Leiter  von internationalen Begegnungen sollten die Schlüsselqualifikation der Ambiguitätstoleranz erwerben, was bedeutet, dass sie zeitweilig ihre eigene Identität verlassen können, um sich temporär in die Identität der anderen zu begeben.

Das Lernen und Erwerben dieser Toleranz  ist ein sehr weitreichender, die Tiefendimension der Person betreffender Vorgang – nicht leicht, nicht selbstverständlich.

Das temporäre, zeitweilige Verlassen der eigenen Identität ist mit Angst und Angstüberwindung verbunden.  Ich verlasse die schützende Mauer meiner Identität.

Geht das überhaupt? Wie weit geht das?

Wenn ich religiösen Juden und religiösen Muslimen begegne und mich auf ihre Kultur einlasse – was verlangt das von mir? 

Und ist die andere Seite – sind auch Pädagogen der unterschiedlichen religiösen Juden und unterschiedlichen religiösen Muslime – bereit, um der Begegnung mit uns und mit mir willen, die schützenden Mauern ihrer Identität zeitweilig zu verlassen? 

Aber so sollte ich zunächst vielleicht nicht fragen. Sonst entartet schließlich die interkulturelle Begegnung dazu, dass sich vor allem westlich orientierte, am westlichen Lebensstil  ausgerichtete Menschen der unterschiedlichen Nationen über  Coca Cola, Jeans, Musik, Sex und Automarken verständigen.  

Dann ist eine gewisse Gleichartigkeit oder doch Ähnlichkeit der Kulturen die Grundkondition der interkulturellen Begegnung – und wir haben unbewusst, nach Dominanz strebend, die Ausgangsposition und die Konditionen für die Interkulturalität definiert und unbewusst sofort bestimmte Menschengruppen ausgeschlossen. Das aber ist kein interkultureller Dialog. Der interkulturelle Dialog ist eine Begegnung von Menschen, die einander fremd sind und sich zunächst nicht verstehen, die sich aber näher kommen und besser verstehen können durch die Begegnung.  Ich habe zunächst mich und unsere Seite zu befragen und zunächst mich und unsere Seite herausfordern zu lassen. Und der Dialog mit der jeweils anderen Seite über die interkulturellen Grundkonditionen ist dann etwas Folgendes, ohne die eigene Identität zu verleugnen. Aber nun sind wir selbst - oder Teilnehmer von Begegnungen, die wir leiten, vielleicht Menschen, denen es auf dem Hintergrund ihrer individuellen Lebensgeschichte zunächst und vor allem um die eigene Identität und um  die Selbstbewahrung der eigenen Identität geht und gehen muss, die am liebsten eine Tarnkappe tragen würden, wenn sie Menschen anderer Kultur begegnen. Und es gibt ja immer auch eine Fülle von unbewussten und bewussten Argumenten gegen die andere Kultur: deren Religion, deren Frauenbild, deren Fundamentalismus, deren Umgang mit der Umwelt, deren Patriarchalismus, deren Machoverhalten, deren Mythen und Legenden, deren Demokratiedefizite.

In fast allen Begegnungsgruppen gibt es Menschen, die keine Atmosphäre von Vertrautheit oder Innigkeit aufkommen lassen können; denn das einzige, was ihnen wirklich gehört und einigermaßen vertraut ist, sind sie selbst. Sie reagieren empfindlich auf eine wirkliche oder vermeintliche Verletzung ihrer Integrität. Wenn man ihre Distanz verletzt, kommt Hass auf; für den Schizoiden ist die Distanz notwendig, damit er überhaupt der Welt und dem Leben gewachsen ist.[12]

Damit solche Menschen – und Anteile davon haben wir alle – sich auf Begegnungen einlassen können, ist Vertraut-werden die Basis für das Vertrauen-können. Das setzt nun voraus, dass wir  solche Ängste ernst nehmen und mit diesen Menschen daran arbeiten, ihre Angst vor Selbst- und Identätsverlust zu vermindern oder sogar zu überwinden. Hierbei spielt die Qualifizierung der Leitungspersonen und die intensive Vorbereitung der Begegnungsgruppen eine entscheidende Rolle. Diese müssen ihre Fähigkeiten erweitern, ihre Verantwortung kennenlernen und wahrnehmen, die Teilnehmer müssen wissen, worauf sie sich einlassen, die Rahmenbedingungen und die möglichen Probleme kennen.

Das Bearbeiten der Ängste vor Überfremdung und Identitätsverlust gehört zu den Grundanforderungen pädagogischer inter-kultureller Arbeit, ansonsten wirkt unsere Arbeit möglicherweise kontraproduktiv. 

Meine Identität – deine Identität – dies ist darum ein herausforderndes und Angst überwindendes Grundthema in unseren Begegnungen. Bei alledem ist pädagogische Empathie gefragt, ansonsten produzieren wir Abwehr, vielleicht sogar Abneigung, Flucht und Verweigerung.

4.  Die Angst vor Ablehnung und

Zurückweisung

Die Folgen meiner Angst

sind die Ursachen meiner Ängste

Erich Fried

Entscheiden wir uns für den Aufbau und die Entwicklung von Kontakten und Kooperationen mit Israel, mit der jüdischen oder arabischen Seite, dann erwarten wir zunächst nicht Probleme, sondern Akzeptanz, Offenheit, Kooperationsbereitschaft, Sympathie und Empathie.

Die jüngeren Deutschen, die sich  für die Kooperation mit Israel entscheiden, bearbeiten in der Regel mit und vor der Entscheidung für die Beziehung mit Israel den garstigen Graben der deutsch-jüdischen Geschichte und überschreiten nun die Brücke über diesen abgründigen Schlund. Sie wissen zumeist die hintergründigen Probleme und kommen dünnhäutig und sensibel nach Israel.

Gewiss, es gibt sicher auch jene,  die gleich als besserwisserische deutsche Lehrmeister ihre Weisheiten über die Lösung des Nahostproblems kundtun, aber sie sind hier nicht unser Problem. Diejenigen, von denen ich hier spreche, erwarten, dass sie angenommen werden und dass man in Israel auch weiß, dass sie einen wichtigen Schritt für sich getan haben.

Mit dieser Haltung ist nun eine gewisse Verletzlichkeit und eine Angst vor Enttäuschung verbunden, wenn der Kontakt nicht gelingt oder nicht sensibel und erfolgreich verläuft. Es kann zu einer gereizten Gekränktheit auf der deutschen Seite führen, wenn die Israelis – was natürlich ihr Recht ist und bei vielen auch zu ihrer Lebensart gehört – vielleicht relativ burschikos mit den Begegnungsgruppen oder den einzelnen umgehen. Denn Israelis haben selbstverständlich das Recht, abzulehnen, Seelentröster der Deutschen wegen deren Nazizeit und der Verbrechen der Shoah zu sein – oder wegen ihrer Familiengeschichten. Man macht in der Regel zwar eher gegenteilige Erfahrungen, aber die Erfahrung der Schroffheit ist durchaus nicht selten.

Menschen mit depressiven Anteilen oder mit einer depressiven Grundstruktur können damit schwer umgehen – bis hin zu Leitungspersonen in der internationalen Jugendarbeit. Sie versuchen sich vor Enttäuschungen zu schützen – und können sie schwer verarbeiten. Manche reagieren durchaus irrational gekränkt und wenden sich dann enttäuscht von diesen Kontakten ab und anderen Partnern internationaler Jugendarbeit zu, u.U. missbrauchen solche Menschen die Identifikation mit der leidenden palästinensischen Seite als eine Art Bestrafung für die widerfahrene Enttäuschung über den misslungenen Kontakt mit der jüdischen Seite. Die palästinensische Seite wird für sie zum Medium ihrer Reaktionen – und so wird auch deren Würde missbraucht und verletzt. Sie werden so zum Objekt der eigenen deutschen psychischen Bedürfnisse degradiert und ihre eigene Kultur und Problematik wird zum Vehikel der Deutschen für die Überwindung ihrer Enttäuschungen und ihres Seelenschmerzes. Das ist im hohen Maße unfair gegenüber den Palästinensern.

Die Identifikation mit dem jeweiligen Gegenüber kann erpresserische Formen annehmen. Diese Menschen haben gewiss die Fähigkeit zur einfühlsamen Identifikation, aber sie haben es schwer, eine schöpferische Distanz zu leben. Und zum Partner-Sein auch in diesem Bereich gehört eine schöpferische Distanz, die es beiden Partnern ermöglicht, sie selbst zu sein, sich zu sich selbst zu entwickeln.[13](Riemann).

In der Leitung von Begegnungsgruppen werden wir auf solche Menschen zu achten haben. Sie sind wichtige und sensible Partner, aber sie können sich auch aus Enttäuschung sehr verbittert abwenden. Möglicherweise gehören wir selbst ja auch zu diesem Personenkreis und werden dann zuzusehen haben, dass wir auch für uns selbst eine Balance herstellen zwischen der Realität der Menschen Israels und unserem eigenen Wunsch nach Nähe und Verbindlichkeit.

5.  Unsere Identitätsdiffusion und die Ängste vor dem „Gelebtwerden“ – Ängste vor fremdkulturellen Abhängigkeiten und fundamentalistischen Zwangsrealitäten

TrauerundAngstwollenniemandbetrügen

Aber sie sitzen still

Und laufen zugleich hin und her

laufen mit uns mit

damit wir nicht ganz allein sind

auf den Wegen

durch unser freies Feld

Erich Fried

Zwar hat der neue Bundespräsident bei seiner Antrittsrede gesagt, dass er unser Land, unser Deutschland, liebt, aber solche Worte wollen vielen Menschen der mittleren und jungen Generation (noch?) nicht von der Zunge. Er aber ist als deutscher Staatspräsident, als Präsident der Deutschen offensichtlich mit sich und Deutschland im Reinen – für sich sicher sehr verantwortlich und reflektiert.

Vielen Menschen der jungen oder mittleren Generation, die sich auf internationale Kontakte und Beziehungen mit Israel einstellen, ist die deutsche Geschichte jedoch eine Last, die sie gerne nicht tragen müssten. Diese Geschichte macht es ihnen schwer, eine ungebrochene deutsche Identität  zu leben, zu zeigen oder von ihr auch nur ungebrochen zu sprechen.

Dazu kommt immer wieder die Erfahrung, dass man heute gerne einen Schlussstrich ziehen möchte – ich denke an die Rede von Martin Walser zum Friedenspreis des deutschen Buchhandels, an die Rede des MdB Hohmann – dass auch die Juden ein Tätervolk sind – und viele andere, die mehr oder weniger offen erklären, wie sehr diese beiden Männer ihnen aus dem Herzen gesprochen haben. Auch in den deutschen Begegnungsgruppen finden sich zunehmend  Menschen, die deutlich erklären, dass sie sich für diesen Teil der deutschen Geschichte nicht verantwortlich fühlen.

Das Ausblenden der Verantwortung und der Mitwirkung an dem Holocaust bei vielen Ostdeutschen gehört ebenfalls in diesen Zusammenhang. Viele haben es, bei allem Widerspruch und allem unterschiedlichen Leiden an der ostdeutschen Wirklichkeit, der DDR-Führung dann doch gerne abgenommen, dass alle Ostdeutschen auf der antifaschistischen deutschen Seite stehen – und eigentlich immer standen, weil manche kommunistischen Führungskader 1945 aus ihrem Fluchtland Russland nach Deutschland zurückkamen oder aus deutschen Zuchthäusern oder sogar aus KZ’s.

Ich habe in all den Jahren der Begegnungsarbeit jedoch keine Teilnehmer erlebt, die mit dem Slogan „Ich bin stolz ein Deutscher zu sein“ oder „Ich liebe Deutschland“ zu Begegnungen nach Israel gefahren sind. Viele wollen sich als Europäer verstanden wissen. Die deutsche Geschichte ist ihnen oft suspekt oder zumindest ambivalent – allerdings gibt es Ausnahmen und möglicherweise gibt es hier auch in der nächsten Zeit einen neuen Entwicklungsprozess.

Junge Deutsche sind in der Regel in ihrer Identität nicht gefestigt, sondern diffus – einerseits wird die Kultur und die Liberalität in Deutschland geschätzt, andererseits fürchtet man alle gegenwärtigen Probleme und die Tendenzen von Extremismus und  Fremdenfeindlichkeit, einerseits ist man aufgeklärt weltanschaulich neutral-offen, andererseits fürchtet man fundamentalistische und terroristische Aktivitäten auch in Deutschland und kann damit augenscheinlich nur ganz schwer umgehen.

Und wenn es nun zu deutsch-israelischen Begegnungen kommt, dann entstehen u.U. plötzlich sublime oder massive irrationale Ängste vor den scheinbar oder wirklichen festen Standpunkten und starken bis massiven Realitäten des  Nahen Ostens: von der Bejahung nationaler Symbole, der eindeutigen Bejahung des Militärs  bis hin zu extremen Standpunkten bei Siedlern der Gusch emunim oder den Fundamentalisten und Fanatikern im palästinensischen Lager. Da wirkt die Rolle der Frau in der arabischen oder auch in der israelischen Welt plötzlich  sehr befremdlich. Da wirkt es plötzlich beängstigend, dass junge Leute sich nicht auf das Leben hier und jetzt beziehen, sondern sich freuen, Juden zu morden und dabei, selbst durch die Bomben-expolsion zerfetzt, zu sterben und als belohnte Märtyrer sofort nach dem Tod in den Himmel zu kommen.

Es gibt immer wieder auch junge Leute aus Deutschland, die sich eindeutig und sehr einseitig mit dieser oder  jener sehr radikalen Position des Nahen Ostens identifizieren und die Fragen nach den Problemen und Problemverursachungen auf der dann eigenen wie der anderen Seite ausklammern, aber das ist eine Minderheit. Die Mehrheit verständigt sich jedoch eindeutig lieber mit denen – auf beiden Seiten – die für einen Friedensprozess offen sind und in einer gewissen Liberalität leben.

Es gibt angstauslösende Faktoren  und anderskulturelle uns ängstigende Realitäten im Nahen Osten – und wir alle, die wir die Begegnungsarbeit wollen und bejahen,  bemühen uns, uns nicht  von ihnen dominieren oder gar lähmen zu lassen. Das heißt, wir gehen den Zwangsritualen und zwanghaften Handlungen, wie viele von uns bestimmte religiöse oder nationalistische Handlungen und Festlegungen empfinden, aus dem Weg und hoffen, dass sie mehr oder weniger doch nur von Minderheiten vertreten werden. Wer könnte es denn bei uns vertreten oder verstehen, dass man z.B. ein arabisches Mädchen, das mit ihrem der Familie nicht bekannten Freund vor der Ehe intim ist, tötet oder sie gesellschaftlich ächtet.

Wer kann es akzeptieren und mitvoll-ziehen und verstehen, wenn man Kindern und Jugendlichen Hasstiraden und Mordwünsche über die andere Seite beibringt? Hier entstehen Ängste vor fremdkulturellen Abhängigkeiten, Ängste vor dem sich Identifizieren, Ängste vor dem Gelebt-werden. Und plötzlich ist dann doch wieder die Frage nach der eigenen Identität im Raum. Und da kann es auch auf der deutschen Seite zu überraschenden Identitätsaussagen kommen – dass die eigene Kultur doch als sehr positiv empfunden wird, die man bejaht und in der man bleiben möchte.

6.  Bagatellisieren der Ängste - oder Begegnungen als kommunikative Lernprozesse heraus aus der Angst

Habt ihr nie von der windstillen Mitte

eines Taifuns gehört?

Erich Fried

Das Bagatellisieren der Ängste hilft nicht. Wenn wir sie bagatellisieren würden, wäre man uns gegenüber zu Recht misstrauisch. Die einzige Möglichkeit ist, sich offen den Fragen, Ängsten, Problemen und Fragen zu stellen und dann sehr genau zu überprüfen, was an Begegnungsmöglichkeiten jetzt trotzdem realistisch ist. Die Ängste müssen ernst genommen und bearbeitet werden – es geht nicht anders. Es kann dabei herauskommen, dass manche sich entscheiden, die Begegnungen zu verschieben und andere gerade jetzt die Begegnung zu gestalten suchen. Es kann dabei herauskommen, dass manche Leiter von Gruppen entscheiden, jetzt nicht mit Jugendlichen unter 18 Jahren zu reisen, aber mit jungen Erwachsenen – und andere tun das doch mit Zustimmung der Eltern. Aber man kann niemanden überreden, keine Angst zu haben.  Ängste kann man eben niemanden ausreden.

Wenn wir jedoch die Angst oder konkrete Ängste zum Thema machen, verlieren sie einen Teil ihrer irrationalen Überwertigkeit. Dieser Differenzierungsprozess eröffnet die Chance zum Umgehen mit der Angst und zum Leben mit Ängsten. Wir unterscheiden auf diese Weise dann, was uns große Angst macht und was nicht so sehr. Wir unterscheiden, welchen Gefahren wir aus dem Weg gehen wollen und können – und wo Risiken unvermeidbar sind.

Otto Schilysagte in einem Interview: „Ja, ... wir dürfen uns von der Angst nicht beherrschen lassen. Wir müssen Risikobereitschaft und Wachsamkeit entwickeln. Doch wir dürfen uns nicht in einen ständigen Angstzustand hineinmanövrieren. Wir sollten nicht vor lauter Gram unsere Lebensfreude verlieren.“[14]

Entscheidend ist dabei immer auch der direkte Kontakt mit den Partnern. Es ist notwendig, die andere Seite in die Bearbeitung der Ängste mit einzubeziehen und alle Fragen zu stellen und zu bearbeiten, die entstehen oder in den Teilnehmern unserer Begegnungen vorhanden sind.

Begegnungen und Dialoge minimieren die Angst. Wir erleben die anderen, wir stellen fest, dass sie doch anders sind als in unseren Stereotypen und Vorurteilen, wir stellen unsere Fragen – das Bild von den anderen ändert sich. Wir nehmen sie in ihrem Umfeld anders war als in unserer Vorstellung oder als in unserem Vorwissen.  

Das Beste, was gegen die Angst getan werden kann, ist die qualifizierte Begegnung – die gut vorbereitet ist, die die neuralgischen Punkte benennt und bearbeitet, die beiden Seiten die Chance gibt, die Fragen zu stellen, die normalerweise verschwiegen oder verborgen werden, eine Begegnung, bei der man sich gegenseitig  vieles zumutet.

Hierbei  ist das gegenseitige Vertrauen der BegegnungsleiterInnen entscheidend – ihr Vorlauf und ihre Kenntnis von der eigenen und der anderen Seite. An der bewussten Qualifizierung der Leitungspersonen von Begegnungen führt deshalb in Zukunft kein Weg vorbei, wenn wir denn nicht Vorurteile bestätigen und befestigen wollen, wenn wir wirklich auf eine Welt orientiert sind.

Nur wenn wir Muslime direkt begegnen und befragen, kann sich unser Bild differenzieren und können auch sie verstehen, dass wir anders sind als in ihren Fantasien oder ihrer Propaganda. Nur wenn wir z.B. auch religiöse Juden direkt treffen und begegnen, ist es möglich, ihr Motive, Gründe, Hintergründe zu verstehen.

Sie werden uns Deutsche auch befragen und ihre Fragen und Positionen benennen – und dann sind wir in einem offenen Dialog, der viele Chancen enthält, aber auch starke Herausforderungen an beide Seiten. Jede Seite hat selbstverständlich das Recht, an die andere Seite ihre kritischen Fragen zu stellen und sie herauszufordern.  

Und jede Seite hat selbstverständlich auch das Recht zu erklären: Hier ist unsere Schmerzgrenze überschritten. Es gibt z.B. für uns Deutsche Schmerzgrenzen -  bei der Verletzung von Menschenrechten, bei Diskriminierungen, bei der Propagierung von Hass, Gewalt und Gewaltlösungen, bei einem für uns unakzeptablen Fundamentalismus, die wir von der europäischen Aufklärung und dem kritischen philosophischen Denken geprägt sind u.a.m. Hier sind wir und hier ist auch die andere Seite wiederum nach der eigenen Identität gefragt. Aber:„Wir müssen einen Dialog in Gang bringen.“ (O. Schily)

„Wo  wir eine der großen Ängste erleben, stehen wir immer in einer der großen Forderungen des Lebens; im Annehmen der Angst und im Versuch, sie zu überwinden, wächst uns ein neues Können zu – jede Angstbewältigung ist ein Sieg, der uns stärker macht; jedes Ausweichen ist eine Niederlage, die uns schwächt.“[15]

7.  Inspirierende und vertiefende Literatur

Fried, Erich: Warngedichte, Fischer 2225, 1989

Fromm, Erich: Anatomie der menschlichen Destruktivität, rororo 7052, 1991

Fromm, Erich: Die Furcht vor der Freiheit, dtv 15084, 1990

Erich-Fromm-Lesebuch, dtv 10912, 1988

Fromm, Erich: Die Seele des Menschen, dtv 15039, 1988

Riemann, Fritz:Die schizoide Gesellschaft, Kaiser Tractate 15 1975

Grundformen der Angst, München/Basel 1975

Angst, In: Psychologie für Nichtpsychologen, Kreuz-Verlag Stuttgart/ Berlin 1974

Spiegel Spezial 2/2004:Terror. Der Krieg des 21. Jahrhunderts

Rudi-Karl Pahnke ist Leiter des „Instituts Neue Impulse“ für deutsch-israelische Jugendbegegnungen. Der Verein organisiert Begegnungen von Jugendlichen mit Zeitzeugen der Schoah und Qualifikationskurse für deutsch-israelische Jugendbegegnungen.

Rudi Pahnke@gmx.de


[1]Fritz Riemann, Grundformen, S.  7

[2]„Es bleibt wohl eine unserer Illusionen, zu glauben, ein Leben ohne Angst leben zu können; sie gehört zu unserer Existenz und ist eine Spiegelung unserer Abhängigkeiten und des Wissens um unsere Sterblichkeit“, S. 7 ebd.

[3]Fritz Riemann, S. 15 u.ö. ebd.

[4]Fritz Riemann, S.  16 ebd.

[5]Fritz Riemann, Angst, S.  67

[6]Otto Schily, in: Spiegel spezial, S.  48

[7]Spiegel spezial, S.  74

[8]Batya Gur, In der Falle, in: Spiegel spezial, S. 48

[9]Spiegel spezial, S.  105

[10]Anette Grossbongardt, „Was würdet ihr denn machen?“ in: Spiegel spezial, S. 103. Dazu auch Erich Fromm, Die Seele des Menschen, S. 17: „Der normale Mensch mit außergewöhnlicher Macht  ist die Hauptgefahr für die Menschheit – nicht der Unhold oder der Sadist.“

[11]Wir kapitulieren, in: Spiegel spezial, S. 128

[12]Vgl. Riemann ebd.

[13]Vgl. Riemann ebd.

[14]Spiegel spezial, S.  125

[15]Fritz Riemann, Grundformen, S.  201